Und konnten es einfach nicht fassen / Ullstein eBooks (ePub)
Geschichten aus dem Leben
»Als ich Dirk kennenlernte, in der Besucherzelle des Untersuchungsgefängnisses, hatte er schon zwei unumkehrbare Fakten geschaffen. Er hatte einer Frau das Leben genommen. Und er hatte in seinem Verhör zugegeben, dass er die Frau erst beraubt und sie dann...
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Produktinformationen zu „Und konnten es einfach nicht fassen / Ullstein eBooks (ePub)“
»Als ich Dirk kennenlernte, in der Besucherzelle des Untersuchungsgefängnisses, hatte er schon zwei unumkehrbare Fakten geschaffen. Er hatte einer Frau das Leben genommen. Und er hatte in seinem Verhör zugegeben, dass er die Frau erst beraubt und sie dann getötet hatte ...« Die Geschichten, die Familienanwältin Sabine Thomas von ihren Mandanten hört, sind so vielfältig wie das Leben selbst. Und sie könnten jedem passieren. Ehen werden geschieden, Jugendliche geraten auf die schiefe Bahn, Pläne scheitern, Illusionen zerbrechen. Davon erzählt die Anwältin, eindringlich und mitfühlend.
Lese-Probe zu „Und konnten es einfach nicht fassen / Ullstein eBooks (ePub)“
Und konnten es einfach nicht fassen von Sabine ThomasDie Liebende
Katja fuhr beschwingt nach Hause. Sie ließ alle Fenster ihres Kleinwagens herunter, drehte das Radio auf und sang aus voller Kehle sämtliche Popsongs mit. Das Leben war schön, fand sie. Es war Freitagnachmittag, hinter ihr lag eine erfüllte Woche mit ihren reizenden, wissbegierigen Schülern, die sie verehrten, vor ihr ein Schwatz mit Stefan, ihrem Mann, ebenfalls Lehrer. Am nächsten Tag würden sie Gäste haben zum Grillen. Das Wetter würde auch mitspielen, versicherte ihr der Wettermann gerade.
Katja und Stefan kannten sich schon aus der gemeinsamen Schulzeit, seit sie zehn oder elf Jahre alt waren. Jahrelang waren sie gute Freunde gewesen. Mindestens einer von ihnen war immer gerade gebunden, und so stellte sich die Frage einer Liebesbeziehung zwischen ihnen nicht. Eine Affäre kam schon gar nicht in Frage. Sie fanden einander nicht anziehend, und ihnen beiden war in Liebesdingen Treue wichtig, seelische und körperliche.
Sie studierten schon beide, als sie irgendwann einmal gleichzeitig Liebeskummer hatten. Zusammen rauchten, tranken und redeten sie die Nächte durch, hörten einander zu, trösteten sich gegenseitig. Und dann, von einem Moment zum anderen, war alles anders.
... mehr
Merkwürdig, sich in den vertrautesten Menschen zu verlieben. Eine ganz neue Art von Glück, das kannten sie vorher nicht. Und es übertraf auch alles, was sie vorher gekannt hatten. Da war dieses Wissen um den anderen von Anfang an, eine blinde Vertrautheit. Alle Erzählungen über Gewohnheiten, Meinungen und Vorlieben, das Austauschen der Autobiographien, alles das konnten sie überspringen. Nur ihre Körper kannten sie noch nicht, jedenfalls nicht so. Und das änderten sie, eifrig. Dass ihre Körper einander fremd waren, steigerte ihr Verlangen, steigerte den Genuss.
Etwas hat mein armes warmes Leben
irgendeinem in die Hand gegeben,
der nicht weiß was ich noch gestern war.
Das ist Rilke, drei Zeilen aus seinem wunderbaren Gedicht Die Liebende.
Ja, es ist geschehen! Es ist geschehen! Ich bin verliebt! In Stefan! Stefan! So vertraut ist er mir, so nah waren wir einander in all den Jahren, und plötzlich bin ich verliebt. Wie ist es nur möglich, dass ich dummes Schaf nicht sehen konnte, was direkt vor meiner Nase war?
Dass Freddy mich verlassen hat, ist plötzlich so weit weg, so unbedeutend. Soll er doch sehen, wo er bleibt. Er hat mich nicht mehr, tja, das Pech ist wohl bei ihm, obwohl er es war, der wegwollte.
Aber wir, Stefan und ich, haben einander. Und jetzt, wo wir verliebt sind, muss noch mehr Nähe her, und eine andere dazu. Nun vertrauen wir uns alles an, ohne Rückhalt, auch Dinge, die uns ganz im Inneren bewegen. Alles, was wir sogar Freunden nicht verraten. Verrückte Träume, Unzulänglichkeiten, Albernheiten und auch Peinlichkeiten. Alles können wir nun vertrauensvoll erzählen und ausbreiten, das ist eine ganz neue Form von Intimität, so kannte ich das bislang nicht. Und das Tollste: Es ändert nichts an unserem Respekt voreinander. Wir wissen, dass jeder noch sein letztes Geheimnis wahrt und wahren kann und wahren darf. Das gehört ja auch zum gegenseitigen Respekt. Ich fühle mich sehr sicher in dieser respektvollen Intimität.
Und ich lese wieder Rilke. Die ergreifenden Liebesgedichte natürlich - was auch sonst? Vor allem das Liebeslied:
Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ich muss fast weinen, wenn ich das lese. Na ja, ich glaube, damit könnte ich Stefan bei aller Liebe nicht kommen. Emotionaler Overkill, nicht gerade das, was er zu schätzen weiß. Aber ich:
O süßes Lied.
Sie heirateten und zogen in Stefans Elternhaus, das kannte Katja schon gut aus ihrer Schülerzeit, sie hatte ihn oft dort besucht. Stefans Vater war gestorben, und seine Mutter, Helga, lebte im Erdgeschoss. Katja mochte Helga. Sie fand, dass Helga eine herzliche und bodenständige Frau war. Helga begrüßte die Entscheidung ihres Sohnes für Katja sehr. Sie hatte sich immer jemanden wie Katja als Schwiegertochter gewünscht. Zum Glück für alle Beteiligten war sie vernünftig genug, die jungen Leute schalten und walten zu lassen, wie es ihnen beliebte. Im Grunde sahen Katja und Stefan sie nur, wenn sie sie einluden. Wie am Tag der Grillparty. Da wollten sie mit Freunden feiern, dass sie ein Jahr verheiratet waren.
Katja und Stefan - wie schön das klingt, und wie richtig!
Kindisch, irgendwie, aber als ich heute nach der Schule die Treppen zur Wohnung hochgestiegen bin, kam ich wirklich wie ein Kind ins Hüpfen und habe das bei jeder Stufe vor mich hin gesungen. Katja - Stefan - Katja - Stefan. Stefan war schon da. Er stand in der Küche und bereitete Barbecue-Saucen vor, das hat mich richtig gerührt. Er kocht ja sonst nicht gern, aber die selbstgemachten Saucen sind sein ganzer Stolz, nie lässt er es sich nehmen, die selbst zu machen. Ach, und dann: auf ihn zuzutreten und ihn von hinten zu umarmen, mein Gesicht an seinem Rücken, einen seligen Moment lang seine Wärme und seinen Geruch zu genießen - und dann drehte er sich um, schloss mich in seine Arme und legte sein Gesicht auf meinen Scheitel. So soll es bleiben, dachte ich, in Stefan, in unserer Liebe habe ich das Allerwichtigste im Leben. Und - ich muss es wohl zugeben - ich dachte sogar: Jetzt sterben, in diesem vollkommenen Augenblick, das wär's. Na ja, statt zu sterben machte ich mich doch lieber erst mal an die Salatvorbereitungen, und wir tauschten Schulklatsch und -tratsch aus. Wie ich das liebe! Und morgen feiern wir Hochzeitstag mit allen, die uns nahestehen. Das Leben ist so schön!
Katja war eine Schönheit auf den zweiten Blick. Sie hatte das etwas zu längliche, blasse Gesicht, wie man es auf mittelalterlichen Porträts englischer Edelfräulein findet, mit einem herzförmigen, vollen Mund und aufmerksam blickenden Augen, deren Blaugrün an die Lagunen der englischen Südküste erinnerte. Ihr Gesicht war umrahmt von kinnlangem, welligem Haar in der Farbe von Haselnussschalen, fransig ins Gesicht gezogen. Auch ihre gemessenen Bewegungen und die aufrechte Haltung waren die eines Edelfräuleins. Sie hatte das Talent, glücklich zu sein, ihre Ausstrahlung war nahezu immer positiv, ihre Lebenshaltung sowieso, und sie ging unbefangen auf alle Menschen zu und fand an jedem etwas Gutes. Es gab Leute, die sie deswegen für oberflächlich hielten.
Stefan war der Typ hagerer Intellektueller, hohe Stirn, stetig höher werdend, Haar von undefinierbarer Farbe, schmale Lippen, Brille. Wie Katja lachte er gern, aber sein Humor hatte immer etwas Bissiges, zuweilen Abwertendes. Ironie lag ihm mehr als der gutmütige Humor, mit dem Katja das Leben nahm. Ging es um ein rasches Urteil, war Lästern eher seine Sache als ihre. Wenn er aber etwas ernsthaft beurteilen wollte, wägte er erst einmal sorgfältig ab und sagte bis dahin nicht viel. Was er anschließend verkündete, war dann auch meistens seine endgültige Meinung und wirkte immer wohl durchdacht. Die Leute hielten ihn für hochgebildet und differenziert.
In Wirklichkeit war Katja weitaus gebildeter und differenzierter als Stefan. Sie hatte Philosophie, Geschichte und Latein studiert, und das sehr gründlich. Sie konnte die Wesensart aller Menschen, denen sie begegnete, sehr rasch erfassen. Sie war allerdings nicht bereit, das andauernd nach außen zu kehren. Jede Art von Show lag ihr nicht. Vor allem wollte sie nicht, dass ihr Wissen und ihr ausgeprägtes Urteilsvermögen irgendetwas an ihrer aufgeschlossenen Haltung oder an ihrem wohlwollenden Menschen- und Weltbild änderten.
Stefan war Naturwissenschaftler, Mathematik und Geographie, ein brillanter Geist, der sich aber am liebsten in abstrakte Theoriegebäude verstieg und sich nicht sonderlich für Menschen interessierte. Gemeinsam war ihnen die Leidenschaft für Literatur, ihr Herangehen allerdings denkbar unterschiedlich. Stefan las analytisch. Für ihn war Literatur ein Mittel, die Welt geistig zu durchdringen und zu enträtseln. Katja ließ sich in einen Text hineinziehen, ging völlig darin auf, lebte förmlich darin.
Hätte man Stefan gefragt, warum er Katja liebte, er hätte zuerst ihre eigenartige Schönheit genannt und dann ihre Bildung - gute Impulse für die gemeinsamen Gespräche gingen davon aus. Und ihren frischen, optimistischen Zugriff auf ihr eigenes und das gemeinsame Leben samt aller Widrigkeiten und schließlich ihren herzlichen, unvoreingenommenen Umgang mit allen, denen sie begegnete. Stefan konnte in ihrem Fahrwasser die spannendsten Kontakte knüpfen, das verdankte er ihrer Leichtigkeit. Und, ach ja, sie hatte eine geradezu treuherzige Art, sich auf einen Menschen zu verlassen, auch auf ihn.
Aus Katjas Tagebuch:
Er ist so gradlinig und treu. Auch sich selbst gegenüber. Und was mich betrifft sowieso. Ich langweile mich nie mit ihm. Seine ironischen Bemerkungen zu diesem und jenem sind so amüsant! Aber das Beste: Ich kenne keinen Menschen, der so fest in seinen Überzeugungen ist, so treu in seinen Zu- und Abneigungen und so verlässlich wie er. Er fühlt sich durch mich inspiriert, ich fühle mich durch ihn geerdet. Das ist es, was wir aneinander haben, das eigentliche Band zwischen uns. Das wird nie reißen, undenkbar.
Alle, die zum Grillfest kamen, freuten sich an der Herzlichkeit, mit der Katja und Stefan sie empfingen, und an der heiteren Atmosphäre ihres Hauses, die das Glück seiner Bewohner widerspiegelte.
Grillen war, genau wie das Zubereiten der Barbecue- Saucen, Männersache. Ehrensache!, wie Katja anmerkte. Der Grill wollte nicht so, wie Stefan wollte, selbst dann nicht, als er - vorsichtig - mit einer Kelle Spiritus dazugoss. Helga, seine Mutter, warnte ihn noch: Hinter dem Grill stand das Gartenhäuschen, aus altem, trockenem Holz, Stefans Vater hatte es vor vielen Jahren gebaut. Fett troff in die Glut. Der Grill entzündete sich und stand in Flammen. Katja, beherzt wie immer, sprang hinzu, um Lara, das vierjährige Kind ihrer besten Freundin Antje, vom Grill wegzuziehen. Helga, in Panik, schüttete Mineralwasser in den Grill. Die Verpuffung trieb das Feuer fauchend, im Bruchteil einer Sekunde, unten in die Breite und jagte eine meterhohe Feuersäule nach oben. Das Feuer verbrannte Lara. Es verbrannte Katjas Gesicht und Oberkörper. Und die Hand, mit der sie nach Lara gegriffen hatte. Antjes wilder Aufschrei übertönte den von Katja. Deren Klagelaut geriet nur zu einem heiseren Röcheln aus versengter Kehle, bevor sie das Bewusstsein verlor.
Der Schmerz war unmenschlich, ein wütendes, giftiges, bissiges, alle anderen Empfindungen zerschmetterndes Ungeheuer, nur mit Morphium einigermaßen im Zaum zu halten. Man hatte Katja tagelang im künstlichen Koma gehalten. Man hatte Eigenhaut von anderen Stellen ihres Körpers transplantiert. Man hatte alle Spiegel aus ihrer Nähe entfernt. Was sie gesehen hätte, wenn man sie gelassen hätte, wäre ein groteskes Zerrbild ihrer früheren Erscheinung gewesen.
Die Nase war zur Hälfte verkohlt, das Gewebe war abgestorben. Was erhalten geblieben war, ähnelte einer Mopsnase. Auch die Lider des rechten Auges waren verkürzt, kullerrund schaute das Auge dazwischen hervor, was Katjas Blick den Anschein erstaunter Aufmerksamkeit verlieh, jedenfalls auf der rechten Seite. In Wirklichkeit konnte sie nur noch verschwommen sehen, die Hornhaut war beschädigt. Die Flammen hatten die rechte Hälfte ihrer Lippen teilweise verzehrt, so dass es aussah, als bleckte sie mit schiefem Mund die Zähne. Die Haare waren auf der rechten Kopfseite vollständig verbrannt, mitsamt der Kopfhaut. Die Haut über Gesicht, Brustkorb und rechtem Unterarm war fleckig, dunkelrot-weißlich. Verschorft. Die rechte Hand war zusammengeschmort, eine nutzlose, gekrümmte Kralle. Und ununterbrochen hielt der Schmerz, ihr Ungeheuer, sie gepackt und riss an ihr, riss große Brocken Fleisch aus ihr heraus, fraß von ihr wie vorher das Feuer.
Ihre Eltern, die sofort an ihr Bett geeilt waren, weinten stumme Tränen, als sie sie das erste Mal ohne Verband sahen. Ohne dass sie es sich und einander einzugestehen vermochten, stieg aus dem dunkelsten Grund ihrer Seele, unversehens und bevor sie ihn unterdrücken konnten, der Gedanke nach oben, dass ihre Tochter, ihre so schöne, edle Tochter, besser das Schicksal von Lara geteilt hätte, die es nicht geschafft hatte. Nachdem sie jedoch ihr panisches Entsetzen niedergekämpft hatten oder zumindest mit sich allein abzumachen in der Lage waren, wurden sie unentbehrliche Helfer für Katja, für das Krankenhauspersonal und, ja, auch für Stefan. Sie nahmen, um ihrer Tochter nahe zu sein, den Pflegern jede erdenkliche Handreichung ab und versorgten Katja mit derselben selbstlosen, liebevollen Hingabe wie neunundzwanzig Jahre zuvor den Säugling Katja, Katinka. Sie riefen, wenn Katja wimmerte, nach Schmerzmitteln, sie wuschen sie, betteten sie und fütterten sie, sobald sie wieder schlucken konnte.
© Ullstein Verlag
Merkwürdig, sich in den vertrautesten Menschen zu verlieben. Eine ganz neue Art von Glück, das kannten sie vorher nicht. Und es übertraf auch alles, was sie vorher gekannt hatten. Da war dieses Wissen um den anderen von Anfang an, eine blinde Vertrautheit. Alle Erzählungen über Gewohnheiten, Meinungen und Vorlieben, das Austauschen der Autobiographien, alles das konnten sie überspringen. Nur ihre Körper kannten sie noch nicht, jedenfalls nicht so. Und das änderten sie, eifrig. Dass ihre Körper einander fremd waren, steigerte ihr Verlangen, steigerte den Genuss.
Etwas hat mein armes warmes Leben
irgendeinem in die Hand gegeben,
der nicht weiß was ich noch gestern war.
Das ist Rilke, drei Zeilen aus seinem wunderbaren Gedicht Die Liebende.
Ja, es ist geschehen! Es ist geschehen! Ich bin verliebt! In Stefan! Stefan! So vertraut ist er mir, so nah waren wir einander in all den Jahren, und plötzlich bin ich verliebt. Wie ist es nur möglich, dass ich dummes Schaf nicht sehen konnte, was direkt vor meiner Nase war?
Dass Freddy mich verlassen hat, ist plötzlich so weit weg, so unbedeutend. Soll er doch sehen, wo er bleibt. Er hat mich nicht mehr, tja, das Pech ist wohl bei ihm, obwohl er es war, der wegwollte.
Aber wir, Stefan und ich, haben einander. Und jetzt, wo wir verliebt sind, muss noch mehr Nähe her, und eine andere dazu. Nun vertrauen wir uns alles an, ohne Rückhalt, auch Dinge, die uns ganz im Inneren bewegen. Alles, was wir sogar Freunden nicht verraten. Verrückte Träume, Unzulänglichkeiten, Albernheiten und auch Peinlichkeiten. Alles können wir nun vertrauensvoll erzählen und ausbreiten, das ist eine ganz neue Form von Intimität, so kannte ich das bislang nicht. Und das Tollste: Es ändert nichts an unserem Respekt voreinander. Wir wissen, dass jeder noch sein letztes Geheimnis wahrt und wahren kann und wahren darf. Das gehört ja auch zum gegenseitigen Respekt. Ich fühle mich sehr sicher in dieser respektvollen Intimität.
Und ich lese wieder Rilke. Die ergreifenden Liebesgedichte natürlich - was auch sonst? Vor allem das Liebeslied:
Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ich muss fast weinen, wenn ich das lese. Na ja, ich glaube, damit könnte ich Stefan bei aller Liebe nicht kommen. Emotionaler Overkill, nicht gerade das, was er zu schätzen weiß. Aber ich:
O süßes Lied.
Sie heirateten und zogen in Stefans Elternhaus, das kannte Katja schon gut aus ihrer Schülerzeit, sie hatte ihn oft dort besucht. Stefans Vater war gestorben, und seine Mutter, Helga, lebte im Erdgeschoss. Katja mochte Helga. Sie fand, dass Helga eine herzliche und bodenständige Frau war. Helga begrüßte die Entscheidung ihres Sohnes für Katja sehr. Sie hatte sich immer jemanden wie Katja als Schwiegertochter gewünscht. Zum Glück für alle Beteiligten war sie vernünftig genug, die jungen Leute schalten und walten zu lassen, wie es ihnen beliebte. Im Grunde sahen Katja und Stefan sie nur, wenn sie sie einluden. Wie am Tag der Grillparty. Da wollten sie mit Freunden feiern, dass sie ein Jahr verheiratet waren.
Katja und Stefan - wie schön das klingt, und wie richtig!
Kindisch, irgendwie, aber als ich heute nach der Schule die Treppen zur Wohnung hochgestiegen bin, kam ich wirklich wie ein Kind ins Hüpfen und habe das bei jeder Stufe vor mich hin gesungen. Katja - Stefan - Katja - Stefan. Stefan war schon da. Er stand in der Küche und bereitete Barbecue-Saucen vor, das hat mich richtig gerührt. Er kocht ja sonst nicht gern, aber die selbstgemachten Saucen sind sein ganzer Stolz, nie lässt er es sich nehmen, die selbst zu machen. Ach, und dann: auf ihn zuzutreten und ihn von hinten zu umarmen, mein Gesicht an seinem Rücken, einen seligen Moment lang seine Wärme und seinen Geruch zu genießen - und dann drehte er sich um, schloss mich in seine Arme und legte sein Gesicht auf meinen Scheitel. So soll es bleiben, dachte ich, in Stefan, in unserer Liebe habe ich das Allerwichtigste im Leben. Und - ich muss es wohl zugeben - ich dachte sogar: Jetzt sterben, in diesem vollkommenen Augenblick, das wär's. Na ja, statt zu sterben machte ich mich doch lieber erst mal an die Salatvorbereitungen, und wir tauschten Schulklatsch und -tratsch aus. Wie ich das liebe! Und morgen feiern wir Hochzeitstag mit allen, die uns nahestehen. Das Leben ist so schön!
Katja war eine Schönheit auf den zweiten Blick. Sie hatte das etwas zu längliche, blasse Gesicht, wie man es auf mittelalterlichen Porträts englischer Edelfräulein findet, mit einem herzförmigen, vollen Mund und aufmerksam blickenden Augen, deren Blaugrün an die Lagunen der englischen Südküste erinnerte. Ihr Gesicht war umrahmt von kinnlangem, welligem Haar in der Farbe von Haselnussschalen, fransig ins Gesicht gezogen. Auch ihre gemessenen Bewegungen und die aufrechte Haltung waren die eines Edelfräuleins. Sie hatte das Talent, glücklich zu sein, ihre Ausstrahlung war nahezu immer positiv, ihre Lebenshaltung sowieso, und sie ging unbefangen auf alle Menschen zu und fand an jedem etwas Gutes. Es gab Leute, die sie deswegen für oberflächlich hielten.
Stefan war der Typ hagerer Intellektueller, hohe Stirn, stetig höher werdend, Haar von undefinierbarer Farbe, schmale Lippen, Brille. Wie Katja lachte er gern, aber sein Humor hatte immer etwas Bissiges, zuweilen Abwertendes. Ironie lag ihm mehr als der gutmütige Humor, mit dem Katja das Leben nahm. Ging es um ein rasches Urteil, war Lästern eher seine Sache als ihre. Wenn er aber etwas ernsthaft beurteilen wollte, wägte er erst einmal sorgfältig ab und sagte bis dahin nicht viel. Was er anschließend verkündete, war dann auch meistens seine endgültige Meinung und wirkte immer wohl durchdacht. Die Leute hielten ihn für hochgebildet und differenziert.
In Wirklichkeit war Katja weitaus gebildeter und differenzierter als Stefan. Sie hatte Philosophie, Geschichte und Latein studiert, und das sehr gründlich. Sie konnte die Wesensart aller Menschen, denen sie begegnete, sehr rasch erfassen. Sie war allerdings nicht bereit, das andauernd nach außen zu kehren. Jede Art von Show lag ihr nicht. Vor allem wollte sie nicht, dass ihr Wissen und ihr ausgeprägtes Urteilsvermögen irgendetwas an ihrer aufgeschlossenen Haltung oder an ihrem wohlwollenden Menschen- und Weltbild änderten.
Stefan war Naturwissenschaftler, Mathematik und Geographie, ein brillanter Geist, der sich aber am liebsten in abstrakte Theoriegebäude verstieg und sich nicht sonderlich für Menschen interessierte. Gemeinsam war ihnen die Leidenschaft für Literatur, ihr Herangehen allerdings denkbar unterschiedlich. Stefan las analytisch. Für ihn war Literatur ein Mittel, die Welt geistig zu durchdringen und zu enträtseln. Katja ließ sich in einen Text hineinziehen, ging völlig darin auf, lebte förmlich darin.
Hätte man Stefan gefragt, warum er Katja liebte, er hätte zuerst ihre eigenartige Schönheit genannt und dann ihre Bildung - gute Impulse für die gemeinsamen Gespräche gingen davon aus. Und ihren frischen, optimistischen Zugriff auf ihr eigenes und das gemeinsame Leben samt aller Widrigkeiten und schließlich ihren herzlichen, unvoreingenommenen Umgang mit allen, denen sie begegnete. Stefan konnte in ihrem Fahrwasser die spannendsten Kontakte knüpfen, das verdankte er ihrer Leichtigkeit. Und, ach ja, sie hatte eine geradezu treuherzige Art, sich auf einen Menschen zu verlassen, auch auf ihn.
Aus Katjas Tagebuch:
Er ist so gradlinig und treu. Auch sich selbst gegenüber. Und was mich betrifft sowieso. Ich langweile mich nie mit ihm. Seine ironischen Bemerkungen zu diesem und jenem sind so amüsant! Aber das Beste: Ich kenne keinen Menschen, der so fest in seinen Überzeugungen ist, so treu in seinen Zu- und Abneigungen und so verlässlich wie er. Er fühlt sich durch mich inspiriert, ich fühle mich durch ihn geerdet. Das ist es, was wir aneinander haben, das eigentliche Band zwischen uns. Das wird nie reißen, undenkbar.
Alle, die zum Grillfest kamen, freuten sich an der Herzlichkeit, mit der Katja und Stefan sie empfingen, und an der heiteren Atmosphäre ihres Hauses, die das Glück seiner Bewohner widerspiegelte.
Grillen war, genau wie das Zubereiten der Barbecue- Saucen, Männersache. Ehrensache!, wie Katja anmerkte. Der Grill wollte nicht so, wie Stefan wollte, selbst dann nicht, als er - vorsichtig - mit einer Kelle Spiritus dazugoss. Helga, seine Mutter, warnte ihn noch: Hinter dem Grill stand das Gartenhäuschen, aus altem, trockenem Holz, Stefans Vater hatte es vor vielen Jahren gebaut. Fett troff in die Glut. Der Grill entzündete sich und stand in Flammen. Katja, beherzt wie immer, sprang hinzu, um Lara, das vierjährige Kind ihrer besten Freundin Antje, vom Grill wegzuziehen. Helga, in Panik, schüttete Mineralwasser in den Grill. Die Verpuffung trieb das Feuer fauchend, im Bruchteil einer Sekunde, unten in die Breite und jagte eine meterhohe Feuersäule nach oben. Das Feuer verbrannte Lara. Es verbrannte Katjas Gesicht und Oberkörper. Und die Hand, mit der sie nach Lara gegriffen hatte. Antjes wilder Aufschrei übertönte den von Katja. Deren Klagelaut geriet nur zu einem heiseren Röcheln aus versengter Kehle, bevor sie das Bewusstsein verlor.
Der Schmerz war unmenschlich, ein wütendes, giftiges, bissiges, alle anderen Empfindungen zerschmetterndes Ungeheuer, nur mit Morphium einigermaßen im Zaum zu halten. Man hatte Katja tagelang im künstlichen Koma gehalten. Man hatte Eigenhaut von anderen Stellen ihres Körpers transplantiert. Man hatte alle Spiegel aus ihrer Nähe entfernt. Was sie gesehen hätte, wenn man sie gelassen hätte, wäre ein groteskes Zerrbild ihrer früheren Erscheinung gewesen.
Die Nase war zur Hälfte verkohlt, das Gewebe war abgestorben. Was erhalten geblieben war, ähnelte einer Mopsnase. Auch die Lider des rechten Auges waren verkürzt, kullerrund schaute das Auge dazwischen hervor, was Katjas Blick den Anschein erstaunter Aufmerksamkeit verlieh, jedenfalls auf der rechten Seite. In Wirklichkeit konnte sie nur noch verschwommen sehen, die Hornhaut war beschädigt. Die Flammen hatten die rechte Hälfte ihrer Lippen teilweise verzehrt, so dass es aussah, als bleckte sie mit schiefem Mund die Zähne. Die Haare waren auf der rechten Kopfseite vollständig verbrannt, mitsamt der Kopfhaut. Die Haut über Gesicht, Brustkorb und rechtem Unterarm war fleckig, dunkelrot-weißlich. Verschorft. Die rechte Hand war zusammengeschmort, eine nutzlose, gekrümmte Kralle. Und ununterbrochen hielt der Schmerz, ihr Ungeheuer, sie gepackt und riss an ihr, riss große Brocken Fleisch aus ihr heraus, fraß von ihr wie vorher das Feuer.
Ihre Eltern, die sofort an ihr Bett geeilt waren, weinten stumme Tränen, als sie sie das erste Mal ohne Verband sahen. Ohne dass sie es sich und einander einzugestehen vermochten, stieg aus dem dunkelsten Grund ihrer Seele, unversehens und bevor sie ihn unterdrücken konnten, der Gedanke nach oben, dass ihre Tochter, ihre so schöne, edle Tochter, besser das Schicksal von Lara geteilt hätte, die es nicht geschafft hatte. Nachdem sie jedoch ihr panisches Entsetzen niedergekämpft hatten oder zumindest mit sich allein abzumachen in der Lage waren, wurden sie unentbehrliche Helfer für Katja, für das Krankenhauspersonal und, ja, auch für Stefan. Sie nahmen, um ihrer Tochter nahe zu sein, den Pflegern jede erdenkliche Handreichung ab und versorgten Katja mit derselben selbstlosen, liebevollen Hingabe wie neunundzwanzig Jahre zuvor den Säugling Katja, Katinka. Sie riefen, wenn Katja wimmerte, nach Schmerzmitteln, sie wuschen sie, betteten sie und fütterten sie, sobald sie wieder schlucken konnte.
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Autoren-Porträt von Sabine Thomas
Sabine Thomas, Jahrgang 1955, ist seit 1984 als Rechtsanwältin tätig. Sie ist Fachanwältin für Familienrecht und lebt und arbeitet in Duisburg. Und konnten es einfach nicht fassen ist ihre erste Prosaveröffentlichung.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sabine Thomas
- 2013, 1. Auflage, 240 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843706298
- ISBN-13: 9783843706292
- Erscheinungsdatum: 13.09.2013
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 0.64 MB
- Ohne Kopierschutz
Pressezitat
"...wahre Geschichten, die das Leben schrieb, in schöner Sprache, so gar nicht juristentypisch trocken.", Ruhr Nachrichten, 20.10.2013
Family Sharing
eBooks und Audiobooks (Hörbuch-Downloads) mit der Familie teilen und gemeinsam genießen. Mehr Infos hier.
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