Winter People - Wer die Toten weckt / Ullstein eBooks (ePub)
Wer die Toten weckt
Durch einen grausamen Mord verliert Sara ihre kleine Tochter Gertie. Ein Brief mit einem uralten Geheimnis hilft ihr, Gertie von den Toten zurückzuholen - für sieben Tage, in denen sie von ihrem geliebten Kind Abschied nehmen kann. Doch sie ahnt nicht,...
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Produktinformationen zu „Winter People - Wer die Toten weckt / Ullstein eBooks (ePub)“
Durch einen grausamen Mord verliert Sara ihre kleine Tochter Gertie. Ein Brief mit einem uralten Geheimnis hilft ihr, Gertie von den Toten zurückzuholen - für sieben Tage, in denen sie von ihrem geliebten Kind Abschied nehmen kann. Doch sie ahnt nicht, worauf sie sich einlässt. Denn manchmal finden die Toten nicht zurück. Und das Grauen hält Einzug in die Wälder von Vermont ...
Lese-Probe zu „Winter People - Wer die Toten weckt / Ullstein eBooks (ePub)“
Winter People - Wer die Toten weckt von Jennifer McMahonMeine geliebte Tante Sara Harrison Shea wurde im Frühling des Jahres 1908 brutal ermordet. Sie war einunddreißig Jahre alt.
Kurz nach ihrem Tod sammelte ich alle von ihr verfassten Tagebucheinträge und Notizen, soweit ich ihrer habhaft werden konnte. Ich barg sie aus Dutzenden über das ganze Haus verteilter, geschickt ausgewählter Geheimverstecke. Meine Tante war sich der Gefahr bewusst gewesen, die diese Aufzeichnungen für sie bedeuteten.
Innerhalb des nächsten Jahres machte ich es mir zur Aufgabe, die Einträge zu ordnen und zu einem Buch zusammenzufassen. Ich ging ganz in dieser Arbeit auf, hatte ich doch rasch erkannt, dass der Inhalt dieser Seiten imstande war, alles zu verändern, was wir über Leben und Tod zu wissen glaubten.
Ferner wage ich die Behauptung, dass die wichtigsten Eintragungen, diejenigen mit den erschütterndsten Geheimnissen und Enthüllungen, auf den letzten Seiten ihres Tagebuchs zu finden waren, da sie sie nur wenige Stunden vor ihrem Tod verfasst hatte.
Von diesen Seiten fehlt bislang jede Spur.
Bei der Transkription der Einträge habe ich mir keinerlei Freiheiten erlaubt; sie sind von mir in keiner Weise ausgeschmückt oder verändert worden. So unglaublich die Geschichte meiner Tante auch klingen mag, ich bin überzeugt, dass es sich dabei um Tatsachen handelt, nicht um Erdachtes. Entgegen der allgemeinen Auffassung war meine Tante bei klarem Verstand.
1908
29. Januar 1908 Als ich zum ersten Mal eine Schlafende sah, war ich neun Jahre alt.
Es war das Frühjahr bevor Papa Auntie fortschickte und bevor wir meinen Bruder Jacob verloren. Meine Schwester Caroline hatte im Herbst geheiratet und war nach Graniteville gezogen.
... mehr
Ich durchstreifte den Wald nahe der Teufelshand, wo Papa uns zu spielen verboten hatte. Die Bäume hatten ausgeschlagen, und ihr Laub bildete einen üppig grünen Baldachin über mir. Die Erde war warm von der Sonne, und der feuchte Wald roch satt nach Lehm. Hier und dort blühten unter Buchen, Vogelaugenahorn und Birken die ersten Frühlingsblumen: Waldlilien, Hundszahn und meine Lieblingsblume, der dreiblättrige Feuerkolben - eine drollige kleine Pflanze mit einem Geheimnis: Wenn man die gestreifte Blattkapuze anhob, kam darunter der Blütenstand zum Vorschein. Auntie hatte es mir gezeigt und mir gesagt, dass man die Wurzelknollen ausgraben und wie Rüben kochen könne. Ich hatte gerade eine dieser Pflanzen entdeckt und zog das Hüllblatt zurück, um mir den im Kelch verborgenen Blütenstand anzusehen, als ich langsame, gleichmäßige Schritte in meine Richtung kommen hörte, Füße, die sich schwerfällig durchs trockene Laub schoben und gegen Wurzeln stießen. Ich wollte davonlaufen, war jedoch vor Angst wie gelähmt und kauerte mich hinter einen Stein. Gleich darauf kam eine Gestalt auf die Lichtung.
Ich erkannte sie sofort - Hester Jameson.
Sie war zwei Wochen zuvor an Typhus gestorben. Ich war gemeinsam mit Papa und Jacob auf ihrer Beerdigung gewesen und hatte gesehen, wie sie auf dem Friedhof hinter der Kirche oben bei der Moosbeerenwiese in die Erde gelegt worden war. Die ganze Schule war gekommen, und alle hatten ihren besten Sonntagsstaat an.
Hesters Vater Erwin war der Besitzer von Jamesons Sattelzeug und Futtermittel in der River Street. Er trug eine schwarze Jacke mit blank gewetzten Ärmeln, und seine rote Nase glänzte feucht. Neben ihm stand seine füllige Frau Cora, die in der Stadt ein Schneideratelier hatte. Cora Jameson schluchzte in ein Spitzentaschentuch, und ihr ganzer Körper zitterte und bebte dabei.
Es war nicht mein erstes Begräbnis, doch nie zuvor hatte ich gesehen, wie jemand beerdigt wurde, der im selben Alter war wie ich. Für gewöhnlich waren es die sehr Alten oder sehr Jungen, die starben. Ich konnte den Blick nicht von ihrem Sarg abwenden, der genau die passende Größe für ein Mädchen wie mich hatte. Ich starrte die schmucklose Holzkiste an und fragte mich, wie es sich wohl anfühlen mochte, darin zu liegen. Davon wurde mir ganz benommen zumute, was Papa gemerkt haben musste, denn er nahm meine Hand, drückte sie und zog mich an sich.
Reverend Ayers, damals noch ein junger Mann, erklärte, dass Hester nun bei den Engeln wohne. Unser alter Priester Reverend Phelps hatte einen Buckel gehabt und war halb taub gewesen, und von seinen Predigten hatte ich nie ein Wort verstanden - sie waren voller furchterregender Metaphern über Sünde und Erlösung gewesen. Doch wenn Reverend Ayers mit seinen strahlend blauen Augen sprach, hatte ich das Gefühl, als wäre jedes einzelne seiner Worte allein an mich gerichtet.
»Ich bin der, der euch Kraft schenkt. Ich habe euch erschaffen, und ich werde euch tragen. Ich werde euch stützen, und ich werde euch erretten.«
Zum ersten Mal begriff ich das Wort Gottes, weil es aus Reverend Ayers' Mund kam. Seine Stimme, behaupteten die Mädchen, könne selbst den leibhaftigen Satan besänftigen.
Ein Rotschulterstärling rief sein konk-a-riih von einem Haselstrauch unweit der Grabstelle. Er plusterte sein Gefieder auf und ließ seinen Ruf wieder und wieder erklingen, so laut er konnte. Sein Gesang war beinahe hypnotisch - selbst Reverend Ayers hielt kurz inne und blickte sich nach ihm um.
Mrs Jameson sank laut weinend auf die Knie. Mr Jameson versuchte sie hochzuziehen, doch ihm fehlte die Kraft.
Ich stand ganz dicht bei Papa und hielt seine Hand, während Erde auf den Sarg der armen Hester Jameson geschaufelt wurde. Sie war in meiner Klasse gewesen. Hester hatte einen schiefen Schneidezahn gehabt, aber dafür ein wunderhübsches zartes Gesicht. Und sie war die Klassenbeste in Arithmetik gewesen. Einmal hatte sie mir zu meinem Geburtstag eine Karte mit einer gepressten Blume darin geschenkt. Ein getrocknetes, perfekt erhaltenes Veilchen. Möge dieser Tag so einzigartig sein, wie Du es bist, hatte sie in gestochener Schönschrift auf die Karte geschrieben. Ich hatte die Blume in meine Bibel gelegt, und dort war sie jahrelang geblieben, bis sie irgendwann zerbröselte oder herausfiel, ich weiß es nicht mehr.
Und nun, wenige Wochen später, entdeckte mich die Schlafende Hester dort oben im Wald, während ich mich hinter meinen Stein duckte. Ich werde nie den Blick ihrer Augen vergessen - es war der verängstigte, halb erkennende Blick eines Menschen, der aus einem schrecklichen Traum erwacht ist.
Ich hatte von den Schlafenden gehört; es gab sogar ein Spiel, das wir manchmal auf dem Schulhof spielten. Dabei musste sich ein Kind als Tote in einen Kreis aus Veilchen und Vergissmeinnicht legen, die die anderen Kinder gepflückt hatten. Dann beugte sich jemand zu dem toten Mädchen herunter und flüsterte ihm Zauberworte ins Ohr, woraufhin es aufsprang und die anderen Kinder zu fangen versuchte. Diejenige, die zuerst gefangen wurde, musste als Nächste sterben.
Ich glaube, ich habe dieses Spiel sogar einmal mit Hester Jameson gespielt.
Ich hatte das Gerede gehört, die Gerüchte über Schlafende, die angeblich von ihren trauernden Ehemännern oder -frauen aus dem Land der Toten zurückgerufen worden waren. Allerdings war ich überzeugt davon, dass sie allein in den Geschichten existierten, die alte Frauen einander beim Wäschefalten oder Sockenstopfen erzählten - als Zeitvertreib und um dafür zu sorgen, dass neugierige Kinder vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause eilten.
Bis zu diesem Zeitpunkt war ich mir ganz sicher gewesen, dass Gott in seiner unendlichen Weisheit eine solche Abscheulichkeit niemals zugelassen hätte.
Hester stand keine zehn Fuß von mir entfernt. Ihr blaues Kleid war fleckig und zerrissen, ihr helles Haar struppig wie Maisgrannen. Sie verströmte den dumpfen Geruch nasser Erde, doch da war noch etwas anderes, ein beißender, öliger Brandgeruch - etwa so, wie wenn man eine Talgkerze ausbläst.
Unsere Blicke trafen sich, und ich wollte etwas sagen, ihren Namen rufen, doch alles, was mir über die Lippen kam, war ein ersticktes Hss.
Hester floh in den Wald zurück wie ein aufgescheuchter Hase. Ich vermochte mich nicht zu rühren und drückte mich kläglich an meinen Stein wie eine Flechte.
Kurz darauf kam auf dem Pfad, der zur Teufelshand hinaufführte, eine zweite Gestalt gelaufen, die Hesters Namen rief.
Es war Cora Jameson, ihre Mutter.
Als sie mich sah, blieb sie stehen. Ihre Wangen glühten, ihre Miene war verzweifelt. Sie hatte Kratzer im Gesicht und an den Armen. Blätter und Zweige hatten sich in ihrem Haar verfangen.
»Sag niemandem etwas davon«, keuchte sie atemlos.
»Aber warum?«, fragte ich und kam hinter meinem Stein hervor.
Sie blickte mir geradewegs ins Gesicht, ja fast durch mich hindurch, als wäre ich eine Fensterscheibe voller Schlieren. »Eines Tages, Sara«, sagte sie, »wirst du vielleicht einen Menschen so sehr lieben, dass du es verstehst.«
Dann hastete sie weiter, in den Wald hinein, der Schlafenden hinterher.
Später erzählte ich Auntie davon.
»Ist das wirklich möglich?«, wollte ich von ihr wissen. »Jemanden wieder lebendig zu machen?«
Wir waren unten am Fluss und pflückten Farnspitzen. Wie jedes Frühjahr füllten wir Aunties Korb mit den noch eingerollten Trieben, um aus ihnen zu Hause mit verschiedenen wilden Gemüsen und Kräutern, die Auntie unterwegs sammelte, eine dicke Suppe zu kochen. Außerdem wollten wir nach den Fallen sehen - zwei Tage zuvor hatte Auntie einen Biber gefangen, und nun hoffte sie auf einen zweiten. Biberpelze waren kostbar, und man erzielte gute Preise für sie. Einst seien die Biber fast so zahlreich gewesen wie Eichhörnchen, hatte Auntie mir erklärt, doch Fallensteller hätten die Tiere beinahe ausgerottet.
Buckshot begleitete uns, die Nase am Boden, die Ohren auf jeden Laut horchend. Ich wusste nicht, ob er ganz oder nur zur Hälfte Wolf war. Auntie hatte ihn als Welpen gefunden. Jemand hatte ihn angeschossen, und er war in eine ihrer Fallgruben gestürzt. Sie hatte ihn mit zu sich nach Hause genommen, den groben Schrot aus seinem Fleisch entfernt, seine Wunden versorgt und ihn gesund gepflegt. Seitdem wich er ihr nicht von der Seite.
»Es war sein Glück, dass du ihn gefunden hast«, hatte ich gesagt, nachdem ich die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte.
»Mit Glück hatte es nichts zu tun«, hatte Auntie mir widersprochen. »Er und ich waren füreinander bestimmt.«
Bei keinem anderen Hund - überhaupt bei keinem Tier - habe ich jemals solche Treue erlebt. Seine Wunden waren verheilt, doch das Schrot hatte sein rechtes Auge verletzt, so dass es nun blind und milchig weiß war. Sein Geisterauge, wie Auntie es nannte.
»Er war dem Tod so nahe, dass er mit einem Auge immer noch dort ist«, erklärte sie. Ich liebte Buckshot, hasste jedoch dieses milchweiße Mondauge, das alles und gleichzeitig nichts zu sehen schien.
Auntie und ich waren nicht blutsverwandt, doch sie hatte sich meiner angenommen und mich großgezogen, nachdem meine Mutter bei meiner Geburt gestorben war. Ich hatte keinerlei Erinnerungen an meine Mutter - die einzigen Beweise ihrer Existenz waren das Hochzeitsfoto meiner Eltern, die Erzählungen meiner älteren Geschwister und der von ihr genähte Quilt, unter dem ich Nacht für Nacht schlief.
Mein Bruder sagte mir, dass ich das Lachen meiner Mutter geerbt hätte. Meine Schwester meinte, Mutter sei einst die beste Tänzerin im County gewesen, und alle Mädchen hätten sie beneidet.
Aunties Familie kam aus dem Norden, aus Quebec. Ihr Vater war Fallensteller gewesen, ihre Mutter eine Inuit.
Auntie hatte stets ein Jagdmesser bei sich und trug einen langen Mantel aus Rehfell, der mit bunten Perlen und Stachelschweinstacheln verziert war. Sie sprach Französisch und sang Lieder in einer Sprache, von der ich nie herausfand, welche es war. Am rechten Zeigefinger trug sie einen aus vergilbtem Bein geschnitzten Ring.
»Was steht da?«, fragte ich sie einmal und berührte die eingeritzten Buchstaben und Symbole auf dem Ring.
»Dass das Leben ein Kreis ist«, antwortete sie.
Die Leute im Ort fürchteten sich vor Auntie, doch ihre Furcht hielt sie nicht davon ab, den ausgetretenen Pfad zu ihrer Waldhütte draußen hinter der Teufelshand hinaufzusteigen und ihr Geldmünzen, Honig und Whiskey zu bringen - was immer sich gegen ihre Arzneien eintauschen ließ. Auntie hatte Tropfen gegen die Kolik, Tee gegen Fieber, sogar ein kleines blaues Fläschchen, von dem sie schwor, es enthalte einen Trank, der so stark sei, dass ein einziger Tropfen davon einem Menschen jeden Herzenswunsch erfüllen könne. Ich besaß genug Verstand, nicht an ihren Worten zu zweifeln.
Ich wusste noch einige andere Dinge über Auntie. Ich hatte gesehen, wie sie im Morgengrauen aus Papas Schlafzimmer geschlüpft war; hatte die Geräusche gehört, die durch seine verschlossene Tür drangen, wann immer sie ihn dort besuchte.
Ich wusste auch, dass es nicht klug war, sie zu reizen. Sie besaß ein aufbrausendes Temperament und hatte wenig Nachsicht mit jenen, die anderer Meinung waren als sie. Weigerte sich ein Kunde, für ihre Dienste zu zahlen, ging sie zu seinem Haus, verstreute ein schwarzes Pulver aus einem ihrer vielen Ledersäckchen und sprach eine seltsame Formel, einen Fluch. Danach wurde seine Familie von schrecklichen Unglücksfällen heimgesucht: Krankheit, Feuer, Missernten, ja sogar Tod.
Ich warf eine Handvoll dunkelgrüner Farntriebe in den Korb.
»Auntie, bitte sag es mir«, bettelte ich. »Können die Toten zurückkehren? «
Auntie sah mich lange an. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt und die Blicke aus ihren kleinen dunklen Augen fest auf mich gerichtet.
»Ja«, antwortete sie schließlich. »Es gibt einen Weg. Nur wenige sind mit ihm vertraut. Diejenigen, die das Geheimnis kennen, geben es an ihre Kinder weiter. Weil du für mich fast wie ein eigenes Kind bist, werde ich irgendwann einmal das Geheimnis an dich weitergeben. Ich werde alles niederschreiben, was ich über die Schlafenden weiß. Dann werde ich die Seiten zusammenfalten, sie in einen Umschlag stecken und ihn mit Wachs versiegeln. Du wirst ihn an einem sicheren Ort verwahren, und eines Tages, wenn du bereit bist, wirst du ihn öffnen.«
»Wie soll ich denn wissen, ob ich bereit bin?«, fragte ich.
Sie lächelte und entblößte dabei ihre kleinen Zähne, die spitz waren wie die eines Fuchses und braun vom Tabak. »Du wirst es wissen.«
Ich schreibe diese Worte heimlich, unter der Bettdecke. Martin und Lucius glauben, dass ich schlafe. Ich höre sie unten Kaffee trinken und darüber reden, wie es um mich steht (nicht gut, fürchte ich).
Ich habe versucht, mich daran zu erinnern, wie alles anfing, habe die Einzelteile aneinandergefügt, so wie wenn man einen Quilt näht. Aber ach, was für ein hässlicher, verdorbener Quilt der meine wäre!
»Gertie«, höre ich Martins Stimme über das Klappern seines Löffels hinweg, mit dem er den Kaffee in der Blechtasse umrührt, aus der er so gerne trinkt. Ich stelle mir seine von tiefen Sorgenfalten zerfurchte Stirn vor; wie traurig sein Gesicht aussehen muss, nachdem er ihren Namen ausgesprochen hat.
Ich wage nicht zu atmen und lausche angestrengt.
»Manchmal kann ein Schicksalsschlag einen Menschen zugrunde richten«, sagt Lucius, »so dass er sich nie wieder davon erholt.«
Wenn ich jetzt die Augen schließe, sehe ich noch immer das Gesicht meiner kleinen Gertie vor mir und spüre ihren zuckersüßen Atem an meiner Wange. Die Erinnerung an unseren letzten gemeinsamen Morgen ist in mir noch so lebendig, dass ich sie zu mir sagen höre: »Wenn Schnee schmilzt und zu Wasser wird, erinnert er sich dann noch daran, früher einmal Schnee gewesen zu sein?«
© Ullstein eBooks
Ich durchstreifte den Wald nahe der Teufelshand, wo Papa uns zu spielen verboten hatte. Die Bäume hatten ausgeschlagen, und ihr Laub bildete einen üppig grünen Baldachin über mir. Die Erde war warm von der Sonne, und der feuchte Wald roch satt nach Lehm. Hier und dort blühten unter Buchen, Vogelaugenahorn und Birken die ersten Frühlingsblumen: Waldlilien, Hundszahn und meine Lieblingsblume, der dreiblättrige Feuerkolben - eine drollige kleine Pflanze mit einem Geheimnis: Wenn man die gestreifte Blattkapuze anhob, kam darunter der Blütenstand zum Vorschein. Auntie hatte es mir gezeigt und mir gesagt, dass man die Wurzelknollen ausgraben und wie Rüben kochen könne. Ich hatte gerade eine dieser Pflanzen entdeckt und zog das Hüllblatt zurück, um mir den im Kelch verborgenen Blütenstand anzusehen, als ich langsame, gleichmäßige Schritte in meine Richtung kommen hörte, Füße, die sich schwerfällig durchs trockene Laub schoben und gegen Wurzeln stießen. Ich wollte davonlaufen, war jedoch vor Angst wie gelähmt und kauerte mich hinter einen Stein. Gleich darauf kam eine Gestalt auf die Lichtung.
Ich erkannte sie sofort - Hester Jameson.
Sie war zwei Wochen zuvor an Typhus gestorben. Ich war gemeinsam mit Papa und Jacob auf ihrer Beerdigung gewesen und hatte gesehen, wie sie auf dem Friedhof hinter der Kirche oben bei der Moosbeerenwiese in die Erde gelegt worden war. Die ganze Schule war gekommen, und alle hatten ihren besten Sonntagsstaat an.
Hesters Vater Erwin war der Besitzer von Jamesons Sattelzeug und Futtermittel in der River Street. Er trug eine schwarze Jacke mit blank gewetzten Ärmeln, und seine rote Nase glänzte feucht. Neben ihm stand seine füllige Frau Cora, die in der Stadt ein Schneideratelier hatte. Cora Jameson schluchzte in ein Spitzentaschentuch, und ihr ganzer Körper zitterte und bebte dabei.
Es war nicht mein erstes Begräbnis, doch nie zuvor hatte ich gesehen, wie jemand beerdigt wurde, der im selben Alter war wie ich. Für gewöhnlich waren es die sehr Alten oder sehr Jungen, die starben. Ich konnte den Blick nicht von ihrem Sarg abwenden, der genau die passende Größe für ein Mädchen wie mich hatte. Ich starrte die schmucklose Holzkiste an und fragte mich, wie es sich wohl anfühlen mochte, darin zu liegen. Davon wurde mir ganz benommen zumute, was Papa gemerkt haben musste, denn er nahm meine Hand, drückte sie und zog mich an sich.
Reverend Ayers, damals noch ein junger Mann, erklärte, dass Hester nun bei den Engeln wohne. Unser alter Priester Reverend Phelps hatte einen Buckel gehabt und war halb taub gewesen, und von seinen Predigten hatte ich nie ein Wort verstanden - sie waren voller furchterregender Metaphern über Sünde und Erlösung gewesen. Doch wenn Reverend Ayers mit seinen strahlend blauen Augen sprach, hatte ich das Gefühl, als wäre jedes einzelne seiner Worte allein an mich gerichtet.
»Ich bin der, der euch Kraft schenkt. Ich habe euch erschaffen, und ich werde euch tragen. Ich werde euch stützen, und ich werde euch erretten.«
Zum ersten Mal begriff ich das Wort Gottes, weil es aus Reverend Ayers' Mund kam. Seine Stimme, behaupteten die Mädchen, könne selbst den leibhaftigen Satan besänftigen.
Ein Rotschulterstärling rief sein konk-a-riih von einem Haselstrauch unweit der Grabstelle. Er plusterte sein Gefieder auf und ließ seinen Ruf wieder und wieder erklingen, so laut er konnte. Sein Gesang war beinahe hypnotisch - selbst Reverend Ayers hielt kurz inne und blickte sich nach ihm um.
Mrs Jameson sank laut weinend auf die Knie. Mr Jameson versuchte sie hochzuziehen, doch ihm fehlte die Kraft.
Ich stand ganz dicht bei Papa und hielt seine Hand, während Erde auf den Sarg der armen Hester Jameson geschaufelt wurde. Sie war in meiner Klasse gewesen. Hester hatte einen schiefen Schneidezahn gehabt, aber dafür ein wunderhübsches zartes Gesicht. Und sie war die Klassenbeste in Arithmetik gewesen. Einmal hatte sie mir zu meinem Geburtstag eine Karte mit einer gepressten Blume darin geschenkt. Ein getrocknetes, perfekt erhaltenes Veilchen. Möge dieser Tag so einzigartig sein, wie Du es bist, hatte sie in gestochener Schönschrift auf die Karte geschrieben. Ich hatte die Blume in meine Bibel gelegt, und dort war sie jahrelang geblieben, bis sie irgendwann zerbröselte oder herausfiel, ich weiß es nicht mehr.
Und nun, wenige Wochen später, entdeckte mich die Schlafende Hester dort oben im Wald, während ich mich hinter meinen Stein duckte. Ich werde nie den Blick ihrer Augen vergessen - es war der verängstigte, halb erkennende Blick eines Menschen, der aus einem schrecklichen Traum erwacht ist.
Ich hatte von den Schlafenden gehört; es gab sogar ein Spiel, das wir manchmal auf dem Schulhof spielten. Dabei musste sich ein Kind als Tote in einen Kreis aus Veilchen und Vergissmeinnicht legen, die die anderen Kinder gepflückt hatten. Dann beugte sich jemand zu dem toten Mädchen herunter und flüsterte ihm Zauberworte ins Ohr, woraufhin es aufsprang und die anderen Kinder zu fangen versuchte. Diejenige, die zuerst gefangen wurde, musste als Nächste sterben.
Ich glaube, ich habe dieses Spiel sogar einmal mit Hester Jameson gespielt.
Ich hatte das Gerede gehört, die Gerüchte über Schlafende, die angeblich von ihren trauernden Ehemännern oder -frauen aus dem Land der Toten zurückgerufen worden waren. Allerdings war ich überzeugt davon, dass sie allein in den Geschichten existierten, die alte Frauen einander beim Wäschefalten oder Sockenstopfen erzählten - als Zeitvertreib und um dafür zu sorgen, dass neugierige Kinder vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause eilten.
Bis zu diesem Zeitpunkt war ich mir ganz sicher gewesen, dass Gott in seiner unendlichen Weisheit eine solche Abscheulichkeit niemals zugelassen hätte.
Hester stand keine zehn Fuß von mir entfernt. Ihr blaues Kleid war fleckig und zerrissen, ihr helles Haar struppig wie Maisgrannen. Sie verströmte den dumpfen Geruch nasser Erde, doch da war noch etwas anderes, ein beißender, öliger Brandgeruch - etwa so, wie wenn man eine Talgkerze ausbläst.
Unsere Blicke trafen sich, und ich wollte etwas sagen, ihren Namen rufen, doch alles, was mir über die Lippen kam, war ein ersticktes Hss.
Hester floh in den Wald zurück wie ein aufgescheuchter Hase. Ich vermochte mich nicht zu rühren und drückte mich kläglich an meinen Stein wie eine Flechte.
Kurz darauf kam auf dem Pfad, der zur Teufelshand hinaufführte, eine zweite Gestalt gelaufen, die Hesters Namen rief.
Es war Cora Jameson, ihre Mutter.
Als sie mich sah, blieb sie stehen. Ihre Wangen glühten, ihre Miene war verzweifelt. Sie hatte Kratzer im Gesicht und an den Armen. Blätter und Zweige hatten sich in ihrem Haar verfangen.
»Sag niemandem etwas davon«, keuchte sie atemlos.
»Aber warum?«, fragte ich und kam hinter meinem Stein hervor.
Sie blickte mir geradewegs ins Gesicht, ja fast durch mich hindurch, als wäre ich eine Fensterscheibe voller Schlieren. »Eines Tages, Sara«, sagte sie, »wirst du vielleicht einen Menschen so sehr lieben, dass du es verstehst.«
Dann hastete sie weiter, in den Wald hinein, der Schlafenden hinterher.
Später erzählte ich Auntie davon.
»Ist das wirklich möglich?«, wollte ich von ihr wissen. »Jemanden wieder lebendig zu machen?«
Wir waren unten am Fluss und pflückten Farnspitzen. Wie jedes Frühjahr füllten wir Aunties Korb mit den noch eingerollten Trieben, um aus ihnen zu Hause mit verschiedenen wilden Gemüsen und Kräutern, die Auntie unterwegs sammelte, eine dicke Suppe zu kochen. Außerdem wollten wir nach den Fallen sehen - zwei Tage zuvor hatte Auntie einen Biber gefangen, und nun hoffte sie auf einen zweiten. Biberpelze waren kostbar, und man erzielte gute Preise für sie. Einst seien die Biber fast so zahlreich gewesen wie Eichhörnchen, hatte Auntie mir erklärt, doch Fallensteller hätten die Tiere beinahe ausgerottet.
Buckshot begleitete uns, die Nase am Boden, die Ohren auf jeden Laut horchend. Ich wusste nicht, ob er ganz oder nur zur Hälfte Wolf war. Auntie hatte ihn als Welpen gefunden. Jemand hatte ihn angeschossen, und er war in eine ihrer Fallgruben gestürzt. Sie hatte ihn mit zu sich nach Hause genommen, den groben Schrot aus seinem Fleisch entfernt, seine Wunden versorgt und ihn gesund gepflegt. Seitdem wich er ihr nicht von der Seite.
»Es war sein Glück, dass du ihn gefunden hast«, hatte ich gesagt, nachdem ich die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte.
»Mit Glück hatte es nichts zu tun«, hatte Auntie mir widersprochen. »Er und ich waren füreinander bestimmt.«
Bei keinem anderen Hund - überhaupt bei keinem Tier - habe ich jemals solche Treue erlebt. Seine Wunden waren verheilt, doch das Schrot hatte sein rechtes Auge verletzt, so dass es nun blind und milchig weiß war. Sein Geisterauge, wie Auntie es nannte.
»Er war dem Tod so nahe, dass er mit einem Auge immer noch dort ist«, erklärte sie. Ich liebte Buckshot, hasste jedoch dieses milchweiße Mondauge, das alles und gleichzeitig nichts zu sehen schien.
Auntie und ich waren nicht blutsverwandt, doch sie hatte sich meiner angenommen und mich großgezogen, nachdem meine Mutter bei meiner Geburt gestorben war. Ich hatte keinerlei Erinnerungen an meine Mutter - die einzigen Beweise ihrer Existenz waren das Hochzeitsfoto meiner Eltern, die Erzählungen meiner älteren Geschwister und der von ihr genähte Quilt, unter dem ich Nacht für Nacht schlief.
Mein Bruder sagte mir, dass ich das Lachen meiner Mutter geerbt hätte. Meine Schwester meinte, Mutter sei einst die beste Tänzerin im County gewesen, und alle Mädchen hätten sie beneidet.
Aunties Familie kam aus dem Norden, aus Quebec. Ihr Vater war Fallensteller gewesen, ihre Mutter eine Inuit.
Auntie hatte stets ein Jagdmesser bei sich und trug einen langen Mantel aus Rehfell, der mit bunten Perlen und Stachelschweinstacheln verziert war. Sie sprach Französisch und sang Lieder in einer Sprache, von der ich nie herausfand, welche es war. Am rechten Zeigefinger trug sie einen aus vergilbtem Bein geschnitzten Ring.
»Was steht da?«, fragte ich sie einmal und berührte die eingeritzten Buchstaben und Symbole auf dem Ring.
»Dass das Leben ein Kreis ist«, antwortete sie.
Die Leute im Ort fürchteten sich vor Auntie, doch ihre Furcht hielt sie nicht davon ab, den ausgetretenen Pfad zu ihrer Waldhütte draußen hinter der Teufelshand hinaufzusteigen und ihr Geldmünzen, Honig und Whiskey zu bringen - was immer sich gegen ihre Arzneien eintauschen ließ. Auntie hatte Tropfen gegen die Kolik, Tee gegen Fieber, sogar ein kleines blaues Fläschchen, von dem sie schwor, es enthalte einen Trank, der so stark sei, dass ein einziger Tropfen davon einem Menschen jeden Herzenswunsch erfüllen könne. Ich besaß genug Verstand, nicht an ihren Worten zu zweifeln.
Ich wusste noch einige andere Dinge über Auntie. Ich hatte gesehen, wie sie im Morgengrauen aus Papas Schlafzimmer geschlüpft war; hatte die Geräusche gehört, die durch seine verschlossene Tür drangen, wann immer sie ihn dort besuchte.
Ich wusste auch, dass es nicht klug war, sie zu reizen. Sie besaß ein aufbrausendes Temperament und hatte wenig Nachsicht mit jenen, die anderer Meinung waren als sie. Weigerte sich ein Kunde, für ihre Dienste zu zahlen, ging sie zu seinem Haus, verstreute ein schwarzes Pulver aus einem ihrer vielen Ledersäckchen und sprach eine seltsame Formel, einen Fluch. Danach wurde seine Familie von schrecklichen Unglücksfällen heimgesucht: Krankheit, Feuer, Missernten, ja sogar Tod.
Ich warf eine Handvoll dunkelgrüner Farntriebe in den Korb.
»Auntie, bitte sag es mir«, bettelte ich. »Können die Toten zurückkehren? «
Auntie sah mich lange an. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt und die Blicke aus ihren kleinen dunklen Augen fest auf mich gerichtet.
»Ja«, antwortete sie schließlich. »Es gibt einen Weg. Nur wenige sind mit ihm vertraut. Diejenigen, die das Geheimnis kennen, geben es an ihre Kinder weiter. Weil du für mich fast wie ein eigenes Kind bist, werde ich irgendwann einmal das Geheimnis an dich weitergeben. Ich werde alles niederschreiben, was ich über die Schlafenden weiß. Dann werde ich die Seiten zusammenfalten, sie in einen Umschlag stecken und ihn mit Wachs versiegeln. Du wirst ihn an einem sicheren Ort verwahren, und eines Tages, wenn du bereit bist, wirst du ihn öffnen.«
»Wie soll ich denn wissen, ob ich bereit bin?«, fragte ich.
Sie lächelte und entblößte dabei ihre kleinen Zähne, die spitz waren wie die eines Fuchses und braun vom Tabak. »Du wirst es wissen.«
Ich schreibe diese Worte heimlich, unter der Bettdecke. Martin und Lucius glauben, dass ich schlafe. Ich höre sie unten Kaffee trinken und darüber reden, wie es um mich steht (nicht gut, fürchte ich).
Ich habe versucht, mich daran zu erinnern, wie alles anfing, habe die Einzelteile aneinandergefügt, so wie wenn man einen Quilt näht. Aber ach, was für ein hässlicher, verdorbener Quilt der meine wäre!
»Gertie«, höre ich Martins Stimme über das Klappern seines Löffels hinweg, mit dem er den Kaffee in der Blechtasse umrührt, aus der er so gerne trinkt. Ich stelle mir seine von tiefen Sorgenfalten zerfurchte Stirn vor; wie traurig sein Gesicht aussehen muss, nachdem er ihren Namen ausgesprochen hat.
Ich wage nicht zu atmen und lausche angestrengt.
»Manchmal kann ein Schicksalsschlag einen Menschen zugrunde richten«, sagt Lucius, »so dass er sich nie wieder davon erholt.«
Wenn ich jetzt die Augen schließe, sehe ich noch immer das Gesicht meiner kleinen Gertie vor mir und spüre ihren zuckersüßen Atem an meiner Wange. Die Erinnerung an unseren letzten gemeinsamen Morgen ist in mir noch so lebendig, dass ich sie zu mir sagen höre: »Wenn Schnee schmilzt und zu Wasser wird, erinnert er sich dann noch daran, früher einmal Schnee gewesen zu sein?«
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Autoren-Porträt von Jennifer McMahon
Jennifer McMahon wuchs in Connecticut auf und schrieb schon als Kind Kurzgeschichten. Bevor sie sich völlig dem Schreiben von Romanen widmete, war sie in der Betreuung seelisch kranker Kinder und Erwachsener tätig. Die Autorin lebt mit ihrem Freund und der gemeinsamen Tochter in Vermont.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jennifer McMahon
- 2014, 1. Auflage, 400 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Sybille Uplegger
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843707375
- ISBN-13: 9783843707374
- Erscheinungsdatum: 10.03.2014
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 2.56 MB
- Ohne Kopierschutz
Family Sharing
eBooks und Audiobooks (Hörbuch-Downloads) mit der Familie teilen und gemeinsam genießen. Mehr Infos hier.
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