Sonnenfänger (ePub)
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Sonnenfänger von Andrea GunscheraProlog
Zuerst vernimmst du den Trommelschlag in der Ferne. Dann steigt dir ein Hauch von Fäulnis und Moschus in die Nase, und du hörst das Blasen des Muschelhorns, eine Warnung, dein Heil in der Flucht zu suchen, und du siehst die Fackeln, wie sie heller und heller scheinen, je näher sie [die Nachtwanderer] kommen.«
(Lopaka Kapanui)
Lahãinã, Maui, 1847
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Na' ni rannte und rannte, obwohl Ho'opono mit seinen taumelnden Schritten sie längst im Dunkel verloren hatte. Den Hang rannte sie hinab, durch den Teppich knöchelhoher Ilima-Sträucher. Gelbe Blüten fetzten gegen ihre nackten Sohlen.
Sie rannte, bis ihre Knie protestierten, bis das Stechen in ihren Lungen schärfer brannte als der Schmerz dort unten, bis sie glauben konnte, es wäre Schweiß und nicht Blut, der die Innenseiten ihrer Schenkel besudelte.
Sie rannte, während Tränen ihr den Blick verschleierten, doch es war dunkel, Kane, die siebenundzwanzigste Nacht, in der die dünne Mondsichel erst im Morgengrauen emporstieg. Den Weg zum Wasser kannte sie blind. Ihre Füße gruben sich in den feuchten Sand, berührten den Wellensaum, tauchten bald tiefer. Sie blieb stehen.
Sie stand und atmete, während der warme Ozean um ihre Hüften wogte, während die Flut das Blut und den Schweiß von ihr abwusch und Ho'oponos Berührung mit sich fortnahm. Ho'opono, der von ihrer Familie hofiert wurde, weil in seinen Adern ein Quäntchen königliches Blut floss.
Na' ni, deren voller Name Na' ni Napo'o'ana o Ka La lautete - die große Schönheit, wenn die Sonne unter den Horizont sinkt - starrte in die mondlose Nacht und wünschte, die Sonne würde nie mehr aufsteigen. Sie glaubte, die Demütigung bei Tageslicht nicht ertragen zu können, das Kichern und Schwatzen der anderen Frauen, die Blumen, die nur in ihrer Hütte lagen, um unter schwitzenden Leibern zerquetscht zu werden. Sie fürchtete, das Lächeln auf ihren Lippen nicht festhalten zu können. Niemand würde verstehen, dass sie Ho'oponos Berührungen nicht ertrug.
Nach Stunden, als die Trommeln endlich verstummten, als der Gesang der Feiernden nicht mehr aufs Meer hinausschallte, watete sie langsam zurück an den Strand. Ihre Tränen waren zu klebrigen Spuren getrocknet, der Schmerz in ihrem Unterleib zu einem Pochen verklungen.
Sie hatte die Frangipani-Blüten in ihrem Haar verloren und auch das Armband, das ihre Großmutter ihr geschenkt hatte : alter Schmuck, der aus menschlichem Haar geflochten war und böse Geister vertreiben sollte.
Die weißen Missionare behaupteten, es sei Teufelswerk. Na' ni kümmerte es nicht. In dieser Nacht war ihr jeder Schutz recht. Doch alte und neue Götter hatten sie gleichermaßen im Stich gelassen. Sie war allein, das Armband verschwunden. Sie gehörte nun Ho'opono, der Vergnügen daran hatte, sich mit Gewalt zu nehmen, was sie ihm auch freien Herzens gegeben hätte.
Mit steifen Knien und leerem Geist stieg sie hügelan. Der Duft der Ilima-Blüten wehte hoch zu ihr. Sie fühlte einen Stich Schuldgefühl, weil sie die Blumen vorhin so achtlos zertreten hatte. Wind raschelte in den Wedeln der Kokospalmen. Sie stapfte an dem Taro-Feld vorbei, das der alten Anuhea gehörte und allmählich versandete, seit die Frau zu krank war, um sich darum zu kümmern. Die Pili-Grasmatten ihres Hauses waren nicht mehr schilfgrün, sondern grau. Und Anuhea siechte in ihrem Bett dem Tod entgegen.
Legenden rankten sich um die Alte, Geschichten einer unglücklichen Liebe zu einem weißen Pelzhändler, den die Missionare vertrieben hatten. Und obwohl alle sie nur die alte Anuhea nannten, wusste Na' ni, dass sie gar nicht alt war, nur von der schrecklichen Blasenkrankheit entstellt, die englische Walfänger nach Maui gebracht hatten. Vor ein paar Monaten war der neue Doktor auf die Insel gekommen, Quentins Freund. Er als Einziger schien sich nicht vor Anuhea zu fürchten, sondern ging in ihr Haus und kümmerte sich um ihr Leiden, umwickelte ihre Beine und gab ihr Medizin. Weiße Medizin, Ho'opono hielt nichts davon, aber Ho'opono war nicht nur brutal, sondern auch engstirnig. Er hasste den Doktor, nur weil der Quentins Freund war.
Der Schmerz schoss ihr so tief zurück in die Seele, dass sie stehen bleiben und sich die Fäuste auf die Augen pressen musste. Quentin hatte sich bei der Hochzeit nicht blicken lassen, obwohl alle anderen Weißen aus Lahãinã gekommen waren. Pater Hawthorne hatte die Zeremonie vollzogen, die de Witts waren dabei gewesen. Nur Quentin war nicht gekommen.
Ho'opono ist ein eifersüchtiger Mann, hatte ihre Schwester gesagt. Du musst ihm zeigen, dass er der Einzige ist, der in deinem Herzen lebt. Aber wollte sie das ? War sie fähig, Quentin wegzuwerfen, so wie er sie weggeworfen hatte? Wenn sie ihrer Schwester erzählte, was heute Nacht geschehen war, würde die glauben, dass Ho'oponos Eifersucht erwacht war, weiter nichts. Weil Ho'opono spürte, dass sie noch immer nicht den anderen Mann aus ihrem Herzen gerissen hatte, und ihn mit Gewalt vertreiben wollte.
Als Schritte sich näherten, blieb sie zwischen zwei Lehua Bäumen stehen und schlug sich die Hände vors Gesicht. Jedes Kind kannte die Legenden der Ka huaka'i oka Po, der Wanderer der Nacht, einer Prozession verstorbener Chiefs und Krieger, bei deren Anblick der zufällige Beobachter sterben musste. Und dies war Kane, eine der vier Nächte der Götter, in denen die Wanderer die Insel heimsuchten. Als jedoch kein kalter Hauch sie streifte und auch kein Geistergesang und kein Klappern von Poí-Kalebassen erklang, schob sie vorsichtig zwei Finger auseinander, um hindurchzublinzeln.
Fedrig rot wiegten sich die O'hia-Blüten im Wind, die heiligen Blumen der Göttin Pele. In der Schule sagten sie, dass die alten Götter gefährlicher Aberglaube seien, aber wenn Na' ni das Grollen im Boden spürte, wusste sie, dass Pele lebte. Und wenn Pele die Inseln durchstreifte, warum sollten es dann nicht auch ihre Gefährten tun?
Aber es waren Fremde, die in einer Reihe vom Strand hochstiegen, dreißig Yards entfernt von dem Pfad, auf dem Na' ni gegangen war. Keine Geister, sondern Männer aus Fleisch und Blut. Seltsam, dass sie kein Boot bemerkt hatte. Sie mussten abseits der Bucht gelandet sein
Sie waren zu fünft, und Na' ni hörte ihre leisen Gespräche. Zwei von ihnen sahen aus wie die Chinesen, die seit Kurzem auf der Wilfong-Zuckerplantage in Hãna arbeiteten. Die anderen waren Amerikaner. Die schwarze Dschunke, fuhr es ihr durch den Sinn.
Als sie näher kamen, erkannte sie den Anführer, obwohl er ganz anders gekleidet war als sonst. Anstelle des Gehrocks und der glänzenden Weste trug er nun grobe Kleider und einen Mantel aus Robbenleder, wie ein Seemann. In seinem Gürtel steckte eine Pistole. Doch sie erkannte ihn an der langen, bleich schimmernden Narbe, die sich vom Mundwinkel den Hals hinunter bis aufs Schlüsselbein zog. Er war ein Freund des Königs und würfelte manchmal im Captains Club an der Front Street, in dem auch Ho'opono den Besitz seines Vaters verspielte.
Die beiden Chinesen schleppten eine Truhe zwischen sich. Der Anführer schob den Vorhang am Eingang zu Anuheas Hütte zur Seite.
»Arthur ?«, schabte die Stimme der Alten durchs Innere. »Bist du das, Arthur?« Sie sprach Hawaiianisch, und es überraschte Na' ni, den Anführer auf gleiche Weise antworten zu hören. Sie hatte nicht gewusst, dass er ihre Sprache beherrschte.
Ein Schwall von Worten flog hin und her. Na' ni wagte nicht, sich zu bewegen. Die Chinesen mit ihrer Truhe und die Amerikaner verschwanden im Haus. Holz schabte auf Holz. Anuhea schimpfte, dass sie gefälligst leiser sein sollten.
»Dafür bin ich dir gut genug !«, fauchte sie.
Na' ni dachte schon daran, sich rückwärts durch die Farne fortzuschleichen, als plötzlicher Kampflärm ihr die Muskeln verkrampfte. Ein unartikuliertes Gebrüll drang aus dem Haus, binnen Sekunden gedrosselt zu einem dumpfen Würgen. Stimmen flogen durcheinander, leise und doch aufgeregt.
»Arthur!«, zeterte die Alte. »Arthur, was geschieht da ?«
»Komm nicht runter!«, rief er zurück. »Bleib oben und rühr dich nicht !«
Der Lärm, das Würgen verstummte.
Nach einiger Zeit schlüpften vier, nicht fünf Gestalten aus der Tür. Die Truhe hatten sie drinnen gelassen. Einer der Chinesen war verschwunden. Der Glutpunkt eines Zigarillos glomm auf. Ein aromatischer Duft stieg in die Nacht, Sandelholz mit einer Spur Gerbsäure.
»Arthur«, flüsterte einer der Amerikaner. »Was, wenn sie ... «
»Still!«, zischte der Anführer zurück. »Oder soll's dir ergehen wie Cheng?«
Zwei Mal im Jahr ankerte die schwarze Dschunke vor Lahãinã, und dann suchte ihre Besatzung, eine Bande von Mördern und Halsabschneidern, die Straßen der Stadt heim. Na' ni war sich nun ganz sicher, dass die Männer zur schwarzen Dschunke gehörten. Wenn ihr ihr Leben lieb war, musste sie Schweigen bewahren. Niemand durfte erfahren, was sie beobachtet hatte.
1
Boston, Massachusetts, 1852
Fünf Jahre später
Der Husten war schon von der Straße zu hören, ein papiertrockenes Keuchen, das im eisigen Morgennebel verwehte. Die schwindsüchtige Russin war das, im ersten Stock. Seit einer Woche ging das schon so. Das Fensterchen ihrer Kammer hatten sie mit Lumpen und Zeitungen verstopft, gegen den Zug. Sybil bezweifelte, dass es viel half. Kein Speck auf den Rippen, wie Molly zu sagen pflegte. Die Russin war ein dürres, reizloses Nymphchen, und keiner sprach aus, was alle im Haus dachte : dass der Herrgott sie endlich zu sich nehmen möge, bevor sie noch jemanden ansteckte.
Sybil stieß die Tür auf und trat in den finsteren Schlund des Stiegenhauses. Nach Zwiebeln roch es, nach Kohl und Katzenpisse. Sie umrundete eine Wasserlache, sorgfältig darauf bedacht, nicht hineinzutreten. Die Zehen waren ihr kalt gefroren in ihren dünnen Schuhen, doch um nichts in der Welt konnte sie sich durchringen, sie gegen das grobe Schuhwerk zu tauschen, das die anderen Mägde in der Greenleaf Tavern trugen.
Alles, nur nicht die Schuhe.
Sie hatte den letzten Winter damit überstanden, sie würde auch diesen darin aushalten. Es war nicht so schlimm. Wirklich nicht. Das Keuchen der Russin drang durch die Wände, wie rostiges Eisen auf Sandpapier.
Auf dem Treppenabsatz zum ersten Stock hockten die beiden Bälger der Russin, der Junge und das Mädchen, mit dreckverschmierten Mündern. Zu klein zum Arbeiten, zu hasenherzig, um sich gegen das Bettelvolk am Hafen durchzusetzen. Sie rückten zur Seite, um Sybil durchzulassen, aber als sie auf eine Murmel trat, starrte der Junge sie mit einem so intensiven Hass in den schwarzen Augen an, dass sie fast stolperte.
»Räumt euren Krempel doch zur Seite !«, fauchte sie. Ein Schmerz schoss ihr durch die eisfrostigen Zehen, als sie gegen das Leder stießen.
Das Mädchen flüsterte Worte in einer fremden Sprache und klaubte die winzigen, rot lackierten Scherben auf.
Sybil wollte noch etwas hinzufügen, irgendeine Gemeinheit, um dem Klumpen aus Angst und Groll in ihrer Brust Erleichterung zu verschaffen. Dass sie sich zu ihrer Mutter scheren sollten, die auf der anderen Seite der Holztür verreckte. Die Worte wollten hinaus, doch sie blieben ihr in der Kehle stecken, als das Gör wieder aufblickte und die speckigen Mundwinkel zu einem Grinsen verzog.
Sieh dich an, Sybil Arnolds. Sieh, was aus dir geworden ist. Ein keifendes Fischweib im Bostoner North End, das Kinder erschreckt. Sie bog den Rücken durch und stemmte die Fäuste ins Kreuz. Die Kälte und die ewig laugenfeuchten Hände vom Spülen der Krüge und vom Tischeabwischen, beides bekam ihren Fingern nicht gut. Die kleinen Risse schmerzten. Hinter der Wand bellte die Russin sich die Lunge aus dem Leib. Was würde aus den Bälgern, wenn sie ihre Seele aushauchte?
Sie bückte sich, fegte die restlichen Murmeln mit einer Hand zusammen und hielt sie dem Mädchen hin.
»Ich bring dir neue mit«, murmelte sie. »Für die, die ich zerbrochen habe.«
Als der Blick des Jungen nicht weicher wurde, wandte sie sich ab und hastete die Stufen hoch, vier Stockwerke, bis zu den beiden Dachkammern. In der einen lagerte Thompson seine Vorratskisten, die andere gehörte ihr.
Ein Glück, dass das Kämmerchen so winzig war, sonst hätte er ihr längst eine Mitschläferin aufgedrängt, eine der armen Seelen, die Gott weiß welche Krankheiten von den Schiffen einschleppten. Oder es passte ihm besser, dass sie allein darin schlief. Sie schauderte. Wusste nicht, was ihr mehr Sorgen machte. Wusste nur, dass es nicht mehr lange gut gehen konnte.
Die Tür stand einen Spalt breit offen. Leise schob sie sie weiter auf. Annie, das kleine Luder, stand über die Truhe am Fußende des Bettes gebeugt, ganz versunken. Sybil holte tief Luft. Die Wut packte sie, und die Hilflosigkeit. Die Wut wog schwerer. Weil ihre Zehen schmerzten, weil der Bengel unten sie angesehen hatte, als sei es ihre Schuld, dass seine Mutter von der Schwindsucht gefressen wurde. Weil Annie, ein missgünstiges und boshaftes Geschöpf, sich stets dahinter versteckte, dass Thompson ihr Vater war. Er schmeißt dich raus, wenn du mir was tust, dass du's nur weißt!
So oder so, lange ging das ohnehin nicht mehr so.
Sie packte Annie bei der Schulter, riss sie herum und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Eine saftige Maulschelle, und der Schrecken in den Schafsaugen ließ den Klumpen in ihrer Brust beinahe schmelzen. »Ich hab's dir hundert Mal gesagt. Was hast du an meinen Sachen zu suchen?<<
Die blassen Lippen zitterten. Ungläubig. Schmale Finger tasteten über die Wange, auf der ihre Hand einen roten Abdruck hinterlassen hatte. »Ich sag's dem Vater!<<
»Was sagst du ihm? Dass du seine Mieter bestiehlst?<<
»Was soll man denn hier stehlen?<< Annie reckte ihr Kinn hoch, die Mausprinzessin. Versuchte, den Schein von Überlegenheit zu wahren. Vor ihrer Brust hielt sie ihr Umschlagtuch zusammengerafft und noch etwas anderes.
Sybil packte ihr Handgelenk. »Gib her!<<
»Nein!<<, fauchte Annie.
»Gibst du ...<< In dem pummeligen Leib steckte erstaunlich viel Kraft. Thompsons Tochter wehrte sich, als müsste sie ihre Ehre gegen einen besoffenen Harpunisten verteidigen. »Gibst du es jetzt her, verdammt?<<
Annie zerrte an ihrem Arm, und als Sybil sie nicht losließ, langte sie hoch, verkrallte sich in Sybils Haar und riss daran. Sie stolperten übereinander und rücklings aufs Bett, und Sybil ohrfeigte das Miststück ein zweites Mal. Annie schrie. Schwer zu sagen, ob vor Empörung oder vor Schmerz. Aber sie löste ihren Griff um das Kuvert, das sie so hartnäckig verteidigt hatte. Eine Wolke Rosenparfüm stieg vom Papier auf. Sybil wälzte sich mit ihrer Beute zur Seite und sprang vom Bett auf, bevor Annie sich besann.
Mit großen, eleganten Lettern stand auf dem Umschlag: Sybil Arnolds
»Der ist für mich!«, keuchte sie. »Wo hast du den her?«
Das Papier war zerknittert, die rosafarbenen Seidenbänder zu einem Krähennest verheddert. Doch der Klecks Siegelwachs auf der Rückseite des Umschlags glänzte unversehrt.
»Wer schreibt dir überhaupt so feine Briefe? So einer wie dir?« Annie richtete sich auf und zupfte an ihrer Haube herum. »Bist halt doch ein Hürchen, wie ich's dem Vater gesagt habe, und hier ist der Beweis.«
Sybil betrachtete den schön geschwungenen Schriftzug.
»Wo hast du den Brief her?« Die unterdrückte Wut ließ ihre Stimme zittern. Und die Furcht, das Miststück könnte ihr etwas gestohlen haben, andere Briefe, die sie vielleicht nie zu Gesicht bekommen hatte. Und der Funke Hoffnung, den sie nicht spüren wollte, weil unweigerlich Enttäuschung folgte.
»Ein Bote hat ihn gebracht«, schnappte Annie. »Und nur dass du's weißt, ich wollt ihn dir in die Kammer legen, mehr nicht.«
»Du lügst.«
»Und du bist eine Hure. Ich sag's dem Vater.«
»Sag ihm doch, was du willst.«
»Mach ich auch.« Annie drückte sich an ihr vorbei. Im Türstock blieb sie stehen. »Außer, du gibst mir die Bänder.« »Was?«
»Die Rosenbänder da. Ich will mir eine neue Haube machen.«
»Mit Hurenschleifen ?<<
Annie sah sie böse an.
»Na schön.<< Sybil streifte die Bänder ab und wickelte erst das eine um ihren Finger, dann das andere. Was kümmerten sie die albernen Bänder? »Aber nimm die Hure zurück.<<
»Ich nehm's zurück. Jetzt gib her.<< Die Gier in ihrer Stimme! Thompson, der Geizkragen, hielt sein Töchterchen kurz, wenn es um Tand und Zierrat ging.
Sybil bewegte ihre Zehen unter dem feuchtkalten Leder. Es war nicht so schlimm. Wirklich nicht. Sie konnte sich ein Dach über dem Kopf leisten und musste dafür nicht die Beine breit machen. Thompson, der vertrocknete alte Gierschlund, machte ihr beim Einsammeln der Miete zwar schöne Augen, aber sie anzufassen, das wagte er nicht.
Noch nicht.
Manchmal, wenn sie im Bett in ihrer Kammer darauf wartete, dass die Decken warm wurden, dann träumte sie. Davon, sich einem Treck nach Westen anzuschließen, wo sie Gold aus den Flüssen siebten und wo alles möglich schien. Wo niemand sich für ihre Herkunft interessierte.
Es ist nicht für immer, das hier.
Sie wickelte die Bänder vom Kuvert, während Annies Schafsaugen auf ihren Händen klebten. Bevor sie Annie die Beute überließ, brach sie das Siegel und zog den Brief aus der Hülle, eine einzelne Karte aus Büttenpapier. Noch mehr Rosenduft quoll ihr entgegen.
Sybil, wir müssen uns morgen Nachmittag treffen. Es ist sehr wichtig, es geht um Deine Zukunft. Wir haben keine Zeit zu verlieren.
Geschrieben mit der gleichen schwungvollen Feder, und unterzeichnet mit Margaret Tremain. Der Halbschwester, die auf der anderen Seite des Hügels lebte, der Südseite, auf der die Villen der feinen Leute sich sonnten.
Ihr wurde heiß und kalt.
»Wann kam der Brief?«, fragte sie mit erzwungener Ruhe. Annie sollte nicht merken, dass es ihr die Kehle zuschnürte, sonst witterte sie gleich wieder Morgenluft.
»Gestern Abend.«
»Ist das wahr?«
Annie nickte und grapschte nach den Bändern. Sybil zog sie ihr fort, packte wieder ihr Handgelenk. Das Miststück war kräftig, aber sie war stärker. Nach anderthalb Jahren, in denen sie jeden Abend zehn Stunden lang Bierkrüge schleppte, konnte sie sogar Mollys Stallburschen Paroli bieten.
»Wenn nämlich nicht, dann schlag ich dich grün und blau, und dann ist mir egal, ob du's deinem Vater erzählst.«
Annie, die ihre sicher geglaubte Bastion wanken sah, blinzelte ein paar Mal. »Es ist wahr. Frag doch Vater, wenn du's nicht glaubst. Er war im Geschäft, als der Bote kam.«
»Du hinterlistiges kleines Luder.« Sybil ließ sie los und warf ihr die Bänder zu. »Was wolltest du ihm denn erzählen, wenn er den Brief längst gesehen hat?«
»Und du bist doch eine Hure !« Annie schloss eine Faust um die Bänder und floh ins Treppenhaus. Ihre Stimme hallte durch den lichtlosen Schlund, ihre Schritte auch. »Das sagt auch Mrs Hammersmith. Alle sagen es!«
»Na und?«, schrie Sybil ihr nach. »Was geht es euch an?«
Sie warf die Tür ins Schloss, dass Staub zwischen den Brettern aufsprang. Den Brief in der Hand, ließ sie sich aufs Bett sinken.
Doch, es war schlimm. Es war so schlimm, dass ihr das Schluchzen in die Kehle sprang, kaum dass die Matratze unter ihr durchsackte.
Sybil versuchte, ein paar Stunden zu schlafen, nachdem sie die ganze Nacht auf gewesen war, doch schlechte Träume plagten sie und eine Unruhe, die sie bei jedem Geräusch hochschrecken ließ. Fuhrwerke unten auf der Straße, ein lärmender Betrunkener. Ein Kerl, der seinem Knecht androhte, ihn die Lynn Street hinunterzuprügeln.
Regen setzte ein und trommelte einen öden Marsch gegen die Fensterscheiben.
Eine Stunde nach Mittag stand sie wieder auf. Sie wanderte in ihrem Kämmerchen auf und ab wie ein Bär im Schaustellerkäfig. Sie glättete den Brief und las ihn erneut. Der Regen wich einer schwachen Wintersonne. Was hatte Margaret Tremain mit ihrer Bastard-Schwester zu schaffen?
Sie hatte Margaret nur ein einziges Mal getroffen, und das lag zwei Jahre zurück. Das war der demütigende Bittgang zu ihrem Erzeuger gewesen, dem Pretiosenhändler Charles Tremain, nach dem Tod ihrer Mutter. Ihr wurde jetzt noch schwarz vor Augen vor Scham, wenn sie nur daran dachte.
Das war wohl auch der Grund, warum sie sich kaum ins Gedächtnis rufen konnte, wie ihre Halbschwester aussah. Sie hatten beide das rote Haar und die grünen Augen ihres Vaters geerbt, doch damit endeten die Gemeinsamkeiten. Margaret war eine Dame der besseren Gesellschaft, Sybil ein Hurenkind.
Schlimmer noch: eines, dem die Ähnlichkeit zu ihrer Mutter, der berühmten Kokotte Henriette Arnolds, unübersehbar ins Gesicht geschrieben stand.
Das bedeutete, dass sie nicht einmal eine Anstellung als Dienstmädchen bekommen konnte. Anständige Damen wollten keine Hurentöchter in der Küche, zu sehr trieb sie die Sorge um, der Ehegatte könnte in Versuchung geführt werden. Also blieb ihr nur, in Tavernen zu bedienen, wenn sie nicht selbst dem Gewerbe ihrer Mutter nachgehen wollte. Doch so wie ihre Mutter wollte sie nicht enden.
Als es Zeit war, verbarg sie den Brief im Mieder, stieg die engen Stufen hinab, am Keuchen der Russin vorbei, und trat hinaus in den kalten Spätnachmittag.
Die Lynn Street hinunter begegnete sie zwei Polizeipatrouillen. Ungewöhnlich fürs North End, vor allem so früh am Abend. Sie nestelte an den Bändern ihrer blassblauen Haube und wartete, dass die Gruppe von Polizisten in einer Quergasse verschwand.
Sie erreichte die belebte Merchants Row, die die Elendsquartiere am Nordhang des Beacon Hill mit den eleganten Anwesen im Süden verband. Während sie in die Menge abendlicher Spaziergänger eintauchte, tastete sie nach dem Kuvert, um sich zu vergewissern, dass es noch da war.
Mit zusammengekniffenen Augen, damit das Licht sie nicht blendete, stieg sie über die Pfützen. Die Sonne stand tief am Novemberhimmel und badete die Dächer in unwirkliches Gold. Die Schatten, lang und violett, verbargen gnädig den Unrat auf den Straßen. Lange würde es nicht mehr dauern, bis der erste Schnee fiel. In den Nachten gefror schon der Matsch auf den Straßen. Rauch aus den Kohlekaminen sättigte die Luft.
Fröstelnd verkroch sie sich in ihr Umschlagtuch. Sie wich einem Pferdefuhrwerk aus und tauchte unter der Veranda der Shreveborn-Backerei hindurch in die Gasse zum Haymarket Square.
Jetzt hatte sie sich doch eingenistet, die Hoffnung in ihrer Brust. Die fiebrige Erwartungsfreude. Sie wollte nicht zu spät kommen, und sie kam nicht umhin, sich alle möglichen verrückten Szenarien auszumalen.
Auf dem Heumarkt drängten sich Stande, an denen rotgesichtige Handler Fisch und Gemüse verkauften. Anders als in der Merchants Row haftete den Gerüchen hier eine erdige Schwere an. Bratendünste mischten sich mit Pferdemist und Fischblut, Rüben und Äpfel verbreiteten Herbstmelancholie, Geräuchertes und der Duft von frisch gebackenem Brot kitzelten die Nase.
Die Kleider der Frauen ließen die Pracht vermissen, die die flanierenden Müßiggänger einen Block entfernt präsentierten. Hier drängten sich Lastenträger und Mägde, Auswandererfrauen aus aller Herren Länder und die Bürgerlichen, die sich Hauspersonal nicht leisten konnten.
Sybil schob sich an der Werkstatt eines Wagners vorbei ins Getümmel, bekam einen Stoß in den Rücken und stieß ihrerseits gegen einen Herrn mit hohem Zylinder, dessen Entschuldigung im Geschrei der Markthändler versank. Fetzen aus fremden Sprachen flogen durcheinander, Italienisch, Französisch und ein Dutzend anderer, die sie nicht kannte. Beinahe jeden Tag liefen Schoner mit Neuankömmlingen aus ganz Europa im Hafen ein. Die Stadt drohte aus allen Nähten zu platzen.
Sie erreichte das eingezäunte Rondell mit der Gaslampe im Zentrum des Platzes, schlüpfte hinein und ließ sich auf einer Bank nieder.
Trotz ihrer warmen Unterröcke drang ihr die Kälte des Steins sofort in die Glieder. Wieder tastete sie nach dem Brief, spürte nach dem Knistern des Papiers unter der schäbigen Wolle. In ihrem schlecht sitzenden Kleid unterschied sie sich kaum von den irischen Fischweibern unten am Charles River, doch das war ihr nur recht. Sie musste die Kerle, die in der Greenleaf Tavern einkehrten, nicht auch noch ermuntern. Zwar verstand Molly, die Köchin, keinen Spaß, wenn jemand den Bedienungen unter die Röcke griff, und wer einmal Bekanntschaft mit Mollys Kochlöffel gemacht hatte, forderte sie kein zweites Mal heraus. Doch die Kundschaft des Greenleaf war eine raue Gesellschaft: Soldaten und Seeleute, die leicht über die Stränge schlugen.
Die andere Frau bemerkte sie erst, als diese neben ihr niedersank: Rosenparfüm, pelzverbrämte Mantelfalten und eine Sturmflut knisternder Röcke, die sich abenteuerlich über der Krinoline bauschten. Eine pflaumenfarbene Haube voller Seidenblumen thronte auf ihrem Haar.
Sybil wurde der Mund trocken. Sie schalt sich eine dumme Gans, doch das änderte nichts an ihrer Nervosität. Zieh den Kopf nicht zwischen die Schultern, Miss Arnolds, hätte ihre Mutter gesagt. Drück das Rückgrat durch, junge Lady, und sei stolz, dass Gott dir zu gleichen Teilen Schönheit und Verstand gegeben hat.
»Sie haben meinen Brief erhalten?«, fragte die Frau, ohne sie anzusehen. Den Kopf hielt sie starr geradeaus gerichtet, als sei es nur Zufall, dass sie neben einer aus den Elendsquartieren safe.
»Ja«, brachte Sybil hervor. Rückgrat, junge Lady. »Sie sind Margaret, nicht wahr ?«
»Kommen Sie, wir gehen ein Stück. Ich habe Ihnen ein Angebot zu unterbreiten, das Ihr Leben dramatisch zum Besseren wenden wird.«
»Warum sagen Sie es mir nicht gleich hier?«
Ein Stich Ärger verdarb ihr die Erwartungsfreude. Vielleicht lag es an dem herablassenden Ton, den Margaret ihr gegenüber anschlug. Wie eine der vornehmen Ladys, die nach dem Kirchgang Almosen im Hafen verteilten, dabei aber durch einen Pulk von Knechten gegen die Berührung jeder elenden Hand abgeschirmt waren. Was wusste Margaret schon über ihr Leben? Wie kam sie dazu, anzunehmen, dass Sybil Verbesserung nötig hatte?
»Weil jeder uns sehen kann«, belehrte sie Margaret mit einer Sanftheit, als spräche sie zu einer Schachsinnigen. »Also kommen Sie, wir spazieren hinunter zur Faneuil Hall; man wird Sie einfach für meine Zofe halten.«
Sybil hatte Lust, ihr zu widersprechen. Doch der Verstand siegte; sie schluckte den Trotz hinunter und nickte.
Sie bogen in die Union Street und reihten sich ein in die Menge der Spaziergänger, die dem Hafen zustrebten.
Erst jetzt bemerkte Sybil, dass Margaret ebenso nervös war wie sie selbst. Ihr ganzer Körper wirkte angespannt. Unablässig knetete sie die Finger. Ihr Blick schweifte vor und zurück, als rechne sie mit Verfolgern. Himmel, die Frau stellte sich an, als hätte sie soeben ein Verbrechen begangen.
»Bevor ich weiterspreche, müssen Sie bei Gott schwören, dass Sie es niemandem verraten werden.«
»Von mir aus.«
»Schwören Sie.«
»Ja gut, ich schwöre.« Sie gestattete sich einen kurzen Blick zum blutfarbenen Himmel. Was konnte Margaret ihr groß verraten, das ihr Gewissen belasten würde? Abgesehen vom gemeinsamen Erzeuger, hatten ihre Leben keinerlei Berührungspunkte.
»Und denken Sie daran, wenn Sie mich hintergehen, mache ich meinen ganzen Einfluss geltend, um Ihr Leben in eine miserable, unerträgliche Hölle zu verwandeln.«
Die Drohung klang schwach aus Margarets Mund. Sybil fühlte nicht einmal das Verlangen, ihr eine Antwort darauf zu geben. Aus dem Augenwinkel musterte sie ein Plakat, das die schwarzen Bewohner des Viertels vor Sklavenfängern warnte.
»Ich mache Ihnen ein wunderbares Geschenk«, sagte Margaret. »Ich verschaffe Ihnen die Ehe mit einem begüterten Arzt, der Ihnen ein Leben als ehrbare Dame im Wohlstand erlaubt.«
Sybil war für ein paar Herzschläge zu verblüfft, um zu antworten. Dann packte sie der Zorn über die unterschwellige Beleidigung, die sie schon so oft gehört hatte, dass sie kurz davor stand, zu Madame Adelaides Salon der Lüste zu marschieren und mit Tatsachen zu untermauern, was ihr jede der sogenannten anständigen Frauen ohnehin unterstellte. Doch in den Zorn mischte sich auch Misstrauen, das zuletzt alle anderen Regungen verdrängte.
»Was sagen Sie dazu? Ist das nicht fantastisch?«
»Warum?«, fragte Sybil.
»Wir sind immerhin Halbschwestern«, plapperte Margaret. »Und es ist die Pflicht eines jeden guten Christenmenschen, den Bedürftigen zu helfen, vor allem, wenn sie vom gleichen Blut ...«
»Unsinn«, fiel Sybil ihr ins Wort. »Was ist das für eine Ehe, und was nützt sie Ihnen?«
Margaret blieb stehen, ihre Lippen ein böser, zusammengepresster Strich. Sekundenlang schien sie mit sich zu ringen. »Was ist so falsch an Nächstenliebe?«
»Gar nichts.« Sybil erwiderte stoisch den Blick. Die leuchtend seegrünen Augen gaben ihr das Gefühl, in einen Spiegel zu sehen. Einen, der dem armen Streichholzmädchen vorgaukelte, eine Prinzessin zu sein. »Erzählen Sie mir jetzt die ganze Geschichte ? Ich geh schon nicht zur Zeitung damit.«
Abrupt setzte sich Margaret wieder in Bewegung. Mit der behandschuhten Hand packte sie Sybils Arm und zog sie mit sich.
»Es ist nur so«, ihre Stimme sank fast ins Unhörbare herab, »dass Sie sich für mich ausgeben müssten. Sie gehen morgen Abend an Bord der Chaica und segeln als Margaret Tremain zu den Sandwich-Inseln, wo Ihr Verlobter, der Sie nur von Briefen und einer Daguerrotypie kennt, Sie in Empfang nehmen wird. In der Schiffskabine befinden sich ein paar Koffer mit meinen Kleidern, sodass Sie etwas anderes tragen können als diese grauenvolle Ackertracht.«
Ah, daher wehte der Wind. »Dieser wohlhabende Arzt ist also Ihr Verlobter, aber Sie wollen ihn nicht heiraten. Warum nicht ? Haben Sie herausgefunden, dass er Knaben schändet?«
»Sybil!«, entfuhr es ihrer Halbschwester. »Wie können Sie etwas so Niederträchtiges sagen?«
»Schon vergessen? Ich bin in einem Hurenhaus aufgewachsen«, gab Sybil zurück. »Was dann? Ist er bucklig und verwachsen? Oder besteht sein Reichtum aus einer Blockhütte mit löchrigem Strohdach, die von blutrünstigen Wilden belagert wird?«
»Natürlich nicht ! Der Gentleman verfügt über ausgezeichnete Referenzen.«
»Und was wird unser herzensguter und überaus großzügiger Vater dazu sagen, wenn Sie ihm eröffnen, dass Sie ihm auch weiterhin mit Ihrem extravaganten Modegeschmack auf der Tasche liegen werden?«
Ein Schnauben ging über die hübschen Lippen. »Er hat kein Recht, mir mein Leben vorzuschreiben.«
Sybil zog eine Braue hoch. »Das sieht er sicher anders. Er bezahlt immerhin Ihre Rechnungen.«
»Lucretia Mott sagt, dass es höchste Zeit für uns Frauen ist, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.<< Ein kämpferischer Ton schlich sich in Margarets Stimme, der gar nicht zu ihrem aparten Äußeren passte. »Wir dürfen die Unterdrückung unserer Rechte durch die Tyrannei der Männer nicht länger hinnehmen.<<
»Lucretia Wer ?<<
»Sagen Sie nur, Sie kennen Mrs Mott nicht!<<
»Sollte ich?<<
»Ihr Salon ist die populärste Attraktion in der Stadt. Jede Dame mit Bildung reißt sich darum, eine Einladung zum Tee bei Mrs Mott zu erhalten.<<
»Das ist sehr schön für Mrs Mott.<< Kälte und Feuchtigkeit waren in Sybils Schuhe zurückgekehrt wie vertraute Zellengenossen. Vor allem aber ärgerte sie sich darüber, dass ihre Halbschwester sie dastehen ließ wie eine tumbe Kohlensammlerin, nur weil sie nicht wusste, wer diese Dame war, die auf ihren Teekränzchen revolutionäre Reden hielt, aber keine Ahnung hatte, wie es wirklich war, wenn man sich um sich selbst kümmern musste.
»Also wollen Sie eine alte Jungfer bleiben, aus Protest gegen die Unterdrückung der Frauen?<<
»Nein!<<, entfuhr es Margaret. »Ich will einen Mann ehelichen, dem ich aus freiem Willen meine Liebe schenke.<<
Sybil musste unwillkürlich lächeln. »Also wollen Sie heimlich mit Ihrem Liebhaber durchbrennen.<<
Selbst im schwindenden Licht war nicht zu übersehen, wie Röte in die gepuderten Wangen schoss. »So, wie Sie es sagen, klingt es profan. Und das ist es nicht.<<
»Wie ist es dann?<<
»Wir lieben uns und wollen eine aufregende gemeinsame Zukunft beginnen.<<
In dem verworrenen Knoten aus Verärgerung, Argwohn und Abneigung gegen die Arroganz dieser Frau spürte Sybil einen Stich Mitleid.
»Er hat ein Haus in San Francisco erworben. Wir werden gemeinsam nach Westen reisen. Und mein Vater muss sich nicht in Sorge zerfleischen, weil er mich sicher auf der Passage nach Lahãinã glaubt. Ich heirate Darcy, und sobald sein Geschäft in San Francisco blüht und gedeiht, schreibe ich Vater und erkläre ihm den kleinen Betrug. Er wird mir verzeihen, wenn er begreift, dass es nur zu meinem Besten war.«
Unser Vater, dachte Sybil in neu aufwallendem Widerspruchsgeist. Doch sie sagte es nicht. Ihr schwirrte der Kopf von den sich auftürmenden Möglichkeiten. Chance und Risiko, so dicht beieinander. Ihre vielseitig begabte Mutter war neben vielem anderem auch eine gute Kartenspielerin gewesen. Charles Tremain, selbst leidenschaftlicher Pokerspieler, hatte das sehr imponiert. Doch nach Sybils Geburt hatte er nicht die schöne und gebildete Kokotte geheiratet, sondern die ehrbare Tochter eines Bostoner Stadtrats, die seinem Ansehen als Geschäftsmann dienlich war.
Aber Margaret konnte ja nichts für die Bigotterie ihres Vaters. Ein schwacher Trost. Das Mitleid löste sich in Luft auf und ließ einen bitteren Nachgeschmack zurück.
»Und warum will Ihr Vater Sie nicht diesen Darcy heiraten lassen?«
»Er glaubt, Darcy könne mich nicht ernähren. Aber das ist natürlich Unsinn. Er kann ihn nur nicht leiden, das ist alles. Weil Darcy den Geist der Neuen Zeit verkörpert.«
Natürlich. Margaret würde sich noch wundern, wenn ihr galanter Pfau sich als gerupftes Huhn entpuppte. Aber das konnte Sybil ja gleichgültig sein.
»Wann genau legt dieses Schiff ab?«, fragte sie.
»Also nehmen Sie mein Angebot an?«
»Wann?«
»Sie müssen morgen Abend an Bord gehen. Die Chaica läuft mit der Flut aus, ein paar Stunden nach Mitternacht.«
»Und wird man mich nicht erkennen?«
Ein listiger Ausdruck trat auf Margarets Züge. »Die Nächte werden jetzt sehr kalt. Sie tragen einen Kapuzenumhang, und Sie führen Ihr Schiffsbillet mit sich. Niemand wird unhöfliche Fragen stellen.<< Sie blieb stehen und zog einen Umschlag aus ihrem bestickten Samtbeutelchen, der dem in Sybils Mieder ähnelte. »Hier.<<
Sybil zögerte.
»Jetzt nehmen Sie es! Die Leute gaffen schon.<<
Ihre Finger zitterten, während sie sich um das Papier schmiegten. Von der Kälte, redete sie sich ein. Sie hatte Margaret ja nichts versprochen. Sie konnte sich noch einen Tag lang überlegen, ob sie auf den verrückten Handel eingehen wollte. Auf ein Schiff zu steigen und in eine Wildnis am anderen Ende des Ozeans zu segeln, ohne Garantie, dass Margarets Geschichte der Wahrheit entsprach. Was, wenn sie in eine Falle tappte und als Sklavin in den Klauen eines Menschenfresserstammes endete? Es gab Geschichten von arglosen Bürgern, die auf Schiffe gelockt und auf Nimmerwiedersehen verschleppt worden waren.
»Dieser Arzt, wie heißt er ?<<
»George Lyon.<<
Sie hatten die ganze Länge der Markthallen hinter sich gelassen und blickten hinaus auf das Gewirr von Schiffsmasten vor dem rasch dunkler werdenden Himmel. In den Bugs entzündeten die Deckwachen Laternen. Eines nach dem anderen flammten die goldenen Lichter auf.
»Er ist auf der Plantage seiner Verwandten in Maryland aufgewachsen und vor ein paar Jahren nach Maui zurückgekehrt, um den Besitz seiner Eltern zu übernehmen. Er praktiziert als Arzt in Lahãinã. Stellen Sie sich vor, ein tropischer Garten Eden. Die Wilden sind freundlich und zum christlichen Glauben bekehrt.<<
»Und warum hat er sich mit Ihnen verlobt, wenn Sie einander nicht kennen?<<
»Die Missionssiedlungen sind noch nicht lange etabliert. Es scheint, dass nicht genügend ... junge Frauen von Stand und tadellosem Ruf zur Verfügung stehen. Die Kirche bemüht sich um die Vermittlung von Ehefrauen für die Missionare auf den Sandwich-Inseln, und mein Vater ...« Sie brachte den Satz nicht zu Ende. »Ich nehme an, er hielt es für eine gute Idee, mich an George Lyon zu verheiraten. Der Oheim von Mr Lyon scheint einer seiner Geschäftspartner zu sein. Wie ich schon sagte, seine Referenzen sind exzellent.«
»Und was tue ich, wenn dieser Mr Lyon den Betrug entlarvt und sich weigert, mich zu ehelichen ?«
»Warum sollte er ?« Margarets Lächeln wurde zuckersüß. »Wir haben eine gewisse Ähnlichkeit, und mit etwas Toilette und anständiger Garderobe wird man den Unterschied in der Daguerrotypie kaum ausmachen können. Er wird er keinen Verdacht schöpfen. Außerdem haben Sie während der Überfahrt Zeit, alle Briefe zu lesen, die er mir geschickt hat. Sie können doch lesen ?«
»Sonst wäre ich nicht hier«, schnappte Sybil.
Copyright © 2013 by Andrea Gunschera
Na' ni rannte und rannte, obwohl Ho'opono mit seinen taumelnden Schritten sie längst im Dunkel verloren hatte. Den Hang rannte sie hinab, durch den Teppich knöchelhoher Ilima-Sträucher. Gelbe Blüten fetzten gegen ihre nackten Sohlen.
Sie rannte, bis ihre Knie protestierten, bis das Stechen in ihren Lungen schärfer brannte als der Schmerz dort unten, bis sie glauben konnte, es wäre Schweiß und nicht Blut, der die Innenseiten ihrer Schenkel besudelte.
Sie rannte, während Tränen ihr den Blick verschleierten, doch es war dunkel, Kane, die siebenundzwanzigste Nacht, in der die dünne Mondsichel erst im Morgengrauen emporstieg. Den Weg zum Wasser kannte sie blind. Ihre Füße gruben sich in den feuchten Sand, berührten den Wellensaum, tauchten bald tiefer. Sie blieb stehen.
Sie stand und atmete, während der warme Ozean um ihre Hüften wogte, während die Flut das Blut und den Schweiß von ihr abwusch und Ho'oponos Berührung mit sich fortnahm. Ho'opono, der von ihrer Familie hofiert wurde, weil in seinen Adern ein Quäntchen königliches Blut floss.
Na' ni, deren voller Name Na' ni Napo'o'ana o Ka La lautete - die große Schönheit, wenn die Sonne unter den Horizont sinkt - starrte in die mondlose Nacht und wünschte, die Sonne würde nie mehr aufsteigen. Sie glaubte, die Demütigung bei Tageslicht nicht ertragen zu können, das Kichern und Schwatzen der anderen Frauen, die Blumen, die nur in ihrer Hütte lagen, um unter schwitzenden Leibern zerquetscht zu werden. Sie fürchtete, das Lächeln auf ihren Lippen nicht festhalten zu können. Niemand würde verstehen, dass sie Ho'oponos Berührungen nicht ertrug.
Nach Stunden, als die Trommeln endlich verstummten, als der Gesang der Feiernden nicht mehr aufs Meer hinausschallte, watete sie langsam zurück an den Strand. Ihre Tränen waren zu klebrigen Spuren getrocknet, der Schmerz in ihrem Unterleib zu einem Pochen verklungen.
Sie hatte die Frangipani-Blüten in ihrem Haar verloren und auch das Armband, das ihre Großmutter ihr geschenkt hatte : alter Schmuck, der aus menschlichem Haar geflochten war und böse Geister vertreiben sollte.
Die weißen Missionare behaupteten, es sei Teufelswerk. Na' ni kümmerte es nicht. In dieser Nacht war ihr jeder Schutz recht. Doch alte und neue Götter hatten sie gleichermaßen im Stich gelassen. Sie war allein, das Armband verschwunden. Sie gehörte nun Ho'opono, der Vergnügen daran hatte, sich mit Gewalt zu nehmen, was sie ihm auch freien Herzens gegeben hätte.
Mit steifen Knien und leerem Geist stieg sie hügelan. Der Duft der Ilima-Blüten wehte hoch zu ihr. Sie fühlte einen Stich Schuldgefühl, weil sie die Blumen vorhin so achtlos zertreten hatte. Wind raschelte in den Wedeln der Kokospalmen. Sie stapfte an dem Taro-Feld vorbei, das der alten Anuhea gehörte und allmählich versandete, seit die Frau zu krank war, um sich darum zu kümmern. Die Pili-Grasmatten ihres Hauses waren nicht mehr schilfgrün, sondern grau. Und Anuhea siechte in ihrem Bett dem Tod entgegen.
Legenden rankten sich um die Alte, Geschichten einer unglücklichen Liebe zu einem weißen Pelzhändler, den die Missionare vertrieben hatten. Und obwohl alle sie nur die alte Anuhea nannten, wusste Na' ni, dass sie gar nicht alt war, nur von der schrecklichen Blasenkrankheit entstellt, die englische Walfänger nach Maui gebracht hatten. Vor ein paar Monaten war der neue Doktor auf die Insel gekommen, Quentins Freund. Er als Einziger schien sich nicht vor Anuhea zu fürchten, sondern ging in ihr Haus und kümmerte sich um ihr Leiden, umwickelte ihre Beine und gab ihr Medizin. Weiße Medizin, Ho'opono hielt nichts davon, aber Ho'opono war nicht nur brutal, sondern auch engstirnig. Er hasste den Doktor, nur weil der Quentins Freund war.
Der Schmerz schoss ihr so tief zurück in die Seele, dass sie stehen bleiben und sich die Fäuste auf die Augen pressen musste. Quentin hatte sich bei der Hochzeit nicht blicken lassen, obwohl alle anderen Weißen aus Lahãinã gekommen waren. Pater Hawthorne hatte die Zeremonie vollzogen, die de Witts waren dabei gewesen. Nur Quentin war nicht gekommen.
Ho'opono ist ein eifersüchtiger Mann, hatte ihre Schwester gesagt. Du musst ihm zeigen, dass er der Einzige ist, der in deinem Herzen lebt. Aber wollte sie das ? War sie fähig, Quentin wegzuwerfen, so wie er sie weggeworfen hatte? Wenn sie ihrer Schwester erzählte, was heute Nacht geschehen war, würde die glauben, dass Ho'oponos Eifersucht erwacht war, weiter nichts. Weil Ho'opono spürte, dass sie noch immer nicht den anderen Mann aus ihrem Herzen gerissen hatte, und ihn mit Gewalt vertreiben wollte.
Als Schritte sich näherten, blieb sie zwischen zwei Lehua Bäumen stehen und schlug sich die Hände vors Gesicht. Jedes Kind kannte die Legenden der Ka huaka'i oka Po, der Wanderer der Nacht, einer Prozession verstorbener Chiefs und Krieger, bei deren Anblick der zufällige Beobachter sterben musste. Und dies war Kane, eine der vier Nächte der Götter, in denen die Wanderer die Insel heimsuchten. Als jedoch kein kalter Hauch sie streifte und auch kein Geistergesang und kein Klappern von Poí-Kalebassen erklang, schob sie vorsichtig zwei Finger auseinander, um hindurchzublinzeln.
Fedrig rot wiegten sich die O'hia-Blüten im Wind, die heiligen Blumen der Göttin Pele. In der Schule sagten sie, dass die alten Götter gefährlicher Aberglaube seien, aber wenn Na' ni das Grollen im Boden spürte, wusste sie, dass Pele lebte. Und wenn Pele die Inseln durchstreifte, warum sollten es dann nicht auch ihre Gefährten tun?
Aber es waren Fremde, die in einer Reihe vom Strand hochstiegen, dreißig Yards entfernt von dem Pfad, auf dem Na' ni gegangen war. Keine Geister, sondern Männer aus Fleisch und Blut. Seltsam, dass sie kein Boot bemerkt hatte. Sie mussten abseits der Bucht gelandet sein
Sie waren zu fünft, und Na' ni hörte ihre leisen Gespräche. Zwei von ihnen sahen aus wie die Chinesen, die seit Kurzem auf der Wilfong-Zuckerplantage in Hãna arbeiteten. Die anderen waren Amerikaner. Die schwarze Dschunke, fuhr es ihr durch den Sinn.
Als sie näher kamen, erkannte sie den Anführer, obwohl er ganz anders gekleidet war als sonst. Anstelle des Gehrocks und der glänzenden Weste trug er nun grobe Kleider und einen Mantel aus Robbenleder, wie ein Seemann. In seinem Gürtel steckte eine Pistole. Doch sie erkannte ihn an der langen, bleich schimmernden Narbe, die sich vom Mundwinkel den Hals hinunter bis aufs Schlüsselbein zog. Er war ein Freund des Königs und würfelte manchmal im Captains Club an der Front Street, in dem auch Ho'opono den Besitz seines Vaters verspielte.
Die beiden Chinesen schleppten eine Truhe zwischen sich. Der Anführer schob den Vorhang am Eingang zu Anuheas Hütte zur Seite.
»Arthur ?«, schabte die Stimme der Alten durchs Innere. »Bist du das, Arthur?« Sie sprach Hawaiianisch, und es überraschte Na' ni, den Anführer auf gleiche Weise antworten zu hören. Sie hatte nicht gewusst, dass er ihre Sprache beherrschte.
Ein Schwall von Worten flog hin und her. Na' ni wagte nicht, sich zu bewegen. Die Chinesen mit ihrer Truhe und die Amerikaner verschwanden im Haus. Holz schabte auf Holz. Anuhea schimpfte, dass sie gefälligst leiser sein sollten.
»Dafür bin ich dir gut genug !«, fauchte sie.
Na' ni dachte schon daran, sich rückwärts durch die Farne fortzuschleichen, als plötzlicher Kampflärm ihr die Muskeln verkrampfte. Ein unartikuliertes Gebrüll drang aus dem Haus, binnen Sekunden gedrosselt zu einem dumpfen Würgen. Stimmen flogen durcheinander, leise und doch aufgeregt.
»Arthur!«, zeterte die Alte. »Arthur, was geschieht da ?«
»Komm nicht runter!«, rief er zurück. »Bleib oben und rühr dich nicht !«
Der Lärm, das Würgen verstummte.
Nach einiger Zeit schlüpften vier, nicht fünf Gestalten aus der Tür. Die Truhe hatten sie drinnen gelassen. Einer der Chinesen war verschwunden. Der Glutpunkt eines Zigarillos glomm auf. Ein aromatischer Duft stieg in die Nacht, Sandelholz mit einer Spur Gerbsäure.
»Arthur«, flüsterte einer der Amerikaner. »Was, wenn sie ... «
»Still!«, zischte der Anführer zurück. »Oder soll's dir ergehen wie Cheng?«
Zwei Mal im Jahr ankerte die schwarze Dschunke vor Lahãinã, und dann suchte ihre Besatzung, eine Bande von Mördern und Halsabschneidern, die Straßen der Stadt heim. Na' ni war sich nun ganz sicher, dass die Männer zur schwarzen Dschunke gehörten. Wenn ihr ihr Leben lieb war, musste sie Schweigen bewahren. Niemand durfte erfahren, was sie beobachtet hatte.
1
Boston, Massachusetts, 1852
Fünf Jahre später
Der Husten war schon von der Straße zu hören, ein papiertrockenes Keuchen, das im eisigen Morgennebel verwehte. Die schwindsüchtige Russin war das, im ersten Stock. Seit einer Woche ging das schon so. Das Fensterchen ihrer Kammer hatten sie mit Lumpen und Zeitungen verstopft, gegen den Zug. Sybil bezweifelte, dass es viel half. Kein Speck auf den Rippen, wie Molly zu sagen pflegte. Die Russin war ein dürres, reizloses Nymphchen, und keiner sprach aus, was alle im Haus dachte : dass der Herrgott sie endlich zu sich nehmen möge, bevor sie noch jemanden ansteckte.
Sybil stieß die Tür auf und trat in den finsteren Schlund des Stiegenhauses. Nach Zwiebeln roch es, nach Kohl und Katzenpisse. Sie umrundete eine Wasserlache, sorgfältig darauf bedacht, nicht hineinzutreten. Die Zehen waren ihr kalt gefroren in ihren dünnen Schuhen, doch um nichts in der Welt konnte sie sich durchringen, sie gegen das grobe Schuhwerk zu tauschen, das die anderen Mägde in der Greenleaf Tavern trugen.
Alles, nur nicht die Schuhe.
Sie hatte den letzten Winter damit überstanden, sie würde auch diesen darin aushalten. Es war nicht so schlimm. Wirklich nicht. Das Keuchen der Russin drang durch die Wände, wie rostiges Eisen auf Sandpapier.
Auf dem Treppenabsatz zum ersten Stock hockten die beiden Bälger der Russin, der Junge und das Mädchen, mit dreckverschmierten Mündern. Zu klein zum Arbeiten, zu hasenherzig, um sich gegen das Bettelvolk am Hafen durchzusetzen. Sie rückten zur Seite, um Sybil durchzulassen, aber als sie auf eine Murmel trat, starrte der Junge sie mit einem so intensiven Hass in den schwarzen Augen an, dass sie fast stolperte.
»Räumt euren Krempel doch zur Seite !«, fauchte sie. Ein Schmerz schoss ihr durch die eisfrostigen Zehen, als sie gegen das Leder stießen.
Das Mädchen flüsterte Worte in einer fremden Sprache und klaubte die winzigen, rot lackierten Scherben auf.
Sybil wollte noch etwas hinzufügen, irgendeine Gemeinheit, um dem Klumpen aus Angst und Groll in ihrer Brust Erleichterung zu verschaffen. Dass sie sich zu ihrer Mutter scheren sollten, die auf der anderen Seite der Holztür verreckte. Die Worte wollten hinaus, doch sie blieben ihr in der Kehle stecken, als das Gör wieder aufblickte und die speckigen Mundwinkel zu einem Grinsen verzog.
Sieh dich an, Sybil Arnolds. Sieh, was aus dir geworden ist. Ein keifendes Fischweib im Bostoner North End, das Kinder erschreckt. Sie bog den Rücken durch und stemmte die Fäuste ins Kreuz. Die Kälte und die ewig laugenfeuchten Hände vom Spülen der Krüge und vom Tischeabwischen, beides bekam ihren Fingern nicht gut. Die kleinen Risse schmerzten. Hinter der Wand bellte die Russin sich die Lunge aus dem Leib. Was würde aus den Bälgern, wenn sie ihre Seele aushauchte?
Sie bückte sich, fegte die restlichen Murmeln mit einer Hand zusammen und hielt sie dem Mädchen hin.
»Ich bring dir neue mit«, murmelte sie. »Für die, die ich zerbrochen habe.«
Als der Blick des Jungen nicht weicher wurde, wandte sie sich ab und hastete die Stufen hoch, vier Stockwerke, bis zu den beiden Dachkammern. In der einen lagerte Thompson seine Vorratskisten, die andere gehörte ihr.
Ein Glück, dass das Kämmerchen so winzig war, sonst hätte er ihr längst eine Mitschläferin aufgedrängt, eine der armen Seelen, die Gott weiß welche Krankheiten von den Schiffen einschleppten. Oder es passte ihm besser, dass sie allein darin schlief. Sie schauderte. Wusste nicht, was ihr mehr Sorgen machte. Wusste nur, dass es nicht mehr lange gut gehen konnte.
Die Tür stand einen Spalt breit offen. Leise schob sie sie weiter auf. Annie, das kleine Luder, stand über die Truhe am Fußende des Bettes gebeugt, ganz versunken. Sybil holte tief Luft. Die Wut packte sie, und die Hilflosigkeit. Die Wut wog schwerer. Weil ihre Zehen schmerzten, weil der Bengel unten sie angesehen hatte, als sei es ihre Schuld, dass seine Mutter von der Schwindsucht gefressen wurde. Weil Annie, ein missgünstiges und boshaftes Geschöpf, sich stets dahinter versteckte, dass Thompson ihr Vater war. Er schmeißt dich raus, wenn du mir was tust, dass du's nur weißt!
So oder so, lange ging das ohnehin nicht mehr so.
Sie packte Annie bei der Schulter, riss sie herum und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Eine saftige Maulschelle, und der Schrecken in den Schafsaugen ließ den Klumpen in ihrer Brust beinahe schmelzen. »Ich hab's dir hundert Mal gesagt. Was hast du an meinen Sachen zu suchen?<<
Die blassen Lippen zitterten. Ungläubig. Schmale Finger tasteten über die Wange, auf der ihre Hand einen roten Abdruck hinterlassen hatte. »Ich sag's dem Vater!<<
»Was sagst du ihm? Dass du seine Mieter bestiehlst?<<
»Was soll man denn hier stehlen?<< Annie reckte ihr Kinn hoch, die Mausprinzessin. Versuchte, den Schein von Überlegenheit zu wahren. Vor ihrer Brust hielt sie ihr Umschlagtuch zusammengerafft und noch etwas anderes.
Sybil packte ihr Handgelenk. »Gib her!<<
»Nein!<<, fauchte Annie.
»Gibst du ...<< In dem pummeligen Leib steckte erstaunlich viel Kraft. Thompsons Tochter wehrte sich, als müsste sie ihre Ehre gegen einen besoffenen Harpunisten verteidigen. »Gibst du es jetzt her, verdammt?<<
Annie zerrte an ihrem Arm, und als Sybil sie nicht losließ, langte sie hoch, verkrallte sich in Sybils Haar und riss daran. Sie stolperten übereinander und rücklings aufs Bett, und Sybil ohrfeigte das Miststück ein zweites Mal. Annie schrie. Schwer zu sagen, ob vor Empörung oder vor Schmerz. Aber sie löste ihren Griff um das Kuvert, das sie so hartnäckig verteidigt hatte. Eine Wolke Rosenparfüm stieg vom Papier auf. Sybil wälzte sich mit ihrer Beute zur Seite und sprang vom Bett auf, bevor Annie sich besann.
Mit großen, eleganten Lettern stand auf dem Umschlag: Sybil Arnolds
»Der ist für mich!«, keuchte sie. »Wo hast du den her?«
Das Papier war zerknittert, die rosafarbenen Seidenbänder zu einem Krähennest verheddert. Doch der Klecks Siegelwachs auf der Rückseite des Umschlags glänzte unversehrt.
»Wer schreibt dir überhaupt so feine Briefe? So einer wie dir?« Annie richtete sich auf und zupfte an ihrer Haube herum. »Bist halt doch ein Hürchen, wie ich's dem Vater gesagt habe, und hier ist der Beweis.«
Sybil betrachtete den schön geschwungenen Schriftzug.
»Wo hast du den Brief her?« Die unterdrückte Wut ließ ihre Stimme zittern. Und die Furcht, das Miststück könnte ihr etwas gestohlen haben, andere Briefe, die sie vielleicht nie zu Gesicht bekommen hatte. Und der Funke Hoffnung, den sie nicht spüren wollte, weil unweigerlich Enttäuschung folgte.
»Ein Bote hat ihn gebracht«, schnappte Annie. »Und nur dass du's weißt, ich wollt ihn dir in die Kammer legen, mehr nicht.«
»Du lügst.«
»Und du bist eine Hure. Ich sag's dem Vater.«
»Sag ihm doch, was du willst.«
»Mach ich auch.« Annie drückte sich an ihr vorbei. Im Türstock blieb sie stehen. »Außer, du gibst mir die Bänder.« »Was?«
»Die Rosenbänder da. Ich will mir eine neue Haube machen.«
»Mit Hurenschleifen ?<<
Annie sah sie böse an.
»Na schön.<< Sybil streifte die Bänder ab und wickelte erst das eine um ihren Finger, dann das andere. Was kümmerten sie die albernen Bänder? »Aber nimm die Hure zurück.<<
»Ich nehm's zurück. Jetzt gib her.<< Die Gier in ihrer Stimme! Thompson, der Geizkragen, hielt sein Töchterchen kurz, wenn es um Tand und Zierrat ging.
Sybil bewegte ihre Zehen unter dem feuchtkalten Leder. Es war nicht so schlimm. Wirklich nicht. Sie konnte sich ein Dach über dem Kopf leisten und musste dafür nicht die Beine breit machen. Thompson, der vertrocknete alte Gierschlund, machte ihr beim Einsammeln der Miete zwar schöne Augen, aber sie anzufassen, das wagte er nicht.
Noch nicht.
Manchmal, wenn sie im Bett in ihrer Kammer darauf wartete, dass die Decken warm wurden, dann träumte sie. Davon, sich einem Treck nach Westen anzuschließen, wo sie Gold aus den Flüssen siebten und wo alles möglich schien. Wo niemand sich für ihre Herkunft interessierte.
Es ist nicht für immer, das hier.
Sie wickelte die Bänder vom Kuvert, während Annies Schafsaugen auf ihren Händen klebten. Bevor sie Annie die Beute überließ, brach sie das Siegel und zog den Brief aus der Hülle, eine einzelne Karte aus Büttenpapier. Noch mehr Rosenduft quoll ihr entgegen.
Sybil, wir müssen uns morgen Nachmittag treffen. Es ist sehr wichtig, es geht um Deine Zukunft. Wir haben keine Zeit zu verlieren.
Geschrieben mit der gleichen schwungvollen Feder, und unterzeichnet mit Margaret Tremain. Der Halbschwester, die auf der anderen Seite des Hügels lebte, der Südseite, auf der die Villen der feinen Leute sich sonnten.
Ihr wurde heiß und kalt.
»Wann kam der Brief?«, fragte sie mit erzwungener Ruhe. Annie sollte nicht merken, dass es ihr die Kehle zuschnürte, sonst witterte sie gleich wieder Morgenluft.
»Gestern Abend.«
»Ist das wahr?«
Annie nickte und grapschte nach den Bändern. Sybil zog sie ihr fort, packte wieder ihr Handgelenk. Das Miststück war kräftig, aber sie war stärker. Nach anderthalb Jahren, in denen sie jeden Abend zehn Stunden lang Bierkrüge schleppte, konnte sie sogar Mollys Stallburschen Paroli bieten.
»Wenn nämlich nicht, dann schlag ich dich grün und blau, und dann ist mir egal, ob du's deinem Vater erzählst.«
Annie, die ihre sicher geglaubte Bastion wanken sah, blinzelte ein paar Mal. »Es ist wahr. Frag doch Vater, wenn du's nicht glaubst. Er war im Geschäft, als der Bote kam.«
»Du hinterlistiges kleines Luder.« Sybil ließ sie los und warf ihr die Bänder zu. »Was wolltest du ihm denn erzählen, wenn er den Brief längst gesehen hat?«
»Und du bist doch eine Hure !« Annie schloss eine Faust um die Bänder und floh ins Treppenhaus. Ihre Stimme hallte durch den lichtlosen Schlund, ihre Schritte auch. »Das sagt auch Mrs Hammersmith. Alle sagen es!«
»Na und?«, schrie Sybil ihr nach. »Was geht es euch an?«
Sie warf die Tür ins Schloss, dass Staub zwischen den Brettern aufsprang. Den Brief in der Hand, ließ sie sich aufs Bett sinken.
Doch, es war schlimm. Es war so schlimm, dass ihr das Schluchzen in die Kehle sprang, kaum dass die Matratze unter ihr durchsackte.
Sybil versuchte, ein paar Stunden zu schlafen, nachdem sie die ganze Nacht auf gewesen war, doch schlechte Träume plagten sie und eine Unruhe, die sie bei jedem Geräusch hochschrecken ließ. Fuhrwerke unten auf der Straße, ein lärmender Betrunkener. Ein Kerl, der seinem Knecht androhte, ihn die Lynn Street hinunterzuprügeln.
Regen setzte ein und trommelte einen öden Marsch gegen die Fensterscheiben.
Eine Stunde nach Mittag stand sie wieder auf. Sie wanderte in ihrem Kämmerchen auf und ab wie ein Bär im Schaustellerkäfig. Sie glättete den Brief und las ihn erneut. Der Regen wich einer schwachen Wintersonne. Was hatte Margaret Tremain mit ihrer Bastard-Schwester zu schaffen?
Sie hatte Margaret nur ein einziges Mal getroffen, und das lag zwei Jahre zurück. Das war der demütigende Bittgang zu ihrem Erzeuger gewesen, dem Pretiosenhändler Charles Tremain, nach dem Tod ihrer Mutter. Ihr wurde jetzt noch schwarz vor Augen vor Scham, wenn sie nur daran dachte.
Das war wohl auch der Grund, warum sie sich kaum ins Gedächtnis rufen konnte, wie ihre Halbschwester aussah. Sie hatten beide das rote Haar und die grünen Augen ihres Vaters geerbt, doch damit endeten die Gemeinsamkeiten. Margaret war eine Dame der besseren Gesellschaft, Sybil ein Hurenkind.
Schlimmer noch: eines, dem die Ähnlichkeit zu ihrer Mutter, der berühmten Kokotte Henriette Arnolds, unübersehbar ins Gesicht geschrieben stand.
Das bedeutete, dass sie nicht einmal eine Anstellung als Dienstmädchen bekommen konnte. Anständige Damen wollten keine Hurentöchter in der Küche, zu sehr trieb sie die Sorge um, der Ehegatte könnte in Versuchung geführt werden. Also blieb ihr nur, in Tavernen zu bedienen, wenn sie nicht selbst dem Gewerbe ihrer Mutter nachgehen wollte. Doch so wie ihre Mutter wollte sie nicht enden.
Als es Zeit war, verbarg sie den Brief im Mieder, stieg die engen Stufen hinab, am Keuchen der Russin vorbei, und trat hinaus in den kalten Spätnachmittag.
Die Lynn Street hinunter begegnete sie zwei Polizeipatrouillen. Ungewöhnlich fürs North End, vor allem so früh am Abend. Sie nestelte an den Bändern ihrer blassblauen Haube und wartete, dass die Gruppe von Polizisten in einer Quergasse verschwand.
Sie erreichte die belebte Merchants Row, die die Elendsquartiere am Nordhang des Beacon Hill mit den eleganten Anwesen im Süden verband. Während sie in die Menge abendlicher Spaziergänger eintauchte, tastete sie nach dem Kuvert, um sich zu vergewissern, dass es noch da war.
Mit zusammengekniffenen Augen, damit das Licht sie nicht blendete, stieg sie über die Pfützen. Die Sonne stand tief am Novemberhimmel und badete die Dächer in unwirkliches Gold. Die Schatten, lang und violett, verbargen gnädig den Unrat auf den Straßen. Lange würde es nicht mehr dauern, bis der erste Schnee fiel. In den Nachten gefror schon der Matsch auf den Straßen. Rauch aus den Kohlekaminen sättigte die Luft.
Fröstelnd verkroch sie sich in ihr Umschlagtuch. Sie wich einem Pferdefuhrwerk aus und tauchte unter der Veranda der Shreveborn-Backerei hindurch in die Gasse zum Haymarket Square.
Jetzt hatte sie sich doch eingenistet, die Hoffnung in ihrer Brust. Die fiebrige Erwartungsfreude. Sie wollte nicht zu spät kommen, und sie kam nicht umhin, sich alle möglichen verrückten Szenarien auszumalen.
Auf dem Heumarkt drängten sich Stande, an denen rotgesichtige Handler Fisch und Gemüse verkauften. Anders als in der Merchants Row haftete den Gerüchen hier eine erdige Schwere an. Bratendünste mischten sich mit Pferdemist und Fischblut, Rüben und Äpfel verbreiteten Herbstmelancholie, Geräuchertes und der Duft von frisch gebackenem Brot kitzelten die Nase.
Die Kleider der Frauen ließen die Pracht vermissen, die die flanierenden Müßiggänger einen Block entfernt präsentierten. Hier drängten sich Lastenträger und Mägde, Auswandererfrauen aus aller Herren Länder und die Bürgerlichen, die sich Hauspersonal nicht leisten konnten.
Sybil schob sich an der Werkstatt eines Wagners vorbei ins Getümmel, bekam einen Stoß in den Rücken und stieß ihrerseits gegen einen Herrn mit hohem Zylinder, dessen Entschuldigung im Geschrei der Markthändler versank. Fetzen aus fremden Sprachen flogen durcheinander, Italienisch, Französisch und ein Dutzend anderer, die sie nicht kannte. Beinahe jeden Tag liefen Schoner mit Neuankömmlingen aus ganz Europa im Hafen ein. Die Stadt drohte aus allen Nähten zu platzen.
Sie erreichte das eingezäunte Rondell mit der Gaslampe im Zentrum des Platzes, schlüpfte hinein und ließ sich auf einer Bank nieder.
Trotz ihrer warmen Unterröcke drang ihr die Kälte des Steins sofort in die Glieder. Wieder tastete sie nach dem Brief, spürte nach dem Knistern des Papiers unter der schäbigen Wolle. In ihrem schlecht sitzenden Kleid unterschied sie sich kaum von den irischen Fischweibern unten am Charles River, doch das war ihr nur recht. Sie musste die Kerle, die in der Greenleaf Tavern einkehrten, nicht auch noch ermuntern. Zwar verstand Molly, die Köchin, keinen Spaß, wenn jemand den Bedienungen unter die Röcke griff, und wer einmal Bekanntschaft mit Mollys Kochlöffel gemacht hatte, forderte sie kein zweites Mal heraus. Doch die Kundschaft des Greenleaf war eine raue Gesellschaft: Soldaten und Seeleute, die leicht über die Stränge schlugen.
Die andere Frau bemerkte sie erst, als diese neben ihr niedersank: Rosenparfüm, pelzverbrämte Mantelfalten und eine Sturmflut knisternder Röcke, die sich abenteuerlich über der Krinoline bauschten. Eine pflaumenfarbene Haube voller Seidenblumen thronte auf ihrem Haar.
Sybil wurde der Mund trocken. Sie schalt sich eine dumme Gans, doch das änderte nichts an ihrer Nervosität. Zieh den Kopf nicht zwischen die Schultern, Miss Arnolds, hätte ihre Mutter gesagt. Drück das Rückgrat durch, junge Lady, und sei stolz, dass Gott dir zu gleichen Teilen Schönheit und Verstand gegeben hat.
»Sie haben meinen Brief erhalten?«, fragte die Frau, ohne sie anzusehen. Den Kopf hielt sie starr geradeaus gerichtet, als sei es nur Zufall, dass sie neben einer aus den Elendsquartieren safe.
»Ja«, brachte Sybil hervor. Rückgrat, junge Lady. »Sie sind Margaret, nicht wahr ?«
»Kommen Sie, wir gehen ein Stück. Ich habe Ihnen ein Angebot zu unterbreiten, das Ihr Leben dramatisch zum Besseren wenden wird.«
»Warum sagen Sie es mir nicht gleich hier?«
Ein Stich Ärger verdarb ihr die Erwartungsfreude. Vielleicht lag es an dem herablassenden Ton, den Margaret ihr gegenüber anschlug. Wie eine der vornehmen Ladys, die nach dem Kirchgang Almosen im Hafen verteilten, dabei aber durch einen Pulk von Knechten gegen die Berührung jeder elenden Hand abgeschirmt waren. Was wusste Margaret schon über ihr Leben? Wie kam sie dazu, anzunehmen, dass Sybil Verbesserung nötig hatte?
»Weil jeder uns sehen kann«, belehrte sie Margaret mit einer Sanftheit, als spräche sie zu einer Schachsinnigen. »Also kommen Sie, wir spazieren hinunter zur Faneuil Hall; man wird Sie einfach für meine Zofe halten.«
Sybil hatte Lust, ihr zu widersprechen. Doch der Verstand siegte; sie schluckte den Trotz hinunter und nickte.
Sie bogen in die Union Street und reihten sich ein in die Menge der Spaziergänger, die dem Hafen zustrebten.
Erst jetzt bemerkte Sybil, dass Margaret ebenso nervös war wie sie selbst. Ihr ganzer Körper wirkte angespannt. Unablässig knetete sie die Finger. Ihr Blick schweifte vor und zurück, als rechne sie mit Verfolgern. Himmel, die Frau stellte sich an, als hätte sie soeben ein Verbrechen begangen.
»Bevor ich weiterspreche, müssen Sie bei Gott schwören, dass Sie es niemandem verraten werden.«
»Von mir aus.«
»Schwören Sie.«
»Ja gut, ich schwöre.« Sie gestattete sich einen kurzen Blick zum blutfarbenen Himmel. Was konnte Margaret ihr groß verraten, das ihr Gewissen belasten würde? Abgesehen vom gemeinsamen Erzeuger, hatten ihre Leben keinerlei Berührungspunkte.
»Und denken Sie daran, wenn Sie mich hintergehen, mache ich meinen ganzen Einfluss geltend, um Ihr Leben in eine miserable, unerträgliche Hölle zu verwandeln.«
Die Drohung klang schwach aus Margarets Mund. Sybil fühlte nicht einmal das Verlangen, ihr eine Antwort darauf zu geben. Aus dem Augenwinkel musterte sie ein Plakat, das die schwarzen Bewohner des Viertels vor Sklavenfängern warnte.
»Ich mache Ihnen ein wunderbares Geschenk«, sagte Margaret. »Ich verschaffe Ihnen die Ehe mit einem begüterten Arzt, der Ihnen ein Leben als ehrbare Dame im Wohlstand erlaubt.«
Sybil war für ein paar Herzschläge zu verblüfft, um zu antworten. Dann packte sie der Zorn über die unterschwellige Beleidigung, die sie schon so oft gehört hatte, dass sie kurz davor stand, zu Madame Adelaides Salon der Lüste zu marschieren und mit Tatsachen zu untermauern, was ihr jede der sogenannten anständigen Frauen ohnehin unterstellte. Doch in den Zorn mischte sich auch Misstrauen, das zuletzt alle anderen Regungen verdrängte.
»Was sagen Sie dazu? Ist das nicht fantastisch?«
»Warum?«, fragte Sybil.
»Wir sind immerhin Halbschwestern«, plapperte Margaret. »Und es ist die Pflicht eines jeden guten Christenmenschen, den Bedürftigen zu helfen, vor allem, wenn sie vom gleichen Blut ...«
»Unsinn«, fiel Sybil ihr ins Wort. »Was ist das für eine Ehe, und was nützt sie Ihnen?«
Margaret blieb stehen, ihre Lippen ein böser, zusammengepresster Strich. Sekundenlang schien sie mit sich zu ringen. »Was ist so falsch an Nächstenliebe?«
»Gar nichts.« Sybil erwiderte stoisch den Blick. Die leuchtend seegrünen Augen gaben ihr das Gefühl, in einen Spiegel zu sehen. Einen, der dem armen Streichholzmädchen vorgaukelte, eine Prinzessin zu sein. »Erzählen Sie mir jetzt die ganze Geschichte ? Ich geh schon nicht zur Zeitung damit.«
Abrupt setzte sich Margaret wieder in Bewegung. Mit der behandschuhten Hand packte sie Sybils Arm und zog sie mit sich.
»Es ist nur so«, ihre Stimme sank fast ins Unhörbare herab, »dass Sie sich für mich ausgeben müssten. Sie gehen morgen Abend an Bord der Chaica und segeln als Margaret Tremain zu den Sandwich-Inseln, wo Ihr Verlobter, der Sie nur von Briefen und einer Daguerrotypie kennt, Sie in Empfang nehmen wird. In der Schiffskabine befinden sich ein paar Koffer mit meinen Kleidern, sodass Sie etwas anderes tragen können als diese grauenvolle Ackertracht.«
Ah, daher wehte der Wind. »Dieser wohlhabende Arzt ist also Ihr Verlobter, aber Sie wollen ihn nicht heiraten. Warum nicht ? Haben Sie herausgefunden, dass er Knaben schändet?«
»Sybil!«, entfuhr es ihrer Halbschwester. »Wie können Sie etwas so Niederträchtiges sagen?«
»Schon vergessen? Ich bin in einem Hurenhaus aufgewachsen«, gab Sybil zurück. »Was dann? Ist er bucklig und verwachsen? Oder besteht sein Reichtum aus einer Blockhütte mit löchrigem Strohdach, die von blutrünstigen Wilden belagert wird?«
»Natürlich nicht ! Der Gentleman verfügt über ausgezeichnete Referenzen.«
»Und was wird unser herzensguter und überaus großzügiger Vater dazu sagen, wenn Sie ihm eröffnen, dass Sie ihm auch weiterhin mit Ihrem extravaganten Modegeschmack auf der Tasche liegen werden?«
Ein Schnauben ging über die hübschen Lippen. »Er hat kein Recht, mir mein Leben vorzuschreiben.«
Sybil zog eine Braue hoch. »Das sieht er sicher anders. Er bezahlt immerhin Ihre Rechnungen.«
»Lucretia Mott sagt, dass es höchste Zeit für uns Frauen ist, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.<< Ein kämpferischer Ton schlich sich in Margarets Stimme, der gar nicht zu ihrem aparten Äußeren passte. »Wir dürfen die Unterdrückung unserer Rechte durch die Tyrannei der Männer nicht länger hinnehmen.<<
»Lucretia Wer ?<<
»Sagen Sie nur, Sie kennen Mrs Mott nicht!<<
»Sollte ich?<<
»Ihr Salon ist die populärste Attraktion in der Stadt. Jede Dame mit Bildung reißt sich darum, eine Einladung zum Tee bei Mrs Mott zu erhalten.<<
»Das ist sehr schön für Mrs Mott.<< Kälte und Feuchtigkeit waren in Sybils Schuhe zurückgekehrt wie vertraute Zellengenossen. Vor allem aber ärgerte sie sich darüber, dass ihre Halbschwester sie dastehen ließ wie eine tumbe Kohlensammlerin, nur weil sie nicht wusste, wer diese Dame war, die auf ihren Teekränzchen revolutionäre Reden hielt, aber keine Ahnung hatte, wie es wirklich war, wenn man sich um sich selbst kümmern musste.
»Also wollen Sie eine alte Jungfer bleiben, aus Protest gegen die Unterdrückung der Frauen?<<
»Nein!<<, entfuhr es Margaret. »Ich will einen Mann ehelichen, dem ich aus freiem Willen meine Liebe schenke.<<
Sybil musste unwillkürlich lächeln. »Also wollen Sie heimlich mit Ihrem Liebhaber durchbrennen.<<
Selbst im schwindenden Licht war nicht zu übersehen, wie Röte in die gepuderten Wangen schoss. »So, wie Sie es sagen, klingt es profan. Und das ist es nicht.<<
»Wie ist es dann?<<
»Wir lieben uns und wollen eine aufregende gemeinsame Zukunft beginnen.<<
In dem verworrenen Knoten aus Verärgerung, Argwohn und Abneigung gegen die Arroganz dieser Frau spürte Sybil einen Stich Mitleid.
»Er hat ein Haus in San Francisco erworben. Wir werden gemeinsam nach Westen reisen. Und mein Vater muss sich nicht in Sorge zerfleischen, weil er mich sicher auf der Passage nach Lahãinã glaubt. Ich heirate Darcy, und sobald sein Geschäft in San Francisco blüht und gedeiht, schreibe ich Vater und erkläre ihm den kleinen Betrug. Er wird mir verzeihen, wenn er begreift, dass es nur zu meinem Besten war.«
Unser Vater, dachte Sybil in neu aufwallendem Widerspruchsgeist. Doch sie sagte es nicht. Ihr schwirrte der Kopf von den sich auftürmenden Möglichkeiten. Chance und Risiko, so dicht beieinander. Ihre vielseitig begabte Mutter war neben vielem anderem auch eine gute Kartenspielerin gewesen. Charles Tremain, selbst leidenschaftlicher Pokerspieler, hatte das sehr imponiert. Doch nach Sybils Geburt hatte er nicht die schöne und gebildete Kokotte geheiratet, sondern die ehrbare Tochter eines Bostoner Stadtrats, die seinem Ansehen als Geschäftsmann dienlich war.
Aber Margaret konnte ja nichts für die Bigotterie ihres Vaters. Ein schwacher Trost. Das Mitleid löste sich in Luft auf und ließ einen bitteren Nachgeschmack zurück.
»Und warum will Ihr Vater Sie nicht diesen Darcy heiraten lassen?«
»Er glaubt, Darcy könne mich nicht ernähren. Aber das ist natürlich Unsinn. Er kann ihn nur nicht leiden, das ist alles. Weil Darcy den Geist der Neuen Zeit verkörpert.«
Natürlich. Margaret würde sich noch wundern, wenn ihr galanter Pfau sich als gerupftes Huhn entpuppte. Aber das konnte Sybil ja gleichgültig sein.
»Wann genau legt dieses Schiff ab?«, fragte sie.
»Also nehmen Sie mein Angebot an?«
»Wann?«
»Sie müssen morgen Abend an Bord gehen. Die Chaica läuft mit der Flut aus, ein paar Stunden nach Mitternacht.«
»Und wird man mich nicht erkennen?«
Ein listiger Ausdruck trat auf Margarets Züge. »Die Nächte werden jetzt sehr kalt. Sie tragen einen Kapuzenumhang, und Sie führen Ihr Schiffsbillet mit sich. Niemand wird unhöfliche Fragen stellen.<< Sie blieb stehen und zog einen Umschlag aus ihrem bestickten Samtbeutelchen, der dem in Sybils Mieder ähnelte. »Hier.<<
Sybil zögerte.
»Jetzt nehmen Sie es! Die Leute gaffen schon.<<
Ihre Finger zitterten, während sie sich um das Papier schmiegten. Von der Kälte, redete sie sich ein. Sie hatte Margaret ja nichts versprochen. Sie konnte sich noch einen Tag lang überlegen, ob sie auf den verrückten Handel eingehen wollte. Auf ein Schiff zu steigen und in eine Wildnis am anderen Ende des Ozeans zu segeln, ohne Garantie, dass Margarets Geschichte der Wahrheit entsprach. Was, wenn sie in eine Falle tappte und als Sklavin in den Klauen eines Menschenfresserstammes endete? Es gab Geschichten von arglosen Bürgern, die auf Schiffe gelockt und auf Nimmerwiedersehen verschleppt worden waren.
»Dieser Arzt, wie heißt er ?<<
»George Lyon.<<
Sie hatten die ganze Länge der Markthallen hinter sich gelassen und blickten hinaus auf das Gewirr von Schiffsmasten vor dem rasch dunkler werdenden Himmel. In den Bugs entzündeten die Deckwachen Laternen. Eines nach dem anderen flammten die goldenen Lichter auf.
»Er ist auf der Plantage seiner Verwandten in Maryland aufgewachsen und vor ein paar Jahren nach Maui zurückgekehrt, um den Besitz seiner Eltern zu übernehmen. Er praktiziert als Arzt in Lahãinã. Stellen Sie sich vor, ein tropischer Garten Eden. Die Wilden sind freundlich und zum christlichen Glauben bekehrt.<<
»Und warum hat er sich mit Ihnen verlobt, wenn Sie einander nicht kennen?<<
»Die Missionssiedlungen sind noch nicht lange etabliert. Es scheint, dass nicht genügend ... junge Frauen von Stand und tadellosem Ruf zur Verfügung stehen. Die Kirche bemüht sich um die Vermittlung von Ehefrauen für die Missionare auf den Sandwich-Inseln, und mein Vater ...« Sie brachte den Satz nicht zu Ende. »Ich nehme an, er hielt es für eine gute Idee, mich an George Lyon zu verheiraten. Der Oheim von Mr Lyon scheint einer seiner Geschäftspartner zu sein. Wie ich schon sagte, seine Referenzen sind exzellent.«
»Und was tue ich, wenn dieser Mr Lyon den Betrug entlarvt und sich weigert, mich zu ehelichen ?«
»Warum sollte er ?« Margarets Lächeln wurde zuckersüß. »Wir haben eine gewisse Ähnlichkeit, und mit etwas Toilette und anständiger Garderobe wird man den Unterschied in der Daguerrotypie kaum ausmachen können. Er wird er keinen Verdacht schöpfen. Außerdem haben Sie während der Überfahrt Zeit, alle Briefe zu lesen, die er mir geschickt hat. Sie können doch lesen ?«
»Sonst wäre ich nicht hier«, schnappte Sybil.
Copyright © 2013 by Andrea Gunschera
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Autoren-Porträt von Andrea Gunschera
Andrea Gunschera studierte Industriedesign und arbeitete viele Jahre in der Werbeindustrie. Sie schreibt Romane in verschiedenen Genres, auch Fantasy und Thriller. Nach etlichen Jahren in München und Los Angeles lebt und arbeitet sie nun mit ihrem Mann und drei Katzen in einem idyllischen Haus bei Berlin. Inspiration für ihre Bücher sammelt sie auf zahlreichen Reisen quer durch die Welt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Gunschera
- 2013, 419 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863658051
- ISBN-13: 9783863658052
- Erscheinungsdatum: 13.03.2013
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