Verwüstung (ePub)
Der Hurrikan Danielle nimmt Kurs auf die Küste Floridas. Während Tausende Tango Key fluchtartig verlassen, gelingt es drei Schwerkriminellen, aus dem Gefängnis auszubrechen. Nun sind sie auf der Suche nach einem Versteck...
Mira Morales hat alle Maßnahmen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Verwüstung (ePub)“
Der Hurrikan Danielle nimmt Kurs auf die Küste Floridas. Während Tausende Tango Key fluchtartig verlassen, gelingt es drei Schwerkriminellen, aus dem Gefängnis auszubrechen. Nun sind sie auf der Suche nach einem Versteck...
Mira Morales hat alle Maßnahmen ergriffen, um ihr Haus vor dem Sturm zu schützen. Ohne Strom und Telefon sind sie, ihre Tochter Annie und ihre Großmutter Nadine von der Außenwelt abgeschnitten. Der perfekte Ort also für die Flüchtigen. Für Mira, die aufgrund ihrer paranormalen Fähigkeiten ins Visier der Verbrecher geraten ist, beginnt ein Kampf um Leben und Tod.
Mira Morales hat alle Maßnahmen ergriffen, um ihr Haus vor dem Sturm zu schützen. Ohne Strom und Telefon sind sie, ihre Tochter Annie und ihre Großmutter Nadine von der Außenwelt abgeschnitten. Der perfekte Ort also für die Flüchtigen. Für Mira, die aufgrund ihrer paranormalen Fähigkeiten ins Visier der Verbrecher geraten ist, beginnt ein Kampf um Leben und Tod.
Lese-Probe zu „Verwüstung (ePub)“
Verwüstung von T.J. MacGregor Aus dem Amerikanischen von Ulrich Hoffmann
Auf der Saffir-Simpson-Hurrikan-Skala werden Hurrikans
nach Windgeschwindigkeit klassifiziert:
Kategorie 1: 119.153 km/h
Kategorie 2: 154.177 km/h
Kategorie 3: 178.209 km/h
Kategorie 4: 210.249 km/h
Kategorie 5:> 250 km/h
Im 20. Jahrhundert gab es nur drei Hurrikans der
Kategorie 5: den Labor-Day-Hurrikan im Jahr 1935,
Hurrikan Camille 1969 und Hurrikan Andrew 1992.
Prolog
21. Juni, 01:38 Uhr
Billy Joe Franklin liebte die Dunkelheit. Schon immer. Er
konnte sie um sich schlingen wie einen Zaubermantel, der
ihm magische Kräfte verlieh, oder er konnte sich hineinfallen
lassen und verschwinden, so wie jetzt.
Er stand allein auf dem Oberdeck der Fähre nach Tango
Key, ein groß gewachsener, muskulöser Mann in Jeans, einem
schwarzen T-Shirt, und er hatte ein schwarzes Käppi tief
in die Stirn gezogen. Schwarz war seine Lieblingsfarbe. Im
Moment war sogar sein Haar schwarz, außerdem war es lang,
er trug einen Pferdeschwanz. Man konnte in die Schwärze
projizieren, was man wollte, dachte er, und oft wünschte er
sich, als Schwarzer geboren worden zu sein.
Er starrte über das unruhige dunkle Wasser auf die Lichter
der Insel in der Ferne, ein Festival der Lichter, ein Wunderland,
ein schlafendes Paradies. Er nahm alles in sich auf, das
Versprechen und die wunderbare Schönheit. In Kürze würde
er auf diese Insel herniederfahren und sie wie ein wütender,
rachsüchtiger Gott ins Chaos stürzen.
... mehr
Hinter ihm weinte ein Baby. Links von ihm schmiegte sich
ein Pärchen aneinander, die Arme umeinander gelegt. Direkt
hinter ihm befand sich die Treppe zum Unterdeck der Fähre,
wo die Kinderwagen standen, die Fahrräder, die Autos. Der
aufgerüstete schwarze Hummer wartete dort unten auf ihn,
ein Wagen für über hundert Riesen, der mehr als drei Tonnen
wog, und für die Aufgabe, die vor ihm lag, mehr als geeignet
war. Ein paar Straßen vom Endziel des Hummers entfernt, in
einem Parkhaus, wo auch Anwohner ihre Wagen über Nacht
abstellten, befand sich ein unscheinbarer, schwarzer Lieferwagen
mit Blenden, wo die hinteren Fenster sein sollten. Damit
würden er und Crystal zu seiner Hütte im Naturschutzgebiet
auf Tango fahren.
In der Hütte gab es genug Essen und Ausrüstung, um
einen Monat durchzuhalten, wenn sie vorsichtig vorgingen.
Er hatte sorgfältig geplant. Er war sich seiner Sache sicher. Er
war wie Wasser, das Element, das die Form des Gefäßes annahm,
in das man es goss. Aber ohne Crystal war er bloß ein
Gefäß halb voll mit dreckigem, unreinem Wasser. Er brauchte
sie. Und für sie, für sie beide, würde sein Gefäß heute Nacht
erfolgreicher Geschäftsmann heißen, so würde er aussehen,
wenn er sich ans Steuer des Hummers setzte.
Sterne blitzten zwischen den schnell dahinziehenden
Wolken auf. Vorhin hatte er sich Sorgen um den Hurrikan
Danielle gemacht, sechshundertfünfzig Kilometer draußen
über dem Atlantik. Eine Front, die aus dem Norden herunterzog,
hatte den Hurrikan nach Süden gedrängt, sie hielt ihn
auf den Koordinaten, die ihn ans südliche Ende Kubas führen
würden. Danielle würde an den Keys und an der Südspitze
der Halbinsel Florida komplett vorüberziehen. Doch die
Front könnte sich abschwächen, was hieße, dass Danielle
möglicherweise nach Norden driftete.
Und deswegen würde das National Hurricane Center
wahrscheinlich kurz nach Sonnenaufgang eine Hurrikan-
Vorwarnung für Monroe, Dade, Broward und Palm Beach
County ausgeben - also für alles von den Keys bis fünfhundert
Kilometer nördlich. Wenn es so weit kam und wenn
die Front sich weiter abschwächte, würde das Center die
Vorwarnung irgendwann morgen zu einer Warnung hochstufen.
Aber das war ihm so oder so egal. Crystal und er wären
in der Hütte sicher, selbst wenn ein Hurrikan käme. Auch sie
war Wasser, und gemeinsam würden sie zum Amazonas
werden, zum Nil oder sogar zum Pazifik. Es würde ihnen gut
gehen im zwölf Meter tiefen Keller der Hütte. Er war gut aus-
gerüstet und hatte ausreichend Geld dort versteckt, um jede
unvorhersehbare Eventualität abzudecken.
Und selbst wenn eine Warnung ausgegeben würde, hieß
das nicht, dass Danielle Tango Key erreichen würde. Das
Center war normalerweise eher vorsichtig.
Er wusste alles über die Vorsichtsmaßnahmen des Centers.
Bis vor fünf Jahren war er einer der Meteorologen dort
gewesen, ein Beta-Mann hinter den Kulissen mit einem
telegenen Gesicht und einer Stimme, die samtig war wie alter
Scotch. Damals hatte er blondes Haar gehabt und ein
Pepsodent-weißes Lächeln, er hätte eigentlich vor der Kamera
stehen sollen. Doch als er die Beförderung, die ihm zustand,
nicht erhielt, flippte er aus und machte eine Szene. Er wurde
gefeuert. Im Center misstraute man psychischer Instabilität
bei Angestellten genauso sehr wie der Instabilität von
Stürmen. Ende der Geschichte.
Zwölf Jahre Arbeit, Gott allein wusste, wie viele Hurrikans,
und plötzlich war er weg, arbeitslos, Vergangenheit. Das hatte
ihn bitter werden lassen. Seine Bitterkeit wurzelte so tief in
ihm, dass er sich gezwungen gesehen hatte, sein äußeres Erscheinungsbild
zu verändern. Er trug jetzt Kontaktlinsen statt
einer Brille und hatte einen sorgsam gestutzten Bart. Sein
Körper war muskulös, schlank, kräftig, geformt durch endlose
Stunden im Fitness-Center. Und natürlich war sein Haar
anders. Er hatte sich in das Gefäß namens Dunkelheit gefüllt
und war zur Nacht geworden. Der Billy Joe von heute konnte
es sich leisten, hundert Riesen für eine Hummer-Sonderanfertigung
hinzulegen. Dieser Billy Joe, dachte er, konnte sich
den Luxus leisten, den ihm fünf Millionen aus einem Bundesbankraub
erlaubten. Dummerweise hatten Crystal und er die
Sache tagsüber durchgezogen, und etwas war schiefgelaufen.
Sie war einkassiert worden, er war entkommen.
Aber er würde jetzt nicht über sie nachdenken. Stattdessen
würde er zu Wasser werden und sich in das nächste Gefäß
ergießen und die Form dieses Gefäßes annehmen.
Die Fähre begann zu verlangsamen, als sie sich der Insel
näherte. Aus der Luft oder auf einer Karte sah Tango Key aus
wie ein deformierter Katzenkopf, das rechte Ohr war ein
Naturschutzgebiet, das sich bis auf die Wange der Katze und
über einen Teil ihrer Stirn erstreckte. Die Stadt Pirate's Cove
befand sich direkt zwischen den Augen der Katze, und alles
andere oberhalb der Augen bis zum linken Ohr der Katze war
voll kleiner Wohnhäuser und Geschäftsgebäude. Die Nordseite
der Insel war hügelig, dort befanden sich Felder, alte
Bauernhöfe, Haine mit Zitrusfrüchten. Die höchste Stelle -
33,5 Meter ganz genau - lag ebenfalls im Norden. Die gesamte
Insel war eine geologische Eigenart, eine Anomalie in einer
gebogenen Kette flacher Inseln, die sich ungestraft in die
Weite des Meeres zog. Komm doch, schienen diese kleinen
Inseln zu rufen. Komm schon, wag es doch. Tango Key war der
einzige Bereich der Keys und des gesamten Südens der Halbinsel
Florida mit Hügeln.
Die Fähre brachte ihn an eine Stelle knapp unterhalb der
Katzenschnauze, wo die Küste sich ins Inselinnere krümmte
und einen natürlichen Hafen bildete.
Deutlich unterhalb der Schnauze, wo das Land so flach
wie eine Briefmarke war, lag das Städtchen Tango, in dem
sich die Behörden, Anwälte, Ärzte, die üblichen Geschäftsleute
und das Gefängnis befanden. Dutzende kleine Geschäfte
in Familienbesitz verbargen sich in einem Labyrinth
von schmalen, schattigen Straßen, von denen manche noch
mit dem Kopfsteinpflaster befestigt waren, das um 1700 hier
verbaut worden war.
Franklin setzte seinen Rucksack auf. Er hatte eine Menge
Kohle darin. Abgesehen von dem Bargeld in der Hütte im
Naturschutzgebiet hatte er noch Geld auf den Bahamas und
bei einer Schweizer Bank. Er hatte gut zu tun gehabt, war
effizient gewesen, gründlich.
Er ging hinunter auf das Autodeck zu seinem Hummer.
Er liebte die Wucht dieses Fahrzeugs, den Duft des neuen,
schwarzen Leders, die Art, wie seine Hände das Steuer umfassten.
Ein erotisches Gefühl. So sah er den Hummer.
Zusätzlich zu dem massiven Kuhfänger vorne waren die
Vorder- und Rückseite mit Stahlplatten verstärkt. Mithilfe
einiger Tasten des Computers unter dem Armaturenbrett
wurde der Hummer praktisch so schusssicher wie ein Panzer.
Im hinteren Teil befanden sich Sprengkörper, die man zünden
konnte, indem man einen dreistelligen Code in den
Computer eingab. Das Design des Fahrzeugs war makellos.
Schade, dass er den Hummer opfern musste, um Crystal zu
befreien.
Als er von der Fähre herunterfuhr, war er angespannt, nervös.
Sein Mund war trocken. Vielleicht war das ein gutes
Zeichen. Er durfte nicht nachlässig werden, sorglos. Er zog
ein schwarzes Handy aus dem Handschuhfach und wählte
eine Nummer. Es klingelte am anderen Ende, einmal, zweimal,
dann legte er auf, wartete einen Augenblick, wählte
erneut. Diesmal nur ein Klingeln. Auflegen, wieder anrufen,
ein Klingeln, auflegen, zweimal klingeln. So. Zwei, eins, eins
zwei: Das war ihr Signal. Aber würde sie sich daran erinnern?
Ja, er war davon überzeugt.
Es war jetzt nach zwei Uhr nachts. Die Nachtschicht im
Gefängnis hatte Dienst, nur eine Polizistin würde dort sein,
eine riesenhafte Frau, die aussah wie eine Sumo-Ringerin.
Er bog von der Old Post Road auf den Lincoln Boulevard
ab, fuhr vorbei an Behördengebäuden, der Bibliothek. Die
Straße krümmte sich, und ein kleiner Marktplatz war zu
sehen, umgeben von Pinien. Dann tauchte rechts von ihm das
Gefängnisgebäude für die weiblichen Insassen auf. Ein hässlicher
Bau, niedrig und viereckig. Schlecht beleuchtet, mit
einem drei Meter hohen Maschendrahtzaun, auf dem ein
widerwärtiger Stacheldraht thronte. Die Vordertür befand
sich jedoch nicht hinter einem Zaun, und dort würde er eindringen.
Zwei Streifenwagen standen vor dem Gebäude,
beide leer.
Schönen guten Morgen, die Damen, dachte er und lächelte
vor sich hin.
Franklin fuhr weiter bis zum Ende der Straße, wendete,
und zog dann unter dem Sitz des Hummers seine Waffe hervor,
ein neueres Modell des Vorderschaftrepetiergewehrs, das
Arnold in den Terminator-Filmen verwendet hatte. Er legte
die Pumpgun auf seinen Schoß und fuhr zurück Richtung
Lincoln Boulevard. Als er die Kurve erreichte, begann er
zu beschleunigen, der kraftvolle V-8-Motor des Hummers
knurrte. Er trat das Gas durch, und der Hummer setzte nach
vorn, schoss über den Bürgersteig, er zerstörte Gras und
Blumenbeete und donnerte auf die doppelte Glastür des
Gefängnisses zu.
Elektronische Türen. Zwei hintereinander, Glas. Kein Problem.
Er drückte einen Knopf auf dem Armaturenbrett, und
die Schutzplatten für die Fenster fuhren hoch - hinten, an der
Seite und jetzt auch vor der Windschutzscheibe, nur ein
schmaler Streifen Glas blieb sichtbar, damit er noch etwas
sehen konnte. Metallplatten senkten sich auch halb über die
Reifen, um sie vor Schüssen und Glas zu schützen. Ein dickes
Metallnetz schützte Kuhfänger und Scheinwerfer vorne.
Sekunden später krachte der Hummer durch die beiden
Türen. Glas splitterte, der Alarm kreischte, die Sumo-
Ringerin wirbelte herum, ihr dickes Gesicht aufmerksam, die
Augen im grellen Schein seiner Scheinwerfer zusammengekniffen.
Sie sprang überraschend schnell zur Seite, wirbelte
herum und zielte dann mit einer Magnum.30-06 auf den
Hummer.
Franklin steuerte nach rechts. Der Hummer erwischte sie,
bevor sie abdrücken konnte. Ihr fetter Körper schien wie ein
Ballon zu platzen, herausflogen Blut und Knochen, und er
fuhr weiter, der Motor des Hummers röhrte, als er gegen die
Wand donnerte.
Die Wärterin zerplatzte, als wäre sie aus Balsaholz. Betonstückchen
regneten auf das Dach des Hummers und klackten
auf der Panzerung. Staub zog wie Rauch durch den grellen
Strahl der Scheinwerfer. Die Sprinkler an der Decke gingen
an, der Alarm kreischte weiter. Als das Wasser aus der Löschanlage
den Staub gebändigt hatte, sah er plötzlich Crystal
in der Zelle daneben, sie umklammerte die Gitterstäbe, die
Augen groß wie Ufos. Neben ihr stand eine große Schwarze,
deren wildes Haar im Licht der Scheinwerfer zu glitzern
schien, sie hatte die Arme hochgerissen, als wollte sie den
Hummer abwehren. Eine Amazone.
Er betätigte die Lichthupe, und die Amazone packte
Crystals Arm und riss sie zur Seite. Er legte den Rückwärtsgang
des Hummers ein, dann wieder den Vorwärtsgang, und
trat erneut aufs Gaspedal. Der Hummer legte mit dem
Hunger eines Raubtiers los und krachte in die Zelle. Der Aufprall
erschütterte ihn bis zu den Zahnwurzeln. Doch er hatte
es geschafft, und Crystal rannte auf den Hummer zu, ihre
schlanken Beine trugen sie rasend schnell.
Er riss die Beifahrertür auf, und Crystal hechtete hinein -
und die Amazone direkt hinter ihr her. »Wir haben nur Platz
für zwei!«, rief er und schwang die Waffe hoch.
Crystal schlug mit der Faust gegen den Lauf und drückte
ihn nach unten. »Sie ist meine Freundin«, bellte sie über das
Kreischen des Alarms.
»Scheiß drauf.« Er knallte den Rückwärtsgang des
Hummers rein und rauschte durch das Loch in der Mauer.
»Pistolen unter dem Sitz. Nimm sie und steig nach hinten.
Kannst du schießen, Amazone?«
»Nicht mit gepanzerten Fenstern«, brüllte sie.
Sehr lustig. Ein Scherzkeks. Er wendete das massive Fahrzeug
und zielte damit auf die Tür, durch die jetzt Bullen
hereinquollen. Los jetzt, schnell, mäh die Arschlöcher nieder.
Er trat aufs Gas und raste auf sie zu, mit einer Hand umklammerte
er das Steuer, mit der anderen drückte er auf dem
Armaturenbrett die Knöpfe, die die Fenster seitlich und hinten
runterfahren ließen und Schießscharten in der Panzerung
öffneten. Einige der Bullen sprangen beiseite, andere waren
nicht schnell genug, und der Körper von einem knallte gegen
die Platten auf der Windschutzscheibe, seine Wange drückte
sich direkt vor Franklin an den Schlitz vor dem Glas.
Nachdem der Hummer durch die kaputte Tür hinausgedonnert
und auf den Lincoln Boulevard abgebogen war,
drückte er einen weiteren Knopf, und das Sonnendach öffnete
sich. Beton und Holzstückchen regneten in den Wagen,
Staub wehte herein. Er rief den Frauen zu, dass sie dem Typen
von der Windschutzscheibe befördern sollten. Die Amazone
schoss durch die Öffnung im Dach wie ein riesiges Kasperle
und zerrte den Bullen von den Panzerplatten.
Während der Hummer die Lincoln entlangbrauste, nutzten
die Amazone und Crystal das Sonnendach als Schießstand.
»Fünf hinter uns!«, rief die Amazone, dann eröffneten Crystal
und sie gleichzeitig das Feuer.
Ein Streifenwagen geriet augenblicklich außer Kontrolle.
Ein weiterer fuhr gegen einen Baum. Ein dritter knallte in
einen geparkten Wagen, woraufhin beide in Flammen aufgingen.
Franklin grinste und fuhr Richtung Vine, eine Straße,
die so schmal war, dass der Hummer, als er ihn im rechten
Winkel herumwirbelte, die Straße komplett blockierte.
»Raus«, rief er. »Raus! Wir treffen uns im Wald.«
Er gab den dreistelligen Code ein, warf sich den Rucksack
über die Schulter und kletterte mit der kräftesparenden Geschwindigkeit
eines Kolibris aus dem Hummer. Der Sprengstoff
würde dreißig Sekunden verzögert hochgehen, lang
genug, um Deckung zu suchen.
Er rannte in Richtung Wald, das Kreischen der Sirenen war
jetzt so nah, dass sie unangenehm die Dunkelheit durchschnitten.
Dann tauchte er zwischen den Bäumen unter, wo
Crystal und die Amazone auf ihn warteten, und sie liefen
tiefer zwischen die Bäume. Einen Herzschlag später ging der
Hummer in die Luft.
Es klang wie Armageddon. Sie warfen sich instinktiv zu
Boden, rollten sich ab. Ein unglaublicher Feuerball schoss in
den Himmel und spie Vulkanlicht und Asche. Die Luft roch
verbrannt. Eine zweite Explosion hallte durch die Dunkelheit,
und sie sprangen wieder auf und rannten schnell zwischen
den Bäumen hindurch, sie stolperten über aufragende Wurzeln,
in der Nacht erwachten weitere Sirenen zum Leben,
kreischende Stimmen, dann folgte eine dritte Explosion.
Am Rand des Waldes hielten sie an, Crystal und er keuchten
wie Fische an Land, wohingegen die Amazone kaum zu
schwitzen schien. »Was zum Teufel steckte denn in deinem
Hummer, Junge?«, fragte die Amazone. »Ganz Vietnam?«
Das und noch mehr. Von dem Wagen würde nicht einmal
genug übrig sein, um auch nur einen Fingerabdruck zu
nehmen.
»Über die Straße«, zischte er. »In das vierstöckige Gebäude.
Der Lieferwagen steht im ersten Stock.«
Die Amazone lief vor ihnen los, ihre langen Beine fraßen
die Entfernung zwischen Wald und Parkhaus. Franklin nahm
Crystals Hand und spürte es augenblicklich, er war sofort
wieder ganz. Sie rannten hinter der Amazone her, überquerten
die Straße, ihre Schuhe klatschten auf das alte Kopfsteinpflaster,
sie duckten sich auf der anderen Seite in die
Schatten. Das Parkhaus war nicht bewacht. Man kaufte einfach
einen Aufkleber für eine Woche oder einen Monat, oder
was immer einem passte, und pappte ihn von innen gegen die
Windschutzscheibe, dann wurde er wie der Strichcode auf
einer Lebensmittelpackung gelesen, wenn man hinein- und
hinausfuhr. Sein Aufkleber war - wie der Lieferwagen - ausgestellt
auf Jerome Carver, einen Niemand, den es nicht gab.
Ins Parkhaus, Taschenlampe an, Treppe hoch, schnell,
schneller. Unten mehr Sirenen. Irgendetwas hatte in der Vine
Street angefangen zu brennen - Bäume oder Büsche, ein
Grundstück, Müll, er war nicht sicher. Aber er konnte es
riechen, der Gestank mischte sich unter den Benzingeruch,
verbranntes Gummi, Zerstörung.
Sie erreichten den ersten Stock. Er rannte auf den schwarzen
Lieferwagen zu, öffnete die hintere Tür, sie krabbelten
hinein. Die hinteren Sitze waren ausgebaut, aber es gab
zwei einfache Betten mit Schlafsäcken, Laken, Kissen. Eine
eingebaute Kühlbox stand an der anderen Seite, daneben
Campingsachen und zwei Reisetaschen. Er drückte Crystal
die grüne in die Hand. »Zieh dich um, Baby.« Er sah die
Amazone an. Ein leichter Schweißfilm bedeckte ihr Gesicht.
Ihre Augen, schwarz wie Bitterschokolade, verrieten nichts.
»Bist du eins achtzig oder so?«
»Eins achtzig, ja.«
»Ich habe nicht mit jemand Drittem gerechnet, aber in der
Tasche sollte etwas sein, was dir passt.« Er drückte ihr die
blaue Tasche in die Hand. »Wenn du fertig bist, leg dich ins
Bett und deck dich zu.«
Er krabbelte schnell nach vorn, schob seine Waffe unter
den Sitz, begann dann mit einer Routine, die er so oft geprobt
hatte, dass er es im Schlaf hinbekommen hätte. Handschuhfach:
Elektrorasierer, Kissenbezug. Er breitete den
Kissenbezug auf seinem Schoß aus, legte den Rasierer auf das
Armaturenbrett, griff unter den Beifahrersitz. Baseballkappe,
sauberes Hemd. Er faltete seinen Pferdeschwanz nach oben
und versteckte ihn unter dem Käppi, zog das Hemd an, nahm
die Brille aus der Tasche, setzte sie auf.
Zwischen den Sitzen zog er eine Tasche mit Spielzeug
hervor - Lego, Stofftiere, Alphabet-Blöcke, ein paar Dr.Seuss-
Bücher - und kippte den Inhalt auf den Beifahrersitz.
Er fuhr mit dem Rasierer über sein Gesicht, er rasierte seinen
Bart ab, während er bereits vom Parkplatz fuhr, die Rampe
hinunter. Das Haar fiel auf den Kissenbezug, und wenn er
fertig war, würde er ihn zusammenfalten und unter den Sitz
stecken.
Franklin fuhr aus dem Parkhaus und bog rechts ab, weg
vom Feuer, den Sirenen, dem Gestank, er fuhr gen Westen
durch die Stadt. Halt dich an die Geschwindigkeitsbegrenzung.
Du bist Wasser. Du wurdest in ein Gefäß gefüllt, das heißt:
Camper und Familienvater.
Er rieb sich mit der Hand über das Gesicht, fühlte die ungewohnte
Glätte. Er faltete den Kissenbezug und ließ ihn
zwischen die Sitze fallen. Der Rasierer landete wieder im
Handschuhfach. Wir werden es schaffen.
Und dann, vor sich, entdeckte er zwei Streifenwagen
mit Blinklicht. »Scheiße. Da sind Bullen. In die Betten.
Schnell.«
»Wir sind drin«, sagte Crystal.
CD-Spieler, ein bisschen Musik. Ich bin Wasser. Ich bin ein
Camper.
Als er sich dem Streifenwagen näherte, trat einer der Bullen
auf die Straße und bedeutete ihm mit einer Taschenlampe
anzuhalten. Sein Blut hämmerte in seiner Schläfe. Der Aufkleber,
Herrgott, der Aufkleber klebt noch an der Windschutzscheibe.
Er wollte ihn abziehen, fürchtete aber, dass die plötzliche
Bewegung auffiele. Er hielt am Straßenrand. »Keine Bewegung
«, murmelte er leise.
Der Bulle kam auf ihn zu. »Führerschein und Fahrzeugpapiere,
Sir«, sagte er und leuchtete Franklin ins Gesicht.
Der kniff die Augen zusammen und reichte dem Bullen die
verlangten Papiere, der sie im Strahl seiner Taschenlampe
untersuchte, auch auf das Spielzeug und die Stofftiere auf
dem Sitz leuchtete, sich ein bisschen weit zum Fenster hereinlehnte
und nach hinten leuchtete. »Ich wollte zurück zum
Zeltplatz und bin offenbar falsch abgebogen. Mein Sohn hat
Fieber bekommen, und ich musste ein Schmerzmittel für
Kinder besorgen.«
»Augenblick, bitte.«
Der Bulle ging mit Franklins falschen Ausweispapieren
zurück zum Streifenwagen. Er würde sie überprüfen und
feststellen, dass Jerome Carver ein guter Autofahrer war, der
in Titusville, Florida, lebte und in Cape Canaveral als Pro-
grammierer arbeitete. Verheiratet, ein Kind, keine Vorstrafen.
Ein ganz normaler Bürger.
Es sei denn, etwas läuft schief.
Franklin wartete. Schweißperlen bildeten sich auf seiner
Stirn, auf seinen Handflächen. Wie schnell konnte er die
Waffe unter dem Sitz hervorziehen? Nicht schnell genug. »Ladys,
Waffen in die Hand. Wenn ich ›los‹ sage, schießt ihr.«
Minuten vergingen. Er hörte noch mehr Sirenen, konnte
den Schein der Flammen im Außenspiegel sehen. Sein Mund
war mittlerweile knochentrocken.
Jetzt kam der Bulle wieder auf den Wagen zu. Ich bin
Wasser. Ich bin ein Camper.
»Bitte sehr, Mr Carver«, sagte der Bulle und reichte ihm
seine Papiere zurück. »Sie müssen vier Kreuzungen nach
Osten fahren, dann auf die Old Post Road abbiegen und dann
nach Norden zum Naturschutzgebiet. Nicht über die Vine.«
»Mache ich. Vielen Dank.«
Der Bulle trat zurück, Franklin ließ den Motor an und fuhr
los, seine Hände zitterten.
Teil 1
Die Vorwarnung
»Eine Hurrikan-Vorwarnung für Ihren Teil der Küste weist
auf die Möglichkeit hin, dass innerhalb von 36 Stunden ein
Hurrikan eintreffen könnte. Nach einer Vorwarnung sollte
Ihre Familie dem Notfallplan folgen ...«
National Hurricane Center
Tipps von der FEMA-Website für den Fall einer Hurrikan-Vorwarnung:
- Verfolgen Sie auf einem batteriebetriebenen Radio oder Fernseher die
Berichte über das Fortschreiten des Hurrikans
- Überprüfen Sie Ihre Notfallausstattung
- Tanken Sie
- Holen Sie Gegenstände wie Gartenmöbel, Spielzeug und Gartengeräte
herein und vertäuen Sie Gegenstände, die Sie nicht ins Haus holen können
- Sichern Sie Gebäude, indem Sie Fenster schließen und vernageln
- Entfernen sie Außenantennen
- Schalten Sie Kühlschrank und Kühltruhe auf die kältestmögliche Position
- Füllen Sie Trinkwasser in saubere Badewannen, Kübel, Flaschen, Kochtöpfe
- Verstauen Sie Wertsachen und persönliche Unterlagen in einem wasserdichten
Behälter im obersten Stockwerk ihres Hauses
- Überprüfen Sie den Evakuierungsplan
- Vertäuen Sie Ihr Boot sicher oder transportieren Sie es zu einem dafür
vorgesehenen sicheren Ort. Verwenden Sie Seile oder Ketten, um das Boot
auf dem Anhänger zu sichern
- Sorgen Sie dafür, dass ihre Familie über das Verhalten im Notfall
informiert ist
1
Abrupt öffneten sich ihre Augen, und sie stieß die Luft aus.
Mira Morales setzte sich im Bett auf und sah sich panisch
im Schlafzimmer um, sie war sicher, dass ihr Albtraum zum
Leben erwacht war. Eindringlinge im Haus, bewaffnete
Menschen, Annie in Gefahr ... Aber während sie das dachte,
begannen die Bilder bereits zu verblassen, ihr panischer Herzschlag
verlangsamte sich, die Angst nahm ab.
Sie blieb einen Augenblick sitzen, nahm die Vertrautheit
des Hauses um sie herum in sich auf. Die Geräusche der
Nacht beruhigten sie, das Flüstern der kühlen Luft durch die
Schlitze der Klimaanlage, das rhythmische Klicken des sich
drehenden Deckenventilators, Sheppards Schnarchen neben
ihr. Den Flur hinunter klapperten die alten Rohre in den
Wänden, weil jemand - entweder Annie oder Nadine - aufs
Klo gegangen war. Wahrscheinlich Annie, vermutete sie. Jetzt,
in den Sommerferien, lebte ihre Teenager-Tochter nach einem
ganz eigenen Rhythmus. Und wenn es Nadine gewesen wäre,
hätte Mira zudem die Gummireifen des Rollstuhls auf den
Fliesen im Flur quietschen hören. Sie bezweifelte, dass Nadine
heute Nacht überhaupt aufstehen würde.
Ihre Großmutter war genauso erschöpft gewesen wie Mira,
als sie schließlich gegen neun am Abend zuvor aus der Notaufnahme
zurückgekehrt waren. Sie hatten gestern zehn
Stunden im Krankenhaus verbracht, über die Hälfte der Zeit
damit, darauf zu warten, überhaupt dranzukommen. Erst als
Sheppard eingetroffen war, ging es voran, und auch nur, weil
er seine FBI-Marke vorzeigte und sich beschwerte, dass sie
eine Zweiundachtzigjährige mit einem gebrochenen Fuß ewig
warten ließen, obwohl sie erkennbar Schmerzen hatte.
Nach den Röntgenaufnahmen und der Besprechung
mehrerer Ärzte entschieden sie, dass Nadines Fuß nicht
operiert werden sollte, sie brauchte aber einen Gips. Ihr
Hausarzt, der befürchtete, dass sie nach ihrem Sturz von einer
Leiter im Buchladen eine Gehirnerschütterung hätte, hatte
dennoch auf einer Computertomografie bestanden. Nadine,
die weder Krankenhäuser noch Ärzte leiden konnte, hatte
gesagt, das könnte er vergessen, es ginge ihr gut und sie wollte
nach Hause. Der Arzt, der ihre Sturheit gewöhnt war, hatte
sich geweigert, sie gehen zu lassen, bis sie ihm versprach, dass
sie zwei Tage das Bett nicht verlassen würde, außer um aufs
Klo zu gehen, und dass sie zwei Wochen den Rollstuhl
benutzen würde. Oh, und noch etwas, hatte er hinzugesetzt,
wenn ihr schwindelig oder übel würde, müsste sie sofort zu
einer Computertomografie kommen.
Mira vermutete, dass Nadine wie ein kleines Kind die
Finger über Kreuz gelegt hatte, als sie zustimmte. So wie sie
sie kannte, würde Nadine morgen wieder im Laden sein, an
der Kasse arbeiten und aus dem Rollstuhl ihren Yogaunterricht
geben.
Mira streckte sich wieder aus und schloss die Augen, mit
dem Fuß suchte sie nach der beruhigenden Wärme von
Sheppards Zehen oder den Sohlen seiner Füße. Jeder Körperkontakt
wäre ausreichend. Sie ertastete seine Zehen und
drückte die Sohle ihres Fußes dagegen. Manchmal, wenn sie
das tat, übernahm sie den Traum, den er träumte, eine eigenartige
Erfahrung, die sie noch nie mit jemand zuvor erlebt
hatte, nicht einmal mit Tom, dem Mann, mit dem sie vor
Jahren verheiratet gewesen war. Aber diesmal kam nichts.
Mira zog ihr Bein zurück auf ihre Seite der Matratze. Es
war ein Doppelbett, das Sheppard und sie vor zwei Monaten
gekauft hatten, als er endlich bei ihr eingezogen war. Keiner
von ihnen war daran gewöhnt, das Bett mit jemand anderem
zu teilen. Obwohl sie seit über fünf Jahren ein Liebespaar
waren, war das Zusammenleben ein neues Kapitel, für das
sie ein ganz neues Wörterbuch brauchten, es mussten sich
neue Gewohnheiten und Abläufe einstellen. Sie jedenfalls
hatte sich noch nicht daran gewöhnt und war sicher, dass es
Sheppard genauso ging. Die Gewohnheiten, die man sich in
einer Ehe aneignete, dachte sie, waren einzigartig für diese
Beziehung. Tom war seit elf Jahren tot, Sheppards Ehe war
noch länger her, und jetzt waren sie ein Paar in den
Vierzigern, das daran gewöhnt war, allein im Einzelbett zu
liegen.
Sie konnte nicht wieder einschlafen - und sie wusste, dass
es teilweise daran lag, dass sie fürchtete, ihr Albtraum würde
dort weitergehen, wo er unterbrochen worden war. Die
Eindringlinge. Mira versuchte, ihre Gesichter heraufzubeschwören,
weitere Einzelheiten des Albtraums, sie versuchte
auszumachen, ob es bloß ein schlechter Traum oder eine Art
Warnung gewesen war. Aber ihre Anstrengungen brachten
auch nicht mehr als Sheppards Fuß. Frustriert schlug sie das
Laken beiseite und stieg aus dem Bett. Sie hatte Hunger.
Als sie die Küche betrat, gesellten sich alle drei Katzen
zu ihr, schlängelten sich zwischen ihren Beinen hindurch,
miauten nach Futter, Freiheit, Streicheleinheiten. Whiskers,
das Alphamännchen, ein schwarz-weißer Kater, gehörte
Nadine. Powder, eine weiße Katze mit beängstigend blauen
Augen, gehörte Sheppard, und die gescheckte Katze, Tigerlily,
war ihre. Und da kam auch schon Annies Tier angetrottet,
Ricki, eine wundervolle Golden-Retriever-Hündin mit rotgoldenem
Fell, die mit dem Schwanz wedelte, als sie die
Katzen entdeckte, ihre erweiterte Familie. Mira fütterte alle,
machte sich dann selbst einen Teller mit eiskalter Papaya,
Scheiben eiskalter Mango und einem halben getoasteten
English Muffin mit echter Butter zurecht, dann schnitt sie
sich noch etwas Cheddar-Käse dazu.
Nadine, seit über sechzig Jahren Veganerin, mochte noch
nicht einmal den Anblick von Käse oder Eiern im Kühlschrank
und bekam fast jedes Mal einen Anfall, wenn sie
Fisch oder Hühnchen entdeckte, die Sheppard gekauft hatte.
Sowohl Annie als auch Mira hatten wieder begonnen, Fisch
zu essen, als Sheppard eingezogen war, ein weiteres Unglück
auf der langen Liste der Dinge, die Nadine gegen ihn hatte.
Aber was soll's, dachte Mira. Ihre vegane Ernährung war
niemals eine Religion gewesen. Sie bezweifelte, dass sie je so
weit gehen würde, Huhn zu essen, aber nach Jahren mit
nichts als Gemüse, Obst und Soja, waren Käse, Eier und Fisch
eine willkommene Abwechslung.
Mira trug ihren Teller mit den Leckereien nach draußen,
setzte sich an den Rand des Pools und tauchte ihre Füße in
das wunderbar warme Wasser ein. Sterne glitzerten am herrlichen
Sommerhimmel, aber hier und da verschwanden sie
hinter schnell ziehenden Wolken. Hier unten auf der Erde
übersetzte sich ihre Schnelligkeit in eine angenehm warme,
feuchte Brise, die dann und wann zunahm, aber nicht genug,
um sie auf Hurrikan Danielle zurückführen zu können.
Genau genommen hatte sie bis gerade eben den Hurrikan
komplett vergessen.
Das Letzte, was sie gegen fünf gestern Nachmittag gehört
hatte, war, dass er auf Südkuba zuzog und Südflorida mit den
Keys nicht einmal streifen würde. Wunderbar. Sie hatte auch
ohne einen Hurrikan genug Sorgen.
Im Augenblick beschäftigte sie vor allem, dass einer der drei
Autoren, die am nächsten Abend beim Sommersonnenwendefest
Autogramme geben sollten, aufgrund eines familiären
Notfalls abgesagt hatte. Sie hoffte, einen Autor aus der Stadt
zu finden, der kurzfristig einspringen konnte, wollte sich aber
nicht darauf verlassen. Außerdem musste sie Nadines Yoga-
stunden für die nächsten sechs bis acht Wochen absagen -
oder eine Vertretung finden. Aber eine Vertretung würde
fünfundzwanzig Dollar die Stunde kosten, zweihundert die
Woche, achthundert im Monat, und das zusätzlich zu
Nadines normalem Gehalt. So viel Geld hatte sie im Moment
einfach nicht. Aber ohne Vertretung müsste sie selbst unter-
richten, was bedeutete, dass sie eine ihrer Teilzeitangestellten
auf Vollzeit setzen musste, oder Annie müsste sie währenddessen
vertreten.
Mira planschte mit den Füßen im warmen Wasser und
stellte ihren leeren Teller auf die Ziegel, die den Pool umrandeten.
Das Wasser lockte. Sie zog ihr Oberteil über den
Kopf, schlüpfte aus ihrer Hose und der Unterhose, dann ließ
sie sich ins Wasser gleiten. Sie schwamm mit geöffneten
Augen zwei Bahnen unter Wasser und genoss das seidige
Gefühl des warmen Wassers auf der nackten Haut. Nur eine
der Unterwasserleuchten im Pool brannte, sie warf eigenartige
Muster auf den Boden des Beckens. Dann und wann stiegen
Luftblasen auf, wenn sie den Atem ausstieß, und durchbrachen
die Symmetrie von Schatten und Formen.
Als sie am flachen Ende wieder auftauchte, sah sie erschrocken
Wayne Sheppard dort stehen, seine ganzen Einsdreiundneunzig
splitternackt. Er grinste. »Das sieht nach einer guten
Idee aus«, sagte er, kam die Stufen herunter und verschwand
im Wasser.
Mira sah ihm nach, seine Züge waren geschmeidig und
mühelos wie die eines Olympia-Schwimmers, dann sank sie
zurück ins Wasser und schwamm hinter ihm her. Sie trafen
sich am tiefen Ende, wo ein kleiner Vorsprung war, und saßen
dort unter den Sternen.
»Glaubst du, Nadine hat eine Gehirnerschütterung?«, fragte er.
Er erkundigte sich nach ihrer hellseherischen Wahrnehmung,
wollte nicht die medizinische Meinung ertragen.
Sheppard wusste, dass sie empathisch war, brachte das aber
offenbar nicht mit Krankenhäusern in Verbindung. Er konnte
sich nicht vorstellen, wie es für sie war, sich an einem Ort zu
öffnen, an dem der Schmerz der Standard war, an dem alles
gemessen wurde.
Als Nadine sich vor über fünf Jahren die Hüfte gebrochen
hatte, hatte Mira versucht, sie in der Notaufnahme zu lesen,
während sie darauf gewartet hatten, dass ein Arzt kam, und
war von den Symptomen aller anderen um sie herum getroffen
worden. Schmerzen, Schniefen, Husten, Fieber,
Schmerz und Elend. Der Mann in der Kabine neben Nadine
in jener Nacht hatte eine Lungenentzündung gehabt, und es
waren seine Symptome, die Mira letztlich übernommen
hatte, das Fieber, ein schreckliches Rasseln in der Brust, die
grausame Schwere der Glieder. Die Symptome waren so
realistisch gewesen, dass sie beinahe selbst in die Notaufnahme
gemusst hatte.
»Ich weiß es nicht. Ich habe nicht versucht, sie zu lesen.«
Er nickte, aber sie wusste nicht, ob das heißen sollte, dass
er verstand, warum sie es nicht versucht hatte, oder ob sein
Nicken bloß eine höfliche Entgegnung war. Wasser tropfte
aus seinem grau melierten Bart und von seinen Wimpern.
»Lies mich doch mal«, sagte er, schlang seine Arme um sie
und küsste ihr Ohr.
Dann setzte er sanfte, kühle Küsse auf ihren Hals, die
Kurve ihres Kinns, ihre Augenlider, ihren Mund. Er war der
einzige Mann, den sie je gekannt hatte, der regelmäßig ihre
Augenlider küsste, manchmal mit dem Mund, manchmal mit
seinen Lidern - er nannte es den Schmetterlingskuss. Mira
entspannte sich in Sheppards Armen, ihr Mund öffnete sich
unter seinem, ihr Blut pulste schneller, und trotz ihrer
Müdigkeit empfand sie Verlangen, trotz der Ereignisse des
Tages, trotz allem.
Und plötzlich stürzten sie sich im Wasser aufeinander, auf
dem kleinen Vorsprung. Ihr Hunger nach ihm überkam sie
oft in eigenartigen, unglücklichen Momenten - im Auto, in
der Garage, im Garten hinter dem Haus, im Buchladen, im
Supermarkt und an Orten wie diesem, einem abgeschiedenen
Ort, an dem doch jeden Augenblick Annie erscheinen und sie
sehen könnte.
Seine Hand schob sich zwischen ihre Schenkel, und Mira
presste ihre Hüften dem wundervollen Druck entgegen.
»Annie könnte rauskommen«, murmelte sie, den Mund an
seinem Hals, die Hüften kreisend, gleitend.
»Sie schläft. Ich habe nachgesehen.«
Er hob seine linke Hand unter ihr Kinn, berührte es,
beugte ihren Kopf nach hinten, legte ihren Hals für seinen
Mund frei. Gut, dass sie nicht standen. Zu knutschen war
im Wasser viel einfacher, wo seine Größe und die Schwerkraft
keine Rolle spielten. Mira sehnte sich plötzlich nach ihrem
Bett, dem privaten Raum, aber sie konnte sich auch nicht
bremsen, sie konnte die Bewegung ihrer Hüften nicht
stoppen, während sein Mund ihren liebkoste.
Die Hitze. Das außerordentliche Vergnügen. Das Gefühl
des Wassers um sie herum, das ihre Körper umhüllte. Ihre
Finger spannten sich auf seinem Rücken, die Nägel gruben
sich in seine Haut. Sie stöhnte und bog den Rücken, bettelte
nach mehr, mehr.
Sie hörte die Geräusche, die sie von sich gab, das Stöhnen,
das Murmeln, die Tierlaute, aber all das kam ihr fern vor, als
hätte es nichts mit ihr zu tun. Dann zog sich ihr alles zusammen,
und er war in ihr, er drückte sie gegen den Rand des
Swimmingpools, er bewegte sich schnell und kraftvoll auf
seinen Höhepunkt zu.
Und als es vorüber war, klammerten sie sich aneinander,
das Wasser hielt und stützte sie, sie keuchten wie Marathonläufer.
Mira empfand große Dankbarkeit. Er verstand, dass
Nadine Miras letzte Verbindung dazu war, wer sie geworden
war, und eine Verletzung Nadines war eine Verletzung Miras.
Eine Erinnerung daran, wie sehr diese Frau ihr Leben geformt
hatte, ihre Fähigkeiten, den Kern ihres Seins. In den letzten
zehn oder zwölf Stunden hatte sie sich emotional und psychisch
verschlossen, abgeschaltet, losgelöst, und Sheppard
hatte das verstanden und sie zurückgeholt.
Egal, dass er auch einer der begierigsten Männer war, die
sie je kennengelernt hatte, er konnte überall vögeln, jederzeit
und an jedem Ort. Egal. Diesmal, das wusste sie, ging es um
sie, um ihre Verbindung zu Nadine. Er hatte sie gezwungen,
wieder zu fühlen.
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www.weltbild.de
Copyright der Originalausgabe © 2005 by T.J. MacGregor
Published by Arrangement with Patricia Janeshutz MacGregor
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2011 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Übersetzung: Ulrich Hoffmann
Projektleitung: Librisco Consult, München
Redaktion: Dr. Thomas Rosky, München
Umschlaggestaltung: zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Shutterstock (© Zastol`skiy Victor Leonidovich;
© steamroller_blues)
Satz: Lydia Maria Kühn, Fünfstetten
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-439-7
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Ausgabe an.
Hinter ihm weinte ein Baby. Links von ihm schmiegte sich
ein Pärchen aneinander, die Arme umeinander gelegt. Direkt
hinter ihm befand sich die Treppe zum Unterdeck der Fähre,
wo die Kinderwagen standen, die Fahrräder, die Autos. Der
aufgerüstete schwarze Hummer wartete dort unten auf ihn,
ein Wagen für über hundert Riesen, der mehr als drei Tonnen
wog, und für die Aufgabe, die vor ihm lag, mehr als geeignet
war. Ein paar Straßen vom Endziel des Hummers entfernt, in
einem Parkhaus, wo auch Anwohner ihre Wagen über Nacht
abstellten, befand sich ein unscheinbarer, schwarzer Lieferwagen
mit Blenden, wo die hinteren Fenster sein sollten. Damit
würden er und Crystal zu seiner Hütte im Naturschutzgebiet
auf Tango fahren.
In der Hütte gab es genug Essen und Ausrüstung, um
einen Monat durchzuhalten, wenn sie vorsichtig vorgingen.
Er hatte sorgfältig geplant. Er war sich seiner Sache sicher. Er
war wie Wasser, das Element, das die Form des Gefäßes annahm,
in das man es goss. Aber ohne Crystal war er bloß ein
Gefäß halb voll mit dreckigem, unreinem Wasser. Er brauchte
sie. Und für sie, für sie beide, würde sein Gefäß heute Nacht
erfolgreicher Geschäftsmann heißen, so würde er aussehen,
wenn er sich ans Steuer des Hummers setzte.
Sterne blitzten zwischen den schnell dahinziehenden
Wolken auf. Vorhin hatte er sich Sorgen um den Hurrikan
Danielle gemacht, sechshundertfünfzig Kilometer draußen
über dem Atlantik. Eine Front, die aus dem Norden herunterzog,
hatte den Hurrikan nach Süden gedrängt, sie hielt ihn
auf den Koordinaten, die ihn ans südliche Ende Kubas führen
würden. Danielle würde an den Keys und an der Südspitze
der Halbinsel Florida komplett vorüberziehen. Doch die
Front könnte sich abschwächen, was hieße, dass Danielle
möglicherweise nach Norden driftete.
Und deswegen würde das National Hurricane Center
wahrscheinlich kurz nach Sonnenaufgang eine Hurrikan-
Vorwarnung für Monroe, Dade, Broward und Palm Beach
County ausgeben - also für alles von den Keys bis fünfhundert
Kilometer nördlich. Wenn es so weit kam und wenn
die Front sich weiter abschwächte, würde das Center die
Vorwarnung irgendwann morgen zu einer Warnung hochstufen.
Aber das war ihm so oder so egal. Crystal und er wären
in der Hütte sicher, selbst wenn ein Hurrikan käme. Auch sie
war Wasser, und gemeinsam würden sie zum Amazonas
werden, zum Nil oder sogar zum Pazifik. Es würde ihnen gut
gehen im zwölf Meter tiefen Keller der Hütte. Er war gut aus-
gerüstet und hatte ausreichend Geld dort versteckt, um jede
unvorhersehbare Eventualität abzudecken.
Und selbst wenn eine Warnung ausgegeben würde, hieß
das nicht, dass Danielle Tango Key erreichen würde. Das
Center war normalerweise eher vorsichtig.
Er wusste alles über die Vorsichtsmaßnahmen des Centers.
Bis vor fünf Jahren war er einer der Meteorologen dort
gewesen, ein Beta-Mann hinter den Kulissen mit einem
telegenen Gesicht und einer Stimme, die samtig war wie alter
Scotch. Damals hatte er blondes Haar gehabt und ein
Pepsodent-weißes Lächeln, er hätte eigentlich vor der Kamera
stehen sollen. Doch als er die Beförderung, die ihm zustand,
nicht erhielt, flippte er aus und machte eine Szene. Er wurde
gefeuert. Im Center misstraute man psychischer Instabilität
bei Angestellten genauso sehr wie der Instabilität von
Stürmen. Ende der Geschichte.
Zwölf Jahre Arbeit, Gott allein wusste, wie viele Hurrikans,
und plötzlich war er weg, arbeitslos, Vergangenheit. Das hatte
ihn bitter werden lassen. Seine Bitterkeit wurzelte so tief in
ihm, dass er sich gezwungen gesehen hatte, sein äußeres Erscheinungsbild
zu verändern. Er trug jetzt Kontaktlinsen statt
einer Brille und hatte einen sorgsam gestutzten Bart. Sein
Körper war muskulös, schlank, kräftig, geformt durch endlose
Stunden im Fitness-Center. Und natürlich war sein Haar
anders. Er hatte sich in das Gefäß namens Dunkelheit gefüllt
und war zur Nacht geworden. Der Billy Joe von heute konnte
es sich leisten, hundert Riesen für eine Hummer-Sonderanfertigung
hinzulegen. Dieser Billy Joe, dachte er, konnte sich
den Luxus leisten, den ihm fünf Millionen aus einem Bundesbankraub
erlaubten. Dummerweise hatten Crystal und er die
Sache tagsüber durchgezogen, und etwas war schiefgelaufen.
Sie war einkassiert worden, er war entkommen.
Aber er würde jetzt nicht über sie nachdenken. Stattdessen
würde er zu Wasser werden und sich in das nächste Gefäß
ergießen und die Form dieses Gefäßes annehmen.
Die Fähre begann zu verlangsamen, als sie sich der Insel
näherte. Aus der Luft oder auf einer Karte sah Tango Key aus
wie ein deformierter Katzenkopf, das rechte Ohr war ein
Naturschutzgebiet, das sich bis auf die Wange der Katze und
über einen Teil ihrer Stirn erstreckte. Die Stadt Pirate's Cove
befand sich direkt zwischen den Augen der Katze, und alles
andere oberhalb der Augen bis zum linken Ohr der Katze war
voll kleiner Wohnhäuser und Geschäftsgebäude. Die Nordseite
der Insel war hügelig, dort befanden sich Felder, alte
Bauernhöfe, Haine mit Zitrusfrüchten. Die höchste Stelle -
33,5 Meter ganz genau - lag ebenfalls im Norden. Die gesamte
Insel war eine geologische Eigenart, eine Anomalie in einer
gebogenen Kette flacher Inseln, die sich ungestraft in die
Weite des Meeres zog. Komm doch, schienen diese kleinen
Inseln zu rufen. Komm schon, wag es doch. Tango Key war der
einzige Bereich der Keys und des gesamten Südens der Halbinsel
Florida mit Hügeln.
Die Fähre brachte ihn an eine Stelle knapp unterhalb der
Katzenschnauze, wo die Küste sich ins Inselinnere krümmte
und einen natürlichen Hafen bildete.
Deutlich unterhalb der Schnauze, wo das Land so flach
wie eine Briefmarke war, lag das Städtchen Tango, in dem
sich die Behörden, Anwälte, Ärzte, die üblichen Geschäftsleute
und das Gefängnis befanden. Dutzende kleine Geschäfte
in Familienbesitz verbargen sich in einem Labyrinth
von schmalen, schattigen Straßen, von denen manche noch
mit dem Kopfsteinpflaster befestigt waren, das um 1700 hier
verbaut worden war.
Franklin setzte seinen Rucksack auf. Er hatte eine Menge
Kohle darin. Abgesehen von dem Bargeld in der Hütte im
Naturschutzgebiet hatte er noch Geld auf den Bahamas und
bei einer Schweizer Bank. Er hatte gut zu tun gehabt, war
effizient gewesen, gründlich.
Er ging hinunter auf das Autodeck zu seinem Hummer.
Er liebte die Wucht dieses Fahrzeugs, den Duft des neuen,
schwarzen Leders, die Art, wie seine Hände das Steuer umfassten.
Ein erotisches Gefühl. So sah er den Hummer.
Zusätzlich zu dem massiven Kuhfänger vorne waren die
Vorder- und Rückseite mit Stahlplatten verstärkt. Mithilfe
einiger Tasten des Computers unter dem Armaturenbrett
wurde der Hummer praktisch so schusssicher wie ein Panzer.
Im hinteren Teil befanden sich Sprengkörper, die man zünden
konnte, indem man einen dreistelligen Code in den
Computer eingab. Das Design des Fahrzeugs war makellos.
Schade, dass er den Hummer opfern musste, um Crystal zu
befreien.
Als er von der Fähre herunterfuhr, war er angespannt, nervös.
Sein Mund war trocken. Vielleicht war das ein gutes
Zeichen. Er durfte nicht nachlässig werden, sorglos. Er zog
ein schwarzes Handy aus dem Handschuhfach und wählte
eine Nummer. Es klingelte am anderen Ende, einmal, zweimal,
dann legte er auf, wartete einen Augenblick, wählte
erneut. Diesmal nur ein Klingeln. Auflegen, wieder anrufen,
ein Klingeln, auflegen, zweimal klingeln. So. Zwei, eins, eins
zwei: Das war ihr Signal. Aber würde sie sich daran erinnern?
Ja, er war davon überzeugt.
Es war jetzt nach zwei Uhr nachts. Die Nachtschicht im
Gefängnis hatte Dienst, nur eine Polizistin würde dort sein,
eine riesenhafte Frau, die aussah wie eine Sumo-Ringerin.
Er bog von der Old Post Road auf den Lincoln Boulevard
ab, fuhr vorbei an Behördengebäuden, der Bibliothek. Die
Straße krümmte sich, und ein kleiner Marktplatz war zu
sehen, umgeben von Pinien. Dann tauchte rechts von ihm das
Gefängnisgebäude für die weiblichen Insassen auf. Ein hässlicher
Bau, niedrig und viereckig. Schlecht beleuchtet, mit
einem drei Meter hohen Maschendrahtzaun, auf dem ein
widerwärtiger Stacheldraht thronte. Die Vordertür befand
sich jedoch nicht hinter einem Zaun, und dort würde er eindringen.
Zwei Streifenwagen standen vor dem Gebäude,
beide leer.
Schönen guten Morgen, die Damen, dachte er und lächelte
vor sich hin.
Franklin fuhr weiter bis zum Ende der Straße, wendete,
und zog dann unter dem Sitz des Hummers seine Waffe hervor,
ein neueres Modell des Vorderschaftrepetiergewehrs, das
Arnold in den Terminator-Filmen verwendet hatte. Er legte
die Pumpgun auf seinen Schoß und fuhr zurück Richtung
Lincoln Boulevard. Als er die Kurve erreichte, begann er
zu beschleunigen, der kraftvolle V-8-Motor des Hummers
knurrte. Er trat das Gas durch, und der Hummer setzte nach
vorn, schoss über den Bürgersteig, er zerstörte Gras und
Blumenbeete und donnerte auf die doppelte Glastür des
Gefängnisses zu.
Elektronische Türen. Zwei hintereinander, Glas. Kein Problem.
Er drückte einen Knopf auf dem Armaturenbrett, und
die Schutzplatten für die Fenster fuhren hoch - hinten, an der
Seite und jetzt auch vor der Windschutzscheibe, nur ein
schmaler Streifen Glas blieb sichtbar, damit er noch etwas
sehen konnte. Metallplatten senkten sich auch halb über die
Reifen, um sie vor Schüssen und Glas zu schützen. Ein dickes
Metallnetz schützte Kuhfänger und Scheinwerfer vorne.
Sekunden später krachte der Hummer durch die beiden
Türen. Glas splitterte, der Alarm kreischte, die Sumo-
Ringerin wirbelte herum, ihr dickes Gesicht aufmerksam, die
Augen im grellen Schein seiner Scheinwerfer zusammengekniffen.
Sie sprang überraschend schnell zur Seite, wirbelte
herum und zielte dann mit einer Magnum.30-06 auf den
Hummer.
Franklin steuerte nach rechts. Der Hummer erwischte sie,
bevor sie abdrücken konnte. Ihr fetter Körper schien wie ein
Ballon zu platzen, herausflogen Blut und Knochen, und er
fuhr weiter, der Motor des Hummers röhrte, als er gegen die
Wand donnerte.
Die Wärterin zerplatzte, als wäre sie aus Balsaholz. Betonstückchen
regneten auf das Dach des Hummers und klackten
auf der Panzerung. Staub zog wie Rauch durch den grellen
Strahl der Scheinwerfer. Die Sprinkler an der Decke gingen
an, der Alarm kreischte weiter. Als das Wasser aus der Löschanlage
den Staub gebändigt hatte, sah er plötzlich Crystal
in der Zelle daneben, sie umklammerte die Gitterstäbe, die
Augen groß wie Ufos. Neben ihr stand eine große Schwarze,
deren wildes Haar im Licht der Scheinwerfer zu glitzern
schien, sie hatte die Arme hochgerissen, als wollte sie den
Hummer abwehren. Eine Amazone.
Er betätigte die Lichthupe, und die Amazone packte
Crystals Arm und riss sie zur Seite. Er legte den Rückwärtsgang
des Hummers ein, dann wieder den Vorwärtsgang, und
trat erneut aufs Gaspedal. Der Hummer legte mit dem
Hunger eines Raubtiers los und krachte in die Zelle. Der Aufprall
erschütterte ihn bis zu den Zahnwurzeln. Doch er hatte
es geschafft, und Crystal rannte auf den Hummer zu, ihre
schlanken Beine trugen sie rasend schnell.
Er riss die Beifahrertür auf, und Crystal hechtete hinein -
und die Amazone direkt hinter ihr her. »Wir haben nur Platz
für zwei!«, rief er und schwang die Waffe hoch.
Crystal schlug mit der Faust gegen den Lauf und drückte
ihn nach unten. »Sie ist meine Freundin«, bellte sie über das
Kreischen des Alarms.
»Scheiß drauf.« Er knallte den Rückwärtsgang des
Hummers rein und rauschte durch das Loch in der Mauer.
»Pistolen unter dem Sitz. Nimm sie und steig nach hinten.
Kannst du schießen, Amazone?«
»Nicht mit gepanzerten Fenstern«, brüllte sie.
Sehr lustig. Ein Scherzkeks. Er wendete das massive Fahrzeug
und zielte damit auf die Tür, durch die jetzt Bullen
hereinquollen. Los jetzt, schnell, mäh die Arschlöcher nieder.
Er trat aufs Gas und raste auf sie zu, mit einer Hand umklammerte
er das Steuer, mit der anderen drückte er auf dem
Armaturenbrett die Knöpfe, die die Fenster seitlich und hinten
runterfahren ließen und Schießscharten in der Panzerung
öffneten. Einige der Bullen sprangen beiseite, andere waren
nicht schnell genug, und der Körper von einem knallte gegen
die Platten auf der Windschutzscheibe, seine Wange drückte
sich direkt vor Franklin an den Schlitz vor dem Glas.
Nachdem der Hummer durch die kaputte Tür hinausgedonnert
und auf den Lincoln Boulevard abgebogen war,
drückte er einen weiteren Knopf, und das Sonnendach öffnete
sich. Beton und Holzstückchen regneten in den Wagen,
Staub wehte herein. Er rief den Frauen zu, dass sie dem Typen
von der Windschutzscheibe befördern sollten. Die Amazone
schoss durch die Öffnung im Dach wie ein riesiges Kasperle
und zerrte den Bullen von den Panzerplatten.
Während der Hummer die Lincoln entlangbrauste, nutzten
die Amazone und Crystal das Sonnendach als Schießstand.
»Fünf hinter uns!«, rief die Amazone, dann eröffneten Crystal
und sie gleichzeitig das Feuer.
Ein Streifenwagen geriet augenblicklich außer Kontrolle.
Ein weiterer fuhr gegen einen Baum. Ein dritter knallte in
einen geparkten Wagen, woraufhin beide in Flammen aufgingen.
Franklin grinste und fuhr Richtung Vine, eine Straße,
die so schmal war, dass der Hummer, als er ihn im rechten
Winkel herumwirbelte, die Straße komplett blockierte.
»Raus«, rief er. »Raus! Wir treffen uns im Wald.«
Er gab den dreistelligen Code ein, warf sich den Rucksack
über die Schulter und kletterte mit der kräftesparenden Geschwindigkeit
eines Kolibris aus dem Hummer. Der Sprengstoff
würde dreißig Sekunden verzögert hochgehen, lang
genug, um Deckung zu suchen.
Er rannte in Richtung Wald, das Kreischen der Sirenen war
jetzt so nah, dass sie unangenehm die Dunkelheit durchschnitten.
Dann tauchte er zwischen den Bäumen unter, wo
Crystal und die Amazone auf ihn warteten, und sie liefen
tiefer zwischen die Bäume. Einen Herzschlag später ging der
Hummer in die Luft.
Es klang wie Armageddon. Sie warfen sich instinktiv zu
Boden, rollten sich ab. Ein unglaublicher Feuerball schoss in
den Himmel und spie Vulkanlicht und Asche. Die Luft roch
verbrannt. Eine zweite Explosion hallte durch die Dunkelheit,
und sie sprangen wieder auf und rannten schnell zwischen
den Bäumen hindurch, sie stolperten über aufragende Wurzeln,
in der Nacht erwachten weitere Sirenen zum Leben,
kreischende Stimmen, dann folgte eine dritte Explosion.
Am Rand des Waldes hielten sie an, Crystal und er keuchten
wie Fische an Land, wohingegen die Amazone kaum zu
schwitzen schien. »Was zum Teufel steckte denn in deinem
Hummer, Junge?«, fragte die Amazone. »Ganz Vietnam?«
Das und noch mehr. Von dem Wagen würde nicht einmal
genug übrig sein, um auch nur einen Fingerabdruck zu
nehmen.
»Über die Straße«, zischte er. »In das vierstöckige Gebäude.
Der Lieferwagen steht im ersten Stock.«
Die Amazone lief vor ihnen los, ihre langen Beine fraßen
die Entfernung zwischen Wald und Parkhaus. Franklin nahm
Crystals Hand und spürte es augenblicklich, er war sofort
wieder ganz. Sie rannten hinter der Amazone her, überquerten
die Straße, ihre Schuhe klatschten auf das alte Kopfsteinpflaster,
sie duckten sich auf der anderen Seite in die
Schatten. Das Parkhaus war nicht bewacht. Man kaufte einfach
einen Aufkleber für eine Woche oder einen Monat, oder
was immer einem passte, und pappte ihn von innen gegen die
Windschutzscheibe, dann wurde er wie der Strichcode auf
einer Lebensmittelpackung gelesen, wenn man hinein- und
hinausfuhr. Sein Aufkleber war - wie der Lieferwagen - ausgestellt
auf Jerome Carver, einen Niemand, den es nicht gab.
Ins Parkhaus, Taschenlampe an, Treppe hoch, schnell,
schneller. Unten mehr Sirenen. Irgendetwas hatte in der Vine
Street angefangen zu brennen - Bäume oder Büsche, ein
Grundstück, Müll, er war nicht sicher. Aber er konnte es
riechen, der Gestank mischte sich unter den Benzingeruch,
verbranntes Gummi, Zerstörung.
Sie erreichten den ersten Stock. Er rannte auf den schwarzen
Lieferwagen zu, öffnete die hintere Tür, sie krabbelten
hinein. Die hinteren Sitze waren ausgebaut, aber es gab
zwei einfache Betten mit Schlafsäcken, Laken, Kissen. Eine
eingebaute Kühlbox stand an der anderen Seite, daneben
Campingsachen und zwei Reisetaschen. Er drückte Crystal
die grüne in die Hand. »Zieh dich um, Baby.« Er sah die
Amazone an. Ein leichter Schweißfilm bedeckte ihr Gesicht.
Ihre Augen, schwarz wie Bitterschokolade, verrieten nichts.
»Bist du eins achtzig oder so?«
»Eins achtzig, ja.«
»Ich habe nicht mit jemand Drittem gerechnet, aber in der
Tasche sollte etwas sein, was dir passt.« Er drückte ihr die
blaue Tasche in die Hand. »Wenn du fertig bist, leg dich ins
Bett und deck dich zu.«
Er krabbelte schnell nach vorn, schob seine Waffe unter
den Sitz, begann dann mit einer Routine, die er so oft geprobt
hatte, dass er es im Schlaf hinbekommen hätte. Handschuhfach:
Elektrorasierer, Kissenbezug. Er breitete den
Kissenbezug auf seinem Schoß aus, legte den Rasierer auf das
Armaturenbrett, griff unter den Beifahrersitz. Baseballkappe,
sauberes Hemd. Er faltete seinen Pferdeschwanz nach oben
und versteckte ihn unter dem Käppi, zog das Hemd an, nahm
die Brille aus der Tasche, setzte sie auf.
Zwischen den Sitzen zog er eine Tasche mit Spielzeug
hervor - Lego, Stofftiere, Alphabet-Blöcke, ein paar Dr.Seuss-
Bücher - und kippte den Inhalt auf den Beifahrersitz.
Er fuhr mit dem Rasierer über sein Gesicht, er rasierte seinen
Bart ab, während er bereits vom Parkplatz fuhr, die Rampe
hinunter. Das Haar fiel auf den Kissenbezug, und wenn er
fertig war, würde er ihn zusammenfalten und unter den Sitz
stecken.
Franklin fuhr aus dem Parkhaus und bog rechts ab, weg
vom Feuer, den Sirenen, dem Gestank, er fuhr gen Westen
durch die Stadt. Halt dich an die Geschwindigkeitsbegrenzung.
Du bist Wasser. Du wurdest in ein Gefäß gefüllt, das heißt:
Camper und Familienvater.
Er rieb sich mit der Hand über das Gesicht, fühlte die ungewohnte
Glätte. Er faltete den Kissenbezug und ließ ihn
zwischen die Sitze fallen. Der Rasierer landete wieder im
Handschuhfach. Wir werden es schaffen.
Und dann, vor sich, entdeckte er zwei Streifenwagen
mit Blinklicht. »Scheiße. Da sind Bullen. In die Betten.
Schnell.«
»Wir sind drin«, sagte Crystal.
CD-Spieler, ein bisschen Musik. Ich bin Wasser. Ich bin ein
Camper.
Als er sich dem Streifenwagen näherte, trat einer der Bullen
auf die Straße und bedeutete ihm mit einer Taschenlampe
anzuhalten. Sein Blut hämmerte in seiner Schläfe. Der Aufkleber,
Herrgott, der Aufkleber klebt noch an der Windschutzscheibe.
Er wollte ihn abziehen, fürchtete aber, dass die plötzliche
Bewegung auffiele. Er hielt am Straßenrand. »Keine Bewegung
«, murmelte er leise.
Der Bulle kam auf ihn zu. »Führerschein und Fahrzeugpapiere,
Sir«, sagte er und leuchtete Franklin ins Gesicht.
Der kniff die Augen zusammen und reichte dem Bullen die
verlangten Papiere, der sie im Strahl seiner Taschenlampe
untersuchte, auch auf das Spielzeug und die Stofftiere auf
dem Sitz leuchtete, sich ein bisschen weit zum Fenster hereinlehnte
und nach hinten leuchtete. »Ich wollte zurück zum
Zeltplatz und bin offenbar falsch abgebogen. Mein Sohn hat
Fieber bekommen, und ich musste ein Schmerzmittel für
Kinder besorgen.«
»Augenblick, bitte.«
Der Bulle ging mit Franklins falschen Ausweispapieren
zurück zum Streifenwagen. Er würde sie überprüfen und
feststellen, dass Jerome Carver ein guter Autofahrer war, der
in Titusville, Florida, lebte und in Cape Canaveral als Pro-
grammierer arbeitete. Verheiratet, ein Kind, keine Vorstrafen.
Ein ganz normaler Bürger.
Es sei denn, etwas läuft schief.
Franklin wartete. Schweißperlen bildeten sich auf seiner
Stirn, auf seinen Handflächen. Wie schnell konnte er die
Waffe unter dem Sitz hervorziehen? Nicht schnell genug. »Ladys,
Waffen in die Hand. Wenn ich ›los‹ sage, schießt ihr.«
Minuten vergingen. Er hörte noch mehr Sirenen, konnte
den Schein der Flammen im Außenspiegel sehen. Sein Mund
war mittlerweile knochentrocken.
Jetzt kam der Bulle wieder auf den Wagen zu. Ich bin
Wasser. Ich bin ein Camper.
»Bitte sehr, Mr Carver«, sagte der Bulle und reichte ihm
seine Papiere zurück. »Sie müssen vier Kreuzungen nach
Osten fahren, dann auf die Old Post Road abbiegen und dann
nach Norden zum Naturschutzgebiet. Nicht über die Vine.«
»Mache ich. Vielen Dank.«
Der Bulle trat zurück, Franklin ließ den Motor an und fuhr
los, seine Hände zitterten.
Teil 1
Die Vorwarnung
»Eine Hurrikan-Vorwarnung für Ihren Teil der Küste weist
auf die Möglichkeit hin, dass innerhalb von 36 Stunden ein
Hurrikan eintreffen könnte. Nach einer Vorwarnung sollte
Ihre Familie dem Notfallplan folgen ...«
National Hurricane Center
Tipps von der FEMA-Website für den Fall einer Hurrikan-Vorwarnung:
- Verfolgen Sie auf einem batteriebetriebenen Radio oder Fernseher die
Berichte über das Fortschreiten des Hurrikans
- Überprüfen Sie Ihre Notfallausstattung
- Tanken Sie
- Holen Sie Gegenstände wie Gartenmöbel, Spielzeug und Gartengeräte
herein und vertäuen Sie Gegenstände, die Sie nicht ins Haus holen können
- Sichern Sie Gebäude, indem Sie Fenster schließen und vernageln
- Entfernen sie Außenantennen
- Schalten Sie Kühlschrank und Kühltruhe auf die kältestmögliche Position
- Füllen Sie Trinkwasser in saubere Badewannen, Kübel, Flaschen, Kochtöpfe
- Verstauen Sie Wertsachen und persönliche Unterlagen in einem wasserdichten
Behälter im obersten Stockwerk ihres Hauses
- Überprüfen Sie den Evakuierungsplan
- Vertäuen Sie Ihr Boot sicher oder transportieren Sie es zu einem dafür
vorgesehenen sicheren Ort. Verwenden Sie Seile oder Ketten, um das Boot
auf dem Anhänger zu sichern
- Sorgen Sie dafür, dass ihre Familie über das Verhalten im Notfall
informiert ist
1
Abrupt öffneten sich ihre Augen, und sie stieß die Luft aus.
Mira Morales setzte sich im Bett auf und sah sich panisch
im Schlafzimmer um, sie war sicher, dass ihr Albtraum zum
Leben erwacht war. Eindringlinge im Haus, bewaffnete
Menschen, Annie in Gefahr ... Aber während sie das dachte,
begannen die Bilder bereits zu verblassen, ihr panischer Herzschlag
verlangsamte sich, die Angst nahm ab.
Sie blieb einen Augenblick sitzen, nahm die Vertrautheit
des Hauses um sie herum in sich auf. Die Geräusche der
Nacht beruhigten sie, das Flüstern der kühlen Luft durch die
Schlitze der Klimaanlage, das rhythmische Klicken des sich
drehenden Deckenventilators, Sheppards Schnarchen neben
ihr. Den Flur hinunter klapperten die alten Rohre in den
Wänden, weil jemand - entweder Annie oder Nadine - aufs
Klo gegangen war. Wahrscheinlich Annie, vermutete sie. Jetzt,
in den Sommerferien, lebte ihre Teenager-Tochter nach einem
ganz eigenen Rhythmus. Und wenn es Nadine gewesen wäre,
hätte Mira zudem die Gummireifen des Rollstuhls auf den
Fliesen im Flur quietschen hören. Sie bezweifelte, dass Nadine
heute Nacht überhaupt aufstehen würde.
Ihre Großmutter war genauso erschöpft gewesen wie Mira,
als sie schließlich gegen neun am Abend zuvor aus der Notaufnahme
zurückgekehrt waren. Sie hatten gestern zehn
Stunden im Krankenhaus verbracht, über die Hälfte der Zeit
damit, darauf zu warten, überhaupt dranzukommen. Erst als
Sheppard eingetroffen war, ging es voran, und auch nur, weil
er seine FBI-Marke vorzeigte und sich beschwerte, dass sie
eine Zweiundachtzigjährige mit einem gebrochenen Fuß ewig
warten ließen, obwohl sie erkennbar Schmerzen hatte.
Nach den Röntgenaufnahmen und der Besprechung
mehrerer Ärzte entschieden sie, dass Nadines Fuß nicht
operiert werden sollte, sie brauchte aber einen Gips. Ihr
Hausarzt, der befürchtete, dass sie nach ihrem Sturz von einer
Leiter im Buchladen eine Gehirnerschütterung hätte, hatte
dennoch auf einer Computertomografie bestanden. Nadine,
die weder Krankenhäuser noch Ärzte leiden konnte, hatte
gesagt, das könnte er vergessen, es ginge ihr gut und sie wollte
nach Hause. Der Arzt, der ihre Sturheit gewöhnt war, hatte
sich geweigert, sie gehen zu lassen, bis sie ihm versprach, dass
sie zwei Tage das Bett nicht verlassen würde, außer um aufs
Klo zu gehen, und dass sie zwei Wochen den Rollstuhl
benutzen würde. Oh, und noch etwas, hatte er hinzugesetzt,
wenn ihr schwindelig oder übel würde, müsste sie sofort zu
einer Computertomografie kommen.
Mira vermutete, dass Nadine wie ein kleines Kind die
Finger über Kreuz gelegt hatte, als sie zustimmte. So wie sie
sie kannte, würde Nadine morgen wieder im Laden sein, an
der Kasse arbeiten und aus dem Rollstuhl ihren Yogaunterricht
geben.
Mira streckte sich wieder aus und schloss die Augen, mit
dem Fuß suchte sie nach der beruhigenden Wärme von
Sheppards Zehen oder den Sohlen seiner Füße. Jeder Körperkontakt
wäre ausreichend. Sie ertastete seine Zehen und
drückte die Sohle ihres Fußes dagegen. Manchmal, wenn sie
das tat, übernahm sie den Traum, den er träumte, eine eigenartige
Erfahrung, die sie noch nie mit jemand zuvor erlebt
hatte, nicht einmal mit Tom, dem Mann, mit dem sie vor
Jahren verheiratet gewesen war. Aber diesmal kam nichts.
Mira zog ihr Bein zurück auf ihre Seite der Matratze. Es
war ein Doppelbett, das Sheppard und sie vor zwei Monaten
gekauft hatten, als er endlich bei ihr eingezogen war. Keiner
von ihnen war daran gewöhnt, das Bett mit jemand anderem
zu teilen. Obwohl sie seit über fünf Jahren ein Liebespaar
waren, war das Zusammenleben ein neues Kapitel, für das
sie ein ganz neues Wörterbuch brauchten, es mussten sich
neue Gewohnheiten und Abläufe einstellen. Sie jedenfalls
hatte sich noch nicht daran gewöhnt und war sicher, dass es
Sheppard genauso ging. Die Gewohnheiten, die man sich in
einer Ehe aneignete, dachte sie, waren einzigartig für diese
Beziehung. Tom war seit elf Jahren tot, Sheppards Ehe war
noch länger her, und jetzt waren sie ein Paar in den
Vierzigern, das daran gewöhnt war, allein im Einzelbett zu
liegen.
Sie konnte nicht wieder einschlafen - und sie wusste, dass
es teilweise daran lag, dass sie fürchtete, ihr Albtraum würde
dort weitergehen, wo er unterbrochen worden war. Die
Eindringlinge. Mira versuchte, ihre Gesichter heraufzubeschwören,
weitere Einzelheiten des Albtraums, sie versuchte
auszumachen, ob es bloß ein schlechter Traum oder eine Art
Warnung gewesen war. Aber ihre Anstrengungen brachten
auch nicht mehr als Sheppards Fuß. Frustriert schlug sie das
Laken beiseite und stieg aus dem Bett. Sie hatte Hunger.
Als sie die Küche betrat, gesellten sich alle drei Katzen
zu ihr, schlängelten sich zwischen ihren Beinen hindurch,
miauten nach Futter, Freiheit, Streicheleinheiten. Whiskers,
das Alphamännchen, ein schwarz-weißer Kater, gehörte
Nadine. Powder, eine weiße Katze mit beängstigend blauen
Augen, gehörte Sheppard, und die gescheckte Katze, Tigerlily,
war ihre. Und da kam auch schon Annies Tier angetrottet,
Ricki, eine wundervolle Golden-Retriever-Hündin mit rotgoldenem
Fell, die mit dem Schwanz wedelte, als sie die
Katzen entdeckte, ihre erweiterte Familie. Mira fütterte alle,
machte sich dann selbst einen Teller mit eiskalter Papaya,
Scheiben eiskalter Mango und einem halben getoasteten
English Muffin mit echter Butter zurecht, dann schnitt sie
sich noch etwas Cheddar-Käse dazu.
Nadine, seit über sechzig Jahren Veganerin, mochte noch
nicht einmal den Anblick von Käse oder Eiern im Kühlschrank
und bekam fast jedes Mal einen Anfall, wenn sie
Fisch oder Hühnchen entdeckte, die Sheppard gekauft hatte.
Sowohl Annie als auch Mira hatten wieder begonnen, Fisch
zu essen, als Sheppard eingezogen war, ein weiteres Unglück
auf der langen Liste der Dinge, die Nadine gegen ihn hatte.
Aber was soll's, dachte Mira. Ihre vegane Ernährung war
niemals eine Religion gewesen. Sie bezweifelte, dass sie je so
weit gehen würde, Huhn zu essen, aber nach Jahren mit
nichts als Gemüse, Obst und Soja, waren Käse, Eier und Fisch
eine willkommene Abwechslung.
Mira trug ihren Teller mit den Leckereien nach draußen,
setzte sich an den Rand des Pools und tauchte ihre Füße in
das wunderbar warme Wasser ein. Sterne glitzerten am herrlichen
Sommerhimmel, aber hier und da verschwanden sie
hinter schnell ziehenden Wolken. Hier unten auf der Erde
übersetzte sich ihre Schnelligkeit in eine angenehm warme,
feuchte Brise, die dann und wann zunahm, aber nicht genug,
um sie auf Hurrikan Danielle zurückführen zu können.
Genau genommen hatte sie bis gerade eben den Hurrikan
komplett vergessen.
Das Letzte, was sie gegen fünf gestern Nachmittag gehört
hatte, war, dass er auf Südkuba zuzog und Südflorida mit den
Keys nicht einmal streifen würde. Wunderbar. Sie hatte auch
ohne einen Hurrikan genug Sorgen.
Im Augenblick beschäftigte sie vor allem, dass einer der drei
Autoren, die am nächsten Abend beim Sommersonnenwendefest
Autogramme geben sollten, aufgrund eines familiären
Notfalls abgesagt hatte. Sie hoffte, einen Autor aus der Stadt
zu finden, der kurzfristig einspringen konnte, wollte sich aber
nicht darauf verlassen. Außerdem musste sie Nadines Yoga-
stunden für die nächsten sechs bis acht Wochen absagen -
oder eine Vertretung finden. Aber eine Vertretung würde
fünfundzwanzig Dollar die Stunde kosten, zweihundert die
Woche, achthundert im Monat, und das zusätzlich zu
Nadines normalem Gehalt. So viel Geld hatte sie im Moment
einfach nicht. Aber ohne Vertretung müsste sie selbst unter-
richten, was bedeutete, dass sie eine ihrer Teilzeitangestellten
auf Vollzeit setzen musste, oder Annie müsste sie währenddessen
vertreten.
Mira planschte mit den Füßen im warmen Wasser und
stellte ihren leeren Teller auf die Ziegel, die den Pool umrandeten.
Das Wasser lockte. Sie zog ihr Oberteil über den
Kopf, schlüpfte aus ihrer Hose und der Unterhose, dann ließ
sie sich ins Wasser gleiten. Sie schwamm mit geöffneten
Augen zwei Bahnen unter Wasser und genoss das seidige
Gefühl des warmen Wassers auf der nackten Haut. Nur eine
der Unterwasserleuchten im Pool brannte, sie warf eigenartige
Muster auf den Boden des Beckens. Dann und wann stiegen
Luftblasen auf, wenn sie den Atem ausstieß, und durchbrachen
die Symmetrie von Schatten und Formen.
Als sie am flachen Ende wieder auftauchte, sah sie erschrocken
Wayne Sheppard dort stehen, seine ganzen Einsdreiundneunzig
splitternackt. Er grinste. »Das sieht nach einer guten
Idee aus«, sagte er, kam die Stufen herunter und verschwand
im Wasser.
Mira sah ihm nach, seine Züge waren geschmeidig und
mühelos wie die eines Olympia-Schwimmers, dann sank sie
zurück ins Wasser und schwamm hinter ihm her. Sie trafen
sich am tiefen Ende, wo ein kleiner Vorsprung war, und saßen
dort unter den Sternen.
»Glaubst du, Nadine hat eine Gehirnerschütterung?«, fragte er.
Er erkundigte sich nach ihrer hellseherischen Wahrnehmung,
wollte nicht die medizinische Meinung ertragen.
Sheppard wusste, dass sie empathisch war, brachte das aber
offenbar nicht mit Krankenhäusern in Verbindung. Er konnte
sich nicht vorstellen, wie es für sie war, sich an einem Ort zu
öffnen, an dem der Schmerz der Standard war, an dem alles
gemessen wurde.
Als Nadine sich vor über fünf Jahren die Hüfte gebrochen
hatte, hatte Mira versucht, sie in der Notaufnahme zu lesen,
während sie darauf gewartet hatten, dass ein Arzt kam, und
war von den Symptomen aller anderen um sie herum getroffen
worden. Schmerzen, Schniefen, Husten, Fieber,
Schmerz und Elend. Der Mann in der Kabine neben Nadine
in jener Nacht hatte eine Lungenentzündung gehabt, und es
waren seine Symptome, die Mira letztlich übernommen
hatte, das Fieber, ein schreckliches Rasseln in der Brust, die
grausame Schwere der Glieder. Die Symptome waren so
realistisch gewesen, dass sie beinahe selbst in die Notaufnahme
gemusst hatte.
»Ich weiß es nicht. Ich habe nicht versucht, sie zu lesen.«
Er nickte, aber sie wusste nicht, ob das heißen sollte, dass
er verstand, warum sie es nicht versucht hatte, oder ob sein
Nicken bloß eine höfliche Entgegnung war. Wasser tropfte
aus seinem grau melierten Bart und von seinen Wimpern.
»Lies mich doch mal«, sagte er, schlang seine Arme um sie
und küsste ihr Ohr.
Dann setzte er sanfte, kühle Küsse auf ihren Hals, die
Kurve ihres Kinns, ihre Augenlider, ihren Mund. Er war der
einzige Mann, den sie je gekannt hatte, der regelmäßig ihre
Augenlider küsste, manchmal mit dem Mund, manchmal mit
seinen Lidern - er nannte es den Schmetterlingskuss. Mira
entspannte sich in Sheppards Armen, ihr Mund öffnete sich
unter seinem, ihr Blut pulste schneller, und trotz ihrer
Müdigkeit empfand sie Verlangen, trotz der Ereignisse des
Tages, trotz allem.
Und plötzlich stürzten sie sich im Wasser aufeinander, auf
dem kleinen Vorsprung. Ihr Hunger nach ihm überkam sie
oft in eigenartigen, unglücklichen Momenten - im Auto, in
der Garage, im Garten hinter dem Haus, im Buchladen, im
Supermarkt und an Orten wie diesem, einem abgeschiedenen
Ort, an dem doch jeden Augenblick Annie erscheinen und sie
sehen könnte.
Seine Hand schob sich zwischen ihre Schenkel, und Mira
presste ihre Hüften dem wundervollen Druck entgegen.
»Annie könnte rauskommen«, murmelte sie, den Mund an
seinem Hals, die Hüften kreisend, gleitend.
»Sie schläft. Ich habe nachgesehen.«
Er hob seine linke Hand unter ihr Kinn, berührte es,
beugte ihren Kopf nach hinten, legte ihren Hals für seinen
Mund frei. Gut, dass sie nicht standen. Zu knutschen war
im Wasser viel einfacher, wo seine Größe und die Schwerkraft
keine Rolle spielten. Mira sehnte sich plötzlich nach ihrem
Bett, dem privaten Raum, aber sie konnte sich auch nicht
bremsen, sie konnte die Bewegung ihrer Hüften nicht
stoppen, während sein Mund ihren liebkoste.
Die Hitze. Das außerordentliche Vergnügen. Das Gefühl
des Wassers um sie herum, das ihre Körper umhüllte. Ihre
Finger spannten sich auf seinem Rücken, die Nägel gruben
sich in seine Haut. Sie stöhnte und bog den Rücken, bettelte
nach mehr, mehr.
Sie hörte die Geräusche, die sie von sich gab, das Stöhnen,
das Murmeln, die Tierlaute, aber all das kam ihr fern vor, als
hätte es nichts mit ihr zu tun. Dann zog sich ihr alles zusammen,
und er war in ihr, er drückte sie gegen den Rand des
Swimmingpools, er bewegte sich schnell und kraftvoll auf
seinen Höhepunkt zu.
Und als es vorüber war, klammerten sie sich aneinander,
das Wasser hielt und stützte sie, sie keuchten wie Marathonläufer.
Mira empfand große Dankbarkeit. Er verstand, dass
Nadine Miras letzte Verbindung dazu war, wer sie geworden
war, und eine Verletzung Nadines war eine Verletzung Miras.
Eine Erinnerung daran, wie sehr diese Frau ihr Leben geformt
hatte, ihre Fähigkeiten, den Kern ihres Seins. In den letzten
zehn oder zwölf Stunden hatte sie sich emotional und psychisch
verschlossen, abgeschaltet, losgelöst, und Sheppard
hatte das verstanden und sie zurückgeholt.
Egal, dass er auch einer der begierigsten Männer war, die
sie je kennengelernt hatte, er konnte überall vögeln, jederzeit
und an jedem Ort. Egal. Diesmal, das wusste sie, ging es um
sie, um ihre Verbindung zu Nadine. Er hatte sie gezwungen,
wieder zu fühlen.
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Copyright der Originalausgabe © 2005 by T.J. MacGregor
Published by Arrangement with Patricia Janeshutz MacGregor
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2011 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Übersetzung: Ulrich Hoffmann
Projektleitung: Librisco Consult, München
Redaktion: Dr. Thomas Rosky, München
Umschlaggestaltung: zeichenpool, München
Umschlagmotiv: Shutterstock (© Zastol`skiy Victor Leonidovich;
© steamroller_blues)
Satz: Lydia Maria Kühn, Fünfstetten
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-439-7
2014 2013 2012 2011
Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Ausgabe an.
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Bibliographische Angaben
- Autor: T. J. MacGregor
- 2013, 322 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863657047
- ISBN-13: 9783863657048
- Erscheinungsdatum: 01.03.2013
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