Zum Schweigen gezwungen (ePub)
Er war Mummys Liebling, ich die kleine Schwester und sein Opfer
Vicky wird als Zwölfjährige schwanger - von ihrem älteren Bruder, der sie vergewaltigt hat. Damit endet ihre Kindheit, und eine lange, quälende Zeit voller Angst,...
Vicky wird als Zwölfjährige schwanger - von ihrem älteren Bruder, der sie vergewaltigt hat. Damit endet ihre Kindheit, und eine lange, quälende Zeit voller Angst,...
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Produktinformationen zu „Zum Schweigen gezwungen (ePub)“
Er war Mummys Liebling, ich die kleine Schwester und sein Opfer
Vicky wird als Zwölfjährige schwanger - von ihrem älteren Bruder, der sie vergewaltigt hat. Damit endet ihre Kindheit, und eine lange, quälende Zeit voller Angst, Verwirrung, voller innerer und äußerer Not beginnt. Denn Vicky wagt es nicht, jemandem anzuvertrauen, was der kluge, beliebte David ihr angetan hat. Sie wird zur Gefangenen ihres dunklen Geheimnisses. Erst viele Jahre später findet sie die Kraft, über die brutalen Übergriffe ihres Bruders zu sprechen und mutige Schritte in ein neues, selbstbestimmtes Leben zu gehen...
Vicky wird als Zwölfjährige schwanger - von ihrem älteren Bruder, der sie vergewaltigt hat. Damit endet ihre Kindheit, und eine lange, quälende Zeit voller Angst, Verwirrung, voller innerer und äußerer Not beginnt. Denn Vicky wagt es nicht, jemandem anzuvertrauen, was der kluge, beliebte David ihr angetan hat. Sie wird zur Gefangenen ihres dunklen Geheimnisses. Erst viele Jahre später findet sie die Kraft, über die brutalen Übergriffe ihres Bruders zu sprechen und mutige Schritte in ein neues, selbstbestimmtes Leben zu gehen...
Lese-Probe zu „Zum Schweigen gezwungen (ePub)“
Zum Schweigen gezwungen von Vicky Jaggers mit Helen Roberts Prolog
... mehr
Manchmal fühlte ich mich, als wäre ich hinter der Stille verschwunden. Mein dunkles, schändliches Geheimnis hatte mir alles genommen. An anderen Tagen war das Leben so schwer, dass ich meinte, unter der Last zerbrechen zu müssen, weil mein Geheimnis mich zu vergiften drohte. Nur eines war ganz sicher: Die Zeit drängte. Immer gefährlicher, immer schamloser wurden seine brutalen Taten - und was ich wusste, konnte ihn für alle Zeiten hinter Gitter bringen.
Der Tag vor dem Prozess war einer der schwersten, die ich je überstehen musste. Im Rückblick stelle ich mir vor, wie alles hätte anders werden können, wenn ich eher geredet hätte. Aber ein einziger Blick in Mutters Gesicht sagte mir, dass das unmöglich war. Es gibt Worte, die man nie wieder zurücknehmen kann, und es gibt Dinge, die eine Mutter nie erfahren sollte.
»Um Himmels willen, Vicky, er gehört zur Familie. Vielleicht wart ihr nie die besten Freunde, aber er ist dein Fleisch und Blut, und wir sind alles, was er hat.« Sie stand am Küchenfenster und starrte hinaus. »Dich zu sehen würde ihm so viel bedeuten.«
»Mum, ich würde ja hingehen, das weißt du ...« Mit rasendem Herzen und schweißnasser Stirn suchte ich nach einer Ausrede. Doch Mum war zu angespannt, um das zu bemerken.
»Ich habe nie verstanden, warum ihr beiden nicht miteinander auskommen konntet. Er muss furchtbare Angst haben.«
»Im Moment habe ich so viel Arbeit mit Kirsty ...«, sagte ich lahm. Sie fing an zu weinen.
»Warum sehen die denn nicht, dass es ein Unfall war? Ein tragischer, dummer Unfall.«
Wie sehr Mom David vergötterte, wusste ich. Aber sicher würde ihr der Prozess doch die Augen öffnen und ihr zeigen, was für ein Monster ihr Sohn war? Wie konnte sie ihn immer noch lieben und ihm vertrauen, wo doch inzwischen die ganze Welt wusste, dass Blut an seinen Händen klebte? Ich wollte sie schütteln, umarmen, ihr die Liebe zu ihm ausreden. Doch das einzige Argument, das ich hatte, musste ich ihr verschweigen. So hatte ich es mir für alle Zeit geschworen.
Es war Jahre her, seit ich diesen Pakt mit mir geschlossen hatte. Damals, als mir meine Kindheit entrissen worden war, hatte ich mir selbst versprochen, dass niemand sonst unter dem leiden sollte, was David getan hatte. Was immer auch geschah - ich würde nicht zulassen, dass er unsere Familie zerstörte.
Doch während meine Familie eine Lüge lebte, kam jemand zu Schaden. Auf schwerste Weise. David hatte Helen für immer zum Schweigen gebracht. Wollte ich wirklich zulassen, dass er mit mir dasselbe tat?
Ich holte tief Luft. Zum tausendsten Mal fragte ich mich, ob ich die richtigen Worte finden und mein Schweigen brechen konnte. Doch ein einziger Blick auf Mum sorgte dafür, dass sie mir im Hals stecken blieben. Sie wirkte so zerbrechlich, als könnte ein Windhauch sie umwerfen. Auf gar keinen Fall konnte ich ihr und meinem geliebten Vater noch mehr zumuten. Sie hatten bereits so viel ertragen müssen, und ich wusste, dass sie an meinem Geheimnis zerbrechen würden. Damit würde ich einen Sturm der Gewalt entfesseln, der alles zerstören und zu Staub zermahlen konnte, was in unserem Leben jemals gut gewesen war.
So schob ich wieder einmal den Riegel vor die Tür, hinter der sich die Wahrheit verbarg, und suchte nach einer Ausflucht.
»Ich und Kirsty sind ihm doch gar nicht so wichtig. Er will dich sehen und Dad .... Er ist doch ein großer Junge.«
Mum sah mir direkt ins Gesicht. Konnte sie mir etwas ansehen? Hatte sie schon immer einen Verdacht gehabt? Ein Teil von mir wünschte sich, sie würde es einfach erraten und mir die erdrückende Last von den Schultern nehmen. Einen Moment lang sah sie so aus, als wollte sie mir eine Frage stellen, als hätte sie die dunkle Wolke in meinen Augen gesehen und wollte herausfinden, was dahintersteckte. Aber es sollte nicht sein. Seufzend wandte sie sich ab und ließ mich wieder einmal mit meinem tödlichen Geheimnis allein. Das Gespräch war beendet, und erneut hatte ich uns alle im Stich gelassen.
Der Prozess dauerte vier albtraumhafte Tage lang. Mum wich nicht von Davids Seite; sie sagte sogar als Zeugin der Verteidigung für ihn aus. Zu erleben, wie sie sich für ihn einsetzte, zerriss mich innerlich. Ich hoffte nur, der Richter und die Geschworenen würden die Lügen durchschauen und erkennen, was für ein gefährlicher Mann er war.
Am vierten Tag konnte ich mich auf nichts konzentrieren. Ständig nahm ich Kirstys Spielsachen in die Hand und trug sie von einem Zimmer ins andere, während ich darauf wartete, dass Mum nach Hause kam und mir sagte, wie das Urteil ausgefallen war. Trotzdem zuckte ich zusammen, als der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Dad ging ohne ein Wort direkt nach oben. Er sah mich nicht einmal an. Ich schenkte Mum eine Tasse Tee ein und wartete. Das Herz schlug mir bis zum Hals.
Anfangs schien es, als könnte sie gar nicht sprechen. Ich schaute zu, wie meiner Mutter die Tränen übers Gesicht liefen, fühlte aber nichts. Sie sollte nur reden, mir endlich sagen, wie das Urteil lautete. Ich hatte das Gefühl, mein gesamtes Schicksal hinge an den Worten, die sie zurückhielt. Mein Magen brannte vor Wut und Frustration. Vor mir saß ein graues, verhärmtes Gespenst. Eine Fremde. Was war mit der lebhaften Frau geschehen, die in allen Pubs im Mittelpunkt stand, die unsere Mutter und Davids treueste Unterstützerin gewesen war? Die letzten Monate hatten ihr schwer zugesetzt; dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Das hatte er ihr angetan. Aber das war gar nichts im Vergleich zu dem Schaden, den ich anrichten konnte, wenn ich ihr einfach nur die Wahrheit sagte.
Mum rieb zwanghaft die Fingerknöchel ihrer linken Hand. Ich wollte meine Hand auf ihre legen und sie festhalten, als wäre sie die Tochter und ich die Mutter, die sie schützen und ihren Schmerz wegzaubern konnte. Doch nach all den Jahren voller Bitterkeit und Heimlichtuerei brachte ich es nicht über mich, sie zu berühren. Sie war der Grund, weshalb David noch immer in meinem Leben war. Sie war der Grund, weshalb ich nie frei sein würde - ganz egal, wie das Urteil lautete.
Die Augen meiner Mutter waren gerötet, und sie zitterte.
Mühsam presste sie die Worte hervor. »Er hat acht Jahre bekommen. Acht Jahre.«
Ich schaute zu, wie die Tränen wieder kamen, und nickte.
Verzweifelt huschten meine Augen zwischen den vertrauten Einrichtungsgegenständen in ihrem Wohnzimmer hin und her, damit ich Mum nicht anschauen musste. Ich wollte den Zorn und die Fassungslosigkeit nicht sehen, die ihr im Gesicht standen. Innerlich fühlte ich mich wie ausgehöhlt. Jahrelang hatte ich mir diesen Moment immer wieder vorgestellt - wie es sein würde, frei zu sein von meinem Bruder und der Last der Schuld und Schande, die mein Leben erstickte. Was ich tun würde. Was ich sagen würde - jetzt, wo die ganze Welt wusste, wie böse und schlecht er tatsächlich war.
Doch er hatte etwas in mir abgetötet, und jetzt war nichts mehr übrig. Kein Mitleid, keine Wärme, nicht einmal der Wunsch nach Rache. Meine Mutter wurde von Schluchzern geschüttelt, aber ich ging nicht zu ihr. Ich konnte sie nicht trösten. Nach den vielen Jahren, in denen ich das schreckliche Geheimnis mit mir herumgeschleppt hatte, wusste ich kaum noch, wie sich eine richtige Tochter benehmen sollte. Selbst jetzt, wo er im Knast saß, stand David noch zwischen meiner Mutter und mir und zerstörte unsere Beziehung zueinander. Das konnte ich ihm niemals verzeihen.
»Wein doch nicht, Mum«, sagte ich hilflos.
»Entschuldige, Liebes.« Sie wischte sich über die Augen. »Du hast recht. Wir müssen stark sein für David. Wir werden gegen das Urteil Berufung einlegen und können sicher bald wieder eine richtige Familie sein.«
In diesem Moment wusste ich eines ganz sicher. Mein niederträchtiger Bruder mochte zu acht Jahren verurteilt worden sein, doch meine Strafe dauerte viel länger. Für mich gab es keine vorzeitige Entlassung, keine Freiheit, auf die ich mich freuen konnte. Und schlimmer noch: Ich musste mein Leiden stumm ertragen, sonst würde ich alle, die ich liebte, um ihr Glück und ihren Verstand bringen.
Frühe Tage
Ich streckte die Arme weit nach oben und rieb mir die Augen. Dann schnellte ich hoch, warf mein geblümtes pinkfarbenes Federbett beiseite und sprang aus dem Bett. »Dad!«, rief ich. »Wo bist du?« Ich hörte sein leises Lachen und fand ihn in der Küche. Mit ausgebreiteten Armen wartete er auf mich. »Da bist du ja«, sagte ich und warf mich an seine Brust.
»Was möchtest du denn heute machen?«, fragte er. Erwartungsvoll sah ich ihn an. Sicher hatte er längst einen Plan. Für Len, meinen Vater, war ich die Nummer eins, sein ganz besonderes Mädchen. Jeder Tag mit ihm war ein Abenteuer.
Samstags morgens rannte ich fast immer aufgeregt durch die Sozialwohnung in Tilbury und suchte nach Dad, weil ich wissen wollte, was er sich für den Tag überlegt hatte. Dann quietschte ich vor Aufregung, während Dad gemütlich die Zeitung las und über meine kindliche Ungeduld lachte.
»Los, geh, wasch dich, und zieh dich an. Ich denke mir solange etwas aus«, sagte er dann. Und ich sauste wie der Blitz ins Badezimmer ... Ohne Dad wäre meine Kindheit ziemlich öde gewesen.
Seit ich mich erinnern kann, hatten er und ich uns sehr nahegestanden. Er war ein liebevoller Mensch, und seine Umarmungen waren so fest, dass man glaubte, ein großer knuffiger Bär habe einen gepackt. Dabei war er ein eher schlanker, schlaksiger Mann und wirkte viel jünger als die meisten Erwachsenen in seinem Alter. Als ich und meine Geschwister geboren wurden, war er noch sehr jung gewesen, fand aber der Familienlegende nach sofort in die Vaterrolle hinein. Mein Dad mag nicht ausgesehen haben wie ein Bär, aber dennoch fühlte man sich in seinen Armen geborgen und beschützt. Viele Angehörige haben mir immer wieder erzählt, dass ich vom ersten Tag an Dads Prinzessin war. Gleich als ich aus der Klinik kam, badete er mich und wechselte meine Windeln. Tatsächlich kümmerte er sich stets viel hingebungsvoller um mich, als Mum es je tat. Sie war erschöpft von der Geburt, und die anderen Kinder brauchten sie ebenfalls.
Avril, meine Mum, war eine lebhafte Blondine, die es sich gerne gut gehen ließ. Sie war zierlich wie mein Dad und sehr attraktiv. Ich fand sie wunderschön und betete sie an. Obwohl Mum es manchmal nicht zeigen konnte, wusste ich, dass sie mich liebte. Wenn ich ihr eine meiner langatmigen, kindlichen Geschichten erzählen wollte, ließ sie mich manchmal einfach stehen, weil eine Zeitschrift auf dem Küchentisch oder ein Geräusch auf der Straße sie mehr interessierte. Für David, meinen älteren Bruder, hatte Mum immer Zeit. Sie war einfach kein Mädchen, das mit Mädchen viel anfangen konnte. Wenn Dad sie gelegentlich ermahnte, kein Kind zu bevorzugen, gab sie sich daraufhin immer große Mühe, auch an mir Interesse zu zeigen, und dies hielt immerhin für eine Weile an.
Mum war ein paar Jahre älter als Dad und hatte nicht viel Zeit für irgendwelchen Kinderkram mit mir. Sie war berufstätig und oft sehr müde, sorgte aber auch dafür, dass der Spaß in ihrem Leben nicht zu kurz kam. Mum hatte einen ziemlich lebhaften und lauten Freundeskreis. Als ich etwa fünf Jahre alt war, zogen wir in ein Haus in der Bata Avenue in der Nähe der gleichnamigen Schuhfabrik. Dad arbeitete dort bereits als Schweißer, und Mum fand in der Fabrik eine Teilzeitstelle als Helferin. Ich weiß noch, wie begeistert Mum und Dad waren, denn wenn sie beide dort arbeiteten, konnten wir in ein Firmenhaus auf dem Fabrikgelände ziehen. Die enge Vierzimmer-Sozialwohnung, die aus allen Nähten platzte, war damit Vergangenheit.
Wir waren eine ziemlich große Familie mit ein paar Besonderheiten. Aber die gibt es ja fast überall. Ich war das Nesthäkchen - das jüngste von vier Kindern. Zu John Paul, meinem ältesten Bruder, der fast zehn Jahre älter war als ich, hatte ich nie eine sehr enge Verbindung. Er traf sich lieber mit seinen Freunden oder hantierte mit seinem CB-Funkgerät, als sich mit seiner kleinen Schwester zu beschäftigen.
Eine große Schwester namens Tina hatte ich auch. Aber sie lebte nicht bei uns. Sie war acht Jahre älter als ich und lange vor meiner Geburt aus einem Hochstuhl gefallen. Seither hatte sie Verhaltensprobleme. Als sie älter wurde, konnten Mum und Dad sie fast nicht mehr bändigen. Sie wurde handgreiflich, speziell Mum gegenüber, deren Gesicht nach Tinas Ausbrüchen oft von Kratzern und Platzwunden übersät war.
Als ich noch ein Baby war, versuchte Tina während eines Wutanfalls angeblich einmal, John Paul zu erwürgen. Er wurde ohnmächtig, und Mum musste Tina ins Schlafzimmer sperren, um John Paul wiederbeleben zu können. Danach kamen meine Eltern um die schwierige Entscheidung nicht mehr herum, wie Tinas weitere Zukunft aussehen sollte. Letztendlich mussten sie sich der Tatsache stellen, dass Tinas Ausbrüche uns alle und auch sie selbst gefährdeten. Sie wurde auf eine spezielle Schule geschickt.
So war Tina während meiner Kindheit meist in dieser besonderen Schule oder in einem Heim. Sie kam gelegentlich übers Wochenende oder während der Ferien nach Hause, und ich hatte immer ein bisschen Angst vor ihr. Ich weiß noch, dass ich mich als kleines Kind in ihrer Gegenwart nicht wohlfühlte, weil sie so anders war als wir anderen. Jetzt, wo ich älter bin, kann ich schmerzhaft nachempfinden, wie einsam sie sich gefühlt haben muss. Aber damals war ich noch zu jung, um das zu verstehen. Ich fand es schwer, die destruktive, aggressive Tina als Familienmitglied zu betrachten. Heute denke ich, dass Mum Tina sehr vermisste. Vielleicht schenkte sie David deshalb immer so viel Aufmerksamkeit. Vielleicht hoffte sie, seine traurige, schwierige ältere Schwester vergessen zu können, wenn sie meinen Bruder mit Liebe überschüttete.
Von allen Geschwistern standen David und ich uns am nächsten. Er war fünf Jahre älter als ich und ein typischer großer Bruder. Man sagt, als ich noch ein Baby war, sei er ganz vernarrt in mich gewesen. Er küsste mich ständig und streichelte meinen Kopf. Als ich älter wurde, wollte er mich vor allem beschützen - manchmal auch mit übertriebenem Eifer. Mein Bruder war ein aufgeweckter kleiner Junge, und meine Mutter liebte ihn abgöttisch. Während sie sich mir gegenüber oft distanziert verhielt, fragte sie ihn ständig, was er gemacht hatte und wer seine Freunde seien. Er hatte schon damals eine fast unheimliche Gabe, mit seinem Charme Menschen in seinen Bann zu ziehen. So gab es immer viele neue Freunde, von denen er Mum berichten konnte.
Im Lauf meiner Kindheit wurde die Beziehung zu meinem Dad immer enger, und ich folgte ihm auf Schritt und Tritt. Manchmal ging ich mit ihm zur Arbeit; an anderen Tagen fuhren wir mit dem Wagen zum Angeln oder zu den Wiesen und Feldern in der Nähe, wo wir Insekten beobachteten. Ich war seine kleine Prinzessin und sah ihm zudem mit meinen großen Augen und dem breiten, ansteckenden Grinsen ziemlich ähnlich. Gleichzeitig behaupteten alle, die Jungs seien das Ebenbild meiner Mutter. Sie hatten dasselbe blonde Haar und dieselben stechenden, hellen Augen.
Ich war ein richtiger Wildfang - die meisten Leute meinten, ich hätte ein Junge werden sollen - und tat am liebsten das, was mein Vater gerade machte. Überall, wo wir auftauchten, riefen die Leute: »Alles klar, Kumpel?«, und ich war unglaublich stolz, weil er so beliebt war. Gerne hätte ich von sämtlichen Dächern gerufen: »Das ist mein Dad, und er gehört ganz allein mir!«
Dad war ein aufrichtiger, hart arbeitender Mann, der uns ein schönes, sicheres Leben ermöglichen wollte. Im Lauf der Jahre versuchte er sein Glück in verschiedenen Branchen, aber eigentlich war er Schweißer. Er stammte aus Essex, wo viele Männer diesen Beruf ausübten. Dabei war es für einen so schlanken, drahtigen Mann eher ungewöhnlich, körperlich dermaßen schwer zu arbeiten. Er kleidete sich gerne schick und ließ sein volles braunes Haar so schneiden, dass die Frisur zu seinem schmalen und doch markanten Gesicht passte. Obwohl er ein gut aussehender Mann war, konnte Dad sein Glück nie recht fassen, eine so umwerfend schöne Frau wie meine Mutter abbekommen zu haben. Wenn die Nachbarinnen mit ihm flirteten, lachte er immer und dachte, sie würden ihn nur aufziehen. Und da Mum so mit David beschäftigt war, hatte ich viel Zeit, sein größter und treuester Fan zu sein.
Auch wenn Dad oft lange arbeitete, nahm er sich viel Zeit für mich. Häufig trug er seine Arbeitskleidung, und wenn ich ihm dann nahe war, atmete ich seinen Geruch in tiefen Zügen ein. Er hatte den herben Geruch eines körperlich arbeitenden Mannes, den viele Leute wahrscheinlich als unangenehm empfunden hätten. Ich aber liebte ihn, weil er zu ihm gehörte.
Das Bata-Schuhfabrikgelände, auf dem wir jetzt wohnten, war wie ein eigenes kleines Dorf für die Fabrikarbeiter. Die Firma hatte für alles gesorgt: Es gab eine Schule, Läden, ein Kino, ein Hotel und sogar ein Schwimmbad. Hier konnte man wunderbar und ganz anders leben als in den trostlosen Sozialsiedlungen, von denen meine Eltern uns gerne fernhalten wollten.
Mum arbeitete normalerweise montags bis freitags von neun Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags. Fast immer holte sie uns von der Schule ab, ging mit uns heim und bereitete dann ein warmes Abendessen zu. Unser Haus war stets von verlockenden Essendüften erfüllt, weil Mum gerne neue Rezepte ausprobierte. Unser aller Leibgericht war allerdings ein ganz altmodischer Eintopf mit Klößen. Er schmeckte himmlisch.
Meinen Eltern war es wichtig, dass wir jeden Abend beim Essen gemeinsam am Tisch saßen. Wir mussten sauber und pünktlich um sechs Uhr zur Stelle sein. Mum kochte immer etwas mehr, falls zufällig jemand vorbeikam oder falls die Freunde meines Bruders da waren und Hunger hatten. Ich war nicht so gesellig wie meine Geschwister, doch meine Brüder hatten immer viele Freunde zu Besuch, und Mum und Dad luden sie gerne ein. »Esst ihr heute Abend mit uns?«, fragte Mum, wenn das Essen fertig war. »Ist das o.k., Mrs J?«, fragten die Jungen dann, kamen angerannt und stürzten sich wie die Geier auf alles, was auf dem Tisch stand.
Ich erinnere mich noch gut an einen Abend, als ich etwa sechs war, David elf und John Paul sechzehn, an dem ausnahmsweise nur die Familie beieinandersaß. Mum hatte einen gigantischen Cottage Pie gemacht, und John Paul fiel darüber her, sobald sie ihn auf dem Tisch abgestellt hatte.
»Finger weg!« Mum schlug mit den Ofenhandschuhen nach ihm. »Lass für uns auch noch was übrig. David hat noch gar nichts, und er ist ein Junge im Wachstum.«
Dad und ich sahen uns über den Tisch hinweg an und lachten. Mum war so berechenbar.
»Schon gut. Mach, was du willst!«, murmelte John Paul beleidigt.
David grinste. »Bloß weil du ein Volltrottel bist, musst du dich nicht gleich aufführen wie ein Tier«, sagte er. John Paul sah aus, als würde er seinem kleinen Bruder am liebsten die Lichter auspusten.
»Sei still, David, und schieb die Schüssel rüber. Hmmmmm. Sieht lecker aus.« Dad wollte keinen Streit.
Ich wollte gerne nachfragen, was ein Volltrottel war, doch John Paul guckte bereits grimmig genug. David schien die angespannte Stimmung nicht zu bemerken. Das war typisch für ihn. Er provozierte fröhlich drauflos und war dann überrascht, wenn andere wütend wurden. Umgekehrt verhielt sich das ganz anders. Bereits als ganz kleiner Junge war David oft ohne Vorwarnung explodiert und hatte sich erst wieder beruhigt, wenn er seinem Gegenüber richtig wehgetan oder es gedemütigt hatte. Deshalb bemühte ich mich stets, es mir mit ihm nicht zu verscherzen.
Weil mir Spannungen in der Familie zuwider waren, fing ich an, einen langen, komplizierten Witz zu erzählen, den ich bei einem von Dads Freunden aufgeschnappt hatte. Natürlich war ich zu jung, um ihn richtig zu verstehen, deshalb brachte ich immer wieder alles durcheinander. Mein Geplapper war so albern, dass am Ende alle lachten - selbst John Paul. Mum gab mir sogar einen Extralöffel Eiscreme, und ich hatte das Gefühl, dass wir jetzt wieder eine glückliche, traute Familie waren.
Bevor David auf die weiterführende Schule wechselte, gingen wir ein Jahr lang auf dieselbe Schule. Damals war ich etwa fünf oder sechs Jahre alt, und das Lernen fiel mir zunehmend schwerer. Mum brachte mich schließlich zu einem Fachmann, der nach ein paar Tests feststellte, dass ich Legasthenikerin war. Als die anderen Kinder in der Schule das herausfanden, nannten sie mich »Doofi« und jagten mich über den ganzen Hof. Die Schule wurde für mich zum Albtraum.
Einmal drängten mich ein paar ältere Kinder auf dem Schulhof in eine Ecke. Das passierte am Anfang der Mittagspause; die Lehrkräfte waren noch beim Essen. Ich schaute mich nach Hilfe um, doch niemand kam.
»Ich kenne dich«, sagte ein kräftiger rothaariger Junge. Er kam auf mich zu und stieß mir den Zeigefinger in die Brust. »Du bist die Zurückgebliebene.«
Hinter ihm kicherten seine Freunde spöttisch. Als ich nicht reagierte, schnappte er sich meine Schultasche.
»Du kriegst sie zurück, wenn du sie buchstabieren kannst.«
»Gib her!«, schrie ich und wollte danach greifen. Der Junge warf sie seinen Freunden zu und stieß mich so heftig, dass ich das Gleichgewicht verlor. Die Tasche hatten wir erst am letzten Samstag gekauft. Mum würde toben.
»Komm, Doofi. Ich helfe dir«, spottete er. Inzwischen hatte sich eine ganze Meute um uns versammelt. Alle warteten auf meine Antwort. Als ich David am Rand der Gruppe stehen sah, war mir die Situation noch viel peinlicher. Nie würde mein schlauer großer Bruder in eine solche Lage geraten. Wenn er jetzt auch noch Mum davon erzählte, würde mich sicher die ganze Familie auslachen. Bei diesem Gedanken konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.
»T ...«
Ein Mädchen drehte die Tasche um. Mein lilafarbener Federkasten knallte zu Boden und sprang auf.
»A ...«
Der rothaarige Junge kam noch näher. Sein Atem roch nach Zwiebeln. Ich konnte einfach nicht aufhören zu weinen.
»S ...«
Plötzlich hörte ich einen Schrei, und David stürmte wie aus dem Nichts auf den Jungen zu.
»Hey! Was soll das?«
Er brüllte in voller Lautstärke. Ich war klein für mein Alter und schüchtern. Doch David kannten und fürchteten sämtliche Kinder an der Schule. Sie waren vor ihm auf der Hut.
Ich zog mich in eine Ecke zurück und war ausnahmsweise einmal glücklich, dass sich nun alles um meinen Bruder drehte. »Macht es dir Spaß, meine kleine Schwester zu ärgern? Willst du es vielleicht auch mal mit mir versuchen?«, knurrte er.
Weil der rothaarige Junge sich vor seinen Freunden keine Blöße geben wollte, holte er aus und versuchte, David zu schlagen. Darauf hatte mein großer Bruder nur gewartet. Er wich dem ungeschickten Schlag aus und stieß meinem Peiniger mit Wucht das Knie in den Magen. Der Junge fiel hin; David trat auf ihn ein. Er hörte selbst dann nicht auf, als der Rothaarige sich am Boden krümmte und alle seine Freunde längst weggerannt waren.
Ich konnte das nicht mit ansehen und schlich mich am Ende sogar weg. Eigentlich hatte ich nie gewollt, dass David sich für mich prügelte. Ich mochte Prügeleien nicht. Doch das schien seine Art zu sein, Zuneigung für mich zu zeigen.
Kein Mensch wäre je auf die Idee gekommen, David als »Doofi« zu bezeichnen. Im Gegenteil: Bald hatten wir sogar schwarz auf weiß, wie überaus intelligent er war. Die Lehrer baten Mum und Dad immer wieder in die Sprechstunde, um mit ihnen über seine Fähigkeiten zu sprechen. Klassenarbeiten füllte er innerhalb von drei Minuten vollständig aus und erreichte so gut wie immer die höchstmögliche Punktzahl, ohne sich dafür groß anstrengen zu müssen. Ein paar Jahre später ergab ein an der Schule durchgeführter Test für David einen IQ von 158. Da der Durchschnitt bei 100 liegt, machte ihn das zu einer Ausnahmeerscheinung. Das Ergebnis war umso beeindruckender, wenn man bedachte, auf was für berüchtigte Schulen er gegangen war. Man war sich allgemein einig, dass er ein begabtes Kind mit außerordentlichen Veranlagungen sei.
Eines Tages konnte ich direkt miterleben, wie viel Talent in David steckte. An einem Nachmittag hockte ich in seinem Zimmer und schaute zu, wie er mit ausrangierten Computerteilen spielte. »Was machst du da?«, fragte ich. Er sah mich nur schweigend an. Dann bastelte er weiter. Ich saß auf seinem Bett und beobachtete staunend, wie er aus irgendwelchen x-beliebigen Teilen, die in seinem Zimmer herumlagen, ein Karussell baute. »Wow. Das ist fantastisch!«, quietschte ich. Dabei drehte ich die komplizierte Konstruktion im Kreis. Obwohl er sich vorher sehr gleichgültig gegeben hatte, sah er jetzt so aus, als gefiele ihm meine Bewunderung. Ich nahm das Karussell mit in mein Zimmer, hütete es wie einen Schatz und zeigte es jedem, der zu Besuch kam. In diesen frühen Jahren freuten Mum und Dad sich vermutlich, dass ihre Kinder sich so gut verstanden - besonders David und ich. Von außen betrachtet benahm sich David wie der typische große Bruder: Er war nicht übermäßig bemüht, aber doch so interessiert an mir, dass ich mich wichtig fühlte.
Für mich war die Sache ein bisschen komplizierter. Zwar redeten wir nie darüber, doch der Vorfall auf dem Schulhof ging mir nicht aus dem Kopf. Einerseits war ich schockiert, wie brutal David sein konnte. Andererseits war ich auf merkwürdige Weise stolz auf ihn und sehr dankbar, dass er mich vor meinen Peinigern beschützt hatte. Und ich war froh, dass er meinen Eltern nichts davon erzählte. Wie ein blödes Opfer dazustehen wäre mir furchtbar peinlich gewesen. Vor allem aber hatte ich das Gefühl, dass ich ihm nun etwas schuldete. Deshalb versuchte ich, seine Macken nicht mehr zu beachten und stattdessen die positiven Seiten seiner Persönlichkeit zu sehen. Das machte Davids Verrat an mir am Ende umso schrecklicher. Es sollte sich herausstellen, dass ich von ihm viel mehr zu befürchten hatte als von irgendwelchen dummen Jungen, die mich auf dem Schulhof drangsalierten.
Weiterziehen
Zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen gehören die Ferientage, die wir zusammen als großer Clan im Lambeach-Marina Caravan- Park in Cambridgeshire verbrachten. Wir, das waren Mum, Dad, David, John Paul und ich, dazu Dads Schwester, Tante Chris, mit ihrem Mann und meinen Cousinen Kate und Kayley. Wann immer wir es uns leisten konnten, fuhren wir auf den Campingplatz: im Sommer, zu Ostern und Halloween - manchmal sogar an langen Wochenenden. Nur an Weihnachten und zu Silvester blieben wir zu Hause, weil Dad Weihnachten im engsten Familienkreis so liebte. Heute weiß ich, dass meine Eltern damals Sorgen hatten. Zu Hause gab es immer wieder Zeiten, in denen sie wochenlang flüsternd stritten und Türen zuknallten. Doch als Kind dachte ich nur an die Ferientage, in denen die Anspannung von Mum und Dad abfiel, sodass sie normal miteinander redeten und wieder lachten, während ich Stunde um Stunde mit meinen Brüdern und Cousinen Karten spielte.
Der Campingplatz war wunderschön und von Seen, Feldern und Wäldern umgeben. Für Zelte, Wohnwagen und Dauercamper gab es jeweils separate Bereiche. Die Erwachsenen konnten zwischen drei verschiedenen Bars wählen, wir Kinder hatten als Treffpunkt ein Café. Ich liebte den Platz. Damals besaßen wir dort einen Wohnwagen, dazu stellten wir ein paar Zelte auf. Die Jungs genossen die Freiheit draußen in den Zelten, wir anderen schliefen im Wohnwagen. Ich war fast ununterbrochen mit meiner Cousine Kate zusammen. Die Leute meinten, wir wären ein Gespann wie Laurel und Hardy. Wir hatten immer viel Spaß. Kate war in meinem Alter, nur etwas kleiner. Ihr braunes, wuscheliges Haar stand in alle Richtungen ab. Sie sah richtig drollig aus und guckte meist, als würde sie gleich losprusten. Weil sie so niedlich aussah, bekam sie selten ernsthafte Schwierigkeiten. Ich selbst war in diesem Alter noch furchtbar schüchtern und machte nur ungern den Mund auf, wenn mir etwas nicht passte. Kate hingegen war sehr laut und keck. Wir müssen ein ziemlich gegensätzliches Duo gewesen sein.
Kate war aber auch ein sehr lieber Mensch, und ich ließ nichts auf sie kommen. Außerdem gehörte sie zur Familie; das unterschied sie von anderen Freunden. In ihrer Gegenwart verlor ich meine Hemmungen und meine Unsicherheit.
Der Campingplatz war für uns ein kleines Paradies. Einmal fand auf dem See ein Wasserfestival statt, bei dem Wasserski-Akrobaten Kunststücke vorführten. Ich war sehr beeindruckt. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Die Sportler schienen so frei, wenn sie übers Wasser sprangen. So als könnte nichts sie halten.
Bei dem Fest lief ein Mann in einem Affenkostüm durch die Menge. David lachte sich halb tot, aber Katy rannte wie ein Hase, als sie ihn sah. Dar Affenmann jagte ihr furchtbare Angst ein. Stundenlang mussten wir nach ihr suchen, weil sie kopflos einfach geflüchtet war. Das passte so gar nicht zu meiner vorlauten, selbstbewussten Cousine, aber die Erwachsenen lachten nur darüber. Ich hingegen sorgte mich, dass ihr etwas passiert sein könnte. Am Ende fanden wir sie unverletzt und wohlbehalten unter ihrer Bettdecke im Wohnwagen. Offenbar hatte meine kesse Cousine doch eine sensible Seite. Hinterher tat sie, als sei nichts gewesen, und wollte nie darüber reden, was ihr solche Angst gemacht hatte. In unserer Familie war es nicht üblich, Probleme voreinander auszubreiten. Deshalb drängte ich sie nie, ihr Schweigen zu brechen. Und wenige Jahre später versuchte auch niemand, mich dazu zu bewegen.
Kurz nachdem wir diesmal vom Campingplatz nach Hause zurückgekehrt waren, lief in unserer Familie etwas gründlich schief. Anscheinend war Kate nicht die Einzige, die sich ungern in die Karten schauen ließ. Anhand der angespannten Atmosphäre im Haus hätte ich erraten können, dass Mum ernste Sorgen hatte. Doch ich war damals erst neun Jahre alt und vertraute ganz darauf, dass meine Eltern stets dafür sorgen würden, dass mein glückliches, sicheres kleines Leben einfach immer so weiterging.
Eines Nachmittags kam Mum mit blassem Gesicht und geröteten Augen aus der Bata-Schuhfabrik nach Hause. Sie zog Dad ins Schlafzimmer und schloss die Tür. Die beiden redeten leise miteinander, sodass ich nicht verstehen konnte, was sie sagten. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Was konnte passiert sein? War sie krank? Warum wollten die beiden nicht, dass ich sie hörte? Ich wusste, dass es etwas Schlimmes sein musste, denn auf dem Weg die Treppe hinauf hatte Mum nicht wie sonst nach David gefragt. Obwohl es mich schon immer geärgert hatte, dass David ihr erklärter Liebling war, war die Angst riesengroß, dass meiner wunderschönen Mum etwas fehlen könnte.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Mum und Dad aus dem Schlafzimmer kamen und sich mit mir zusammensetzten.
»Hör zu, Liebes.« Dad strich mir übers Haar. »Es gibt Neuigkeiten. «
»Was ist denn?«, fragte ich. Mum sah aus, als könnte sie nur mit Mühe die Tränen zurückhalten.
»Wir ziehen um, Vicks. Wir packen alles zusammen. Das wird ein Abenteuer.« Dad versuchte zu lächeln.
»Oh«, sagte ich langsam. »Und Kate? Kommt sie mit?«
»Nein. Sie bleibt bei Tante Chris. Aber wir können herkommen und sie besuchen. Das ist kein Problem«, murmelte er. Er sah, wie meine Unterlippe anfing zu zittern. »Und du kannst mit deinen Brüdern spielen. Die Familie bleibt zusammen, nur darauf kommt es an.«
»Aber warum ...?«
Meine Mutter unterbrach mich vielleicht ein wenig schroffer als beabsichtigt.
»Vicky, ich habe meinen Job verloren. Wir ziehen weg. Du musst dir keine Sorgen machen. Und jetzt will ich nichts mehr darüber hören.« Damit ging sie davon, um nach David zu suchen, und ich flüchtete in Dads warme Arme, wo ich mich immer zu Hause fühlte. So lange ich ihn hatte, konnte mir nichts passieren.
Rückblickend bin ich froh, dass ich damals noch zu jung war, um zu verstehen, wie prekär unsere Lage war. Viel Geld hatten wir nie gehabt, und Mums Entlassung brachte uns in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten. Während ich mich sorgte, weil mein kleines Leben aus den Angeln geriet, hatten meine Eltern Mühe, genügend Geld fürs Essen aufzutreiben. Aus dem Schlafzimmer hörte ich nun öfter Streit, und wir lebten wochenlang nur von Pommes und Eiern.
Nach Mums Entlassung verbrachten wir zwei Wochen auf dem Campingplatz. In dieser Zeit beschlossen meine Eltern, noch mal von vorn anzufangen und sich ganz in dieser Gegend niederzulassen. Ich war begeistert. Für mich klang das nach endlosen Ferien. Es war ein Neuanfang, und auf einem Campingplatz zu leben erschien einer Neunjährigen wie die beste Nachricht aller Zeiten. Dad fand einen neuen Job, und der Caravan-Park wurde unser Zuhause. Doch nach der aufregenden Anfangszeit wurde mir klar, dass das Leben dort ohne meine Cousinen nicht dasselbe war. Lange vermisste ich Kate und sehnte mich danach, sie zu sehen. Ich saß auf meinem Bett und überlegte, welchen Unsinn sie wohl gerade ausheckte.
»Komm, Vicky«, sagte Dad ab und zu. »Nun lach doch mal.«
»Warum ist sie bloß so eine Heulsuse?«, grunzte David aus dem Etagenbett.
»Hey, es würde dich nicht umbringen, dich ein bisschen mehr um deine Schwester zu kümmern ...«, antwortete Dad.
»Ich weiß nicht. Auszuschließen ist es nicht«, nuschelte David unter der Bettdecke hervor. »Oder ich bringe sie um, wenn sie nicht aufhört zu jammern.«
»Vicks, lass deinen Bruder in Ruhe, bitte«, rief Mum aus der Kochecke. Dad verdrehte die Augen und ging mit mir hinaus auf den Platz.
So jäh aus der gewohnten Umgebung gerissen zu werden wäre für fast jedes Kind in meinem Alter schwierig gewesen. Aber ich war entschlossen, das Beste daraus zu machen und meinen Eltern nicht noch zusätzlich Sorgen zu bereiten.
Wie die Sardinen hausten wir in unserem alten Wohnwagen, bis Mum eine Putzstelle fand und die Frau des Platzverwalters, eine Maklerin, uns nicht allzu weit entfernt, in Meeple, ein Haus zur Miete vermittelte, wo wir leben konnten. Ich war froh, wieder ein eigenes Zimmer zu haben. David konnte so launisch und unberechenbar sein, dass ich nicht mehr gern so nah bei ihm schlafen mochte. Sobald wir aus dem Wohnwagen ausgezogen waren, verflog mein Unbehagen, und Mums Jobverlust war schnell nur noch eine blasse Erinnerung.
Ich liebte unser neues Heim und fand an der Grundschule in Meeple schnell Freundinnen. Wie üblich war ich zwar nicht das kontaktfreudigste Kind der Klasse, doch unter meinen Mitschülern gab es ein sehr nettes Mädchen namens Alice. Sie war ziemlich schüchtern, und ich glaube, sie hatte auch nicht viele Freunde. Also hatten wir etwas gemeinsam.
»Möchtest du heute Abend zum Essen zu uns kommen?«, fragte Alice eines Tages. »Mum meint, es sei o.k., und wir haben viele Tiere.« Ich liebte Tiere, und bald ging ich fast jeden Nachmittag nach der Schule mit zu ihr.
Alice und ihre Familie lebten auf einer Farm nur ein Stück weiter die Straße entlang. So hatte ich einen kurzen Heimweg. Wir sahen zusammen fern oder gingen spazieren. Auf der Farm gab es Schweine, Kühe und Ställe voller Pferde. Alice war eine hervorragende Reiterin, und jedes Mal, wenn ich sie auf einem Pferd sah, war ich voller Bewunderung. Wir wurden sehr enge Freundinnen, und sie brachte mir das Reiten bei. Für mich war es neu, dass andere Menschen nett zu mir waren und sich für mich interessierten. Bisher hatte das nur Dad getan. Normalerweise drehte sich immer alles um meinen charmanten, klugen großen Bruder. Alice hatte auch einen älteren Bruder, Stephen, der manchmal mit uns spielte. Erstaunt registrierte ich, wie gut die zwei sich verstanden. Nie gab es zwischen den beiden irgendwelche seltsamen Spannungen. Obwohl sie sich gegenseitig gnadenlos aufzogen, war nicht die Spur von Bosheit dabei. Wenn sie sich stritten, dann immer nur spielerisch. Ich wünschte mir, David und ich hätten ein so entspanntes Verhältnis zueinander.
Mit Alice als bester Freundin und mit meiner neuen Leidenschaft, dem Reiten, blühte ich auf und wurde zu einem glücklichen, viel beschäftigten kleinen Mädchen. Gerne wäre ich für immer in Meeple geblieben. Selbst die Schule erschien mir hier nur halb so schlimm! Wenn wir irgendwo geblieben wären, wo ich echte Freunde hatte, denen ich vertrauen konnte, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Doch dieses schöne aufregende Leben war nicht von langer Dauer. Nach kaum zwei Jahren erklärten meine Eltern uns, dass wir wieder umziehen müssten. Ich nickte nur steif, ging in mein Zimmer und weinte und weinte. In meiner Erinnerung sind die Jahre in Meeple die glücklichsten meines Lebens.
Dad kam zu mir und versuchte mich zu trösten, indem er sagte, dass wir Meeple verlassen müssten, sei zwar traurig, aber nicht das Ende der Welt.
»Du wirst neue Freunde finden, Liebes.« Er sah mir angespannt ins Gesicht. »Und ist es nicht das Wichtigste, dass wir alle zusammen sind? Freunde kommen und gehen, aber die Familie bleibt für immer.«
»Ja, wahrscheinlich.« Ihm zuliebe versuchte ich zu lächeln.
»Schon besser.« Dad schenkte mir sein breites, unwiderstehliches Grinsen. »In unserem neuen Zuhause haben wir sicher ebenso viel Spaß miteinander. Du wirst sehen ...«
In dieser Nacht weinte ich nicht mehr in mein Kopfkissen. Dad hatte recht - ich brauchte nur meine Familie. Sie würde sich um mich kümmern.
Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass mein Bild von unserer perfekten Familie nur ein schöner Schein war und dass die ganze Fassade schon bald in sich zusammenfallen würde.
Übersetzung: Usch Pilz
© 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Manchmal fühlte ich mich, als wäre ich hinter der Stille verschwunden. Mein dunkles, schändliches Geheimnis hatte mir alles genommen. An anderen Tagen war das Leben so schwer, dass ich meinte, unter der Last zerbrechen zu müssen, weil mein Geheimnis mich zu vergiften drohte. Nur eines war ganz sicher: Die Zeit drängte. Immer gefährlicher, immer schamloser wurden seine brutalen Taten - und was ich wusste, konnte ihn für alle Zeiten hinter Gitter bringen.
Der Tag vor dem Prozess war einer der schwersten, die ich je überstehen musste. Im Rückblick stelle ich mir vor, wie alles hätte anders werden können, wenn ich eher geredet hätte. Aber ein einziger Blick in Mutters Gesicht sagte mir, dass das unmöglich war. Es gibt Worte, die man nie wieder zurücknehmen kann, und es gibt Dinge, die eine Mutter nie erfahren sollte.
»Um Himmels willen, Vicky, er gehört zur Familie. Vielleicht wart ihr nie die besten Freunde, aber er ist dein Fleisch und Blut, und wir sind alles, was er hat.« Sie stand am Küchenfenster und starrte hinaus. »Dich zu sehen würde ihm so viel bedeuten.«
»Mum, ich würde ja hingehen, das weißt du ...« Mit rasendem Herzen und schweißnasser Stirn suchte ich nach einer Ausrede. Doch Mum war zu angespannt, um das zu bemerken.
»Ich habe nie verstanden, warum ihr beiden nicht miteinander auskommen konntet. Er muss furchtbare Angst haben.«
»Im Moment habe ich so viel Arbeit mit Kirsty ...«, sagte ich lahm. Sie fing an zu weinen.
»Warum sehen die denn nicht, dass es ein Unfall war? Ein tragischer, dummer Unfall.«
Wie sehr Mom David vergötterte, wusste ich. Aber sicher würde ihr der Prozess doch die Augen öffnen und ihr zeigen, was für ein Monster ihr Sohn war? Wie konnte sie ihn immer noch lieben und ihm vertrauen, wo doch inzwischen die ganze Welt wusste, dass Blut an seinen Händen klebte? Ich wollte sie schütteln, umarmen, ihr die Liebe zu ihm ausreden. Doch das einzige Argument, das ich hatte, musste ich ihr verschweigen. So hatte ich es mir für alle Zeit geschworen.
Es war Jahre her, seit ich diesen Pakt mit mir geschlossen hatte. Damals, als mir meine Kindheit entrissen worden war, hatte ich mir selbst versprochen, dass niemand sonst unter dem leiden sollte, was David getan hatte. Was immer auch geschah - ich würde nicht zulassen, dass er unsere Familie zerstörte.
Doch während meine Familie eine Lüge lebte, kam jemand zu Schaden. Auf schwerste Weise. David hatte Helen für immer zum Schweigen gebracht. Wollte ich wirklich zulassen, dass er mit mir dasselbe tat?
Ich holte tief Luft. Zum tausendsten Mal fragte ich mich, ob ich die richtigen Worte finden und mein Schweigen brechen konnte. Doch ein einziger Blick auf Mum sorgte dafür, dass sie mir im Hals stecken blieben. Sie wirkte so zerbrechlich, als könnte ein Windhauch sie umwerfen. Auf gar keinen Fall konnte ich ihr und meinem geliebten Vater noch mehr zumuten. Sie hatten bereits so viel ertragen müssen, und ich wusste, dass sie an meinem Geheimnis zerbrechen würden. Damit würde ich einen Sturm der Gewalt entfesseln, der alles zerstören und zu Staub zermahlen konnte, was in unserem Leben jemals gut gewesen war.
So schob ich wieder einmal den Riegel vor die Tür, hinter der sich die Wahrheit verbarg, und suchte nach einer Ausflucht.
»Ich und Kirsty sind ihm doch gar nicht so wichtig. Er will dich sehen und Dad .... Er ist doch ein großer Junge.«
Mum sah mir direkt ins Gesicht. Konnte sie mir etwas ansehen? Hatte sie schon immer einen Verdacht gehabt? Ein Teil von mir wünschte sich, sie würde es einfach erraten und mir die erdrückende Last von den Schultern nehmen. Einen Moment lang sah sie so aus, als wollte sie mir eine Frage stellen, als hätte sie die dunkle Wolke in meinen Augen gesehen und wollte herausfinden, was dahintersteckte. Aber es sollte nicht sein. Seufzend wandte sie sich ab und ließ mich wieder einmal mit meinem tödlichen Geheimnis allein. Das Gespräch war beendet, und erneut hatte ich uns alle im Stich gelassen.
Der Prozess dauerte vier albtraumhafte Tage lang. Mum wich nicht von Davids Seite; sie sagte sogar als Zeugin der Verteidigung für ihn aus. Zu erleben, wie sie sich für ihn einsetzte, zerriss mich innerlich. Ich hoffte nur, der Richter und die Geschworenen würden die Lügen durchschauen und erkennen, was für ein gefährlicher Mann er war.
Am vierten Tag konnte ich mich auf nichts konzentrieren. Ständig nahm ich Kirstys Spielsachen in die Hand und trug sie von einem Zimmer ins andere, während ich darauf wartete, dass Mum nach Hause kam und mir sagte, wie das Urteil ausgefallen war. Trotzdem zuckte ich zusammen, als der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Dad ging ohne ein Wort direkt nach oben. Er sah mich nicht einmal an. Ich schenkte Mum eine Tasse Tee ein und wartete. Das Herz schlug mir bis zum Hals.
Anfangs schien es, als könnte sie gar nicht sprechen. Ich schaute zu, wie meiner Mutter die Tränen übers Gesicht liefen, fühlte aber nichts. Sie sollte nur reden, mir endlich sagen, wie das Urteil lautete. Ich hatte das Gefühl, mein gesamtes Schicksal hinge an den Worten, die sie zurückhielt. Mein Magen brannte vor Wut und Frustration. Vor mir saß ein graues, verhärmtes Gespenst. Eine Fremde. Was war mit der lebhaften Frau geschehen, die in allen Pubs im Mittelpunkt stand, die unsere Mutter und Davids treueste Unterstützerin gewesen war? Die letzten Monate hatten ihr schwer zugesetzt; dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Das hatte er ihr angetan. Aber das war gar nichts im Vergleich zu dem Schaden, den ich anrichten konnte, wenn ich ihr einfach nur die Wahrheit sagte.
Mum rieb zwanghaft die Fingerknöchel ihrer linken Hand. Ich wollte meine Hand auf ihre legen und sie festhalten, als wäre sie die Tochter und ich die Mutter, die sie schützen und ihren Schmerz wegzaubern konnte. Doch nach all den Jahren voller Bitterkeit und Heimlichtuerei brachte ich es nicht über mich, sie zu berühren. Sie war der Grund, weshalb David noch immer in meinem Leben war. Sie war der Grund, weshalb ich nie frei sein würde - ganz egal, wie das Urteil lautete.
Die Augen meiner Mutter waren gerötet, und sie zitterte.
Mühsam presste sie die Worte hervor. »Er hat acht Jahre bekommen. Acht Jahre.«
Ich schaute zu, wie die Tränen wieder kamen, und nickte.
Verzweifelt huschten meine Augen zwischen den vertrauten Einrichtungsgegenständen in ihrem Wohnzimmer hin und her, damit ich Mum nicht anschauen musste. Ich wollte den Zorn und die Fassungslosigkeit nicht sehen, die ihr im Gesicht standen. Innerlich fühlte ich mich wie ausgehöhlt. Jahrelang hatte ich mir diesen Moment immer wieder vorgestellt - wie es sein würde, frei zu sein von meinem Bruder und der Last der Schuld und Schande, die mein Leben erstickte. Was ich tun würde. Was ich sagen würde - jetzt, wo die ganze Welt wusste, wie böse und schlecht er tatsächlich war.
Doch er hatte etwas in mir abgetötet, und jetzt war nichts mehr übrig. Kein Mitleid, keine Wärme, nicht einmal der Wunsch nach Rache. Meine Mutter wurde von Schluchzern geschüttelt, aber ich ging nicht zu ihr. Ich konnte sie nicht trösten. Nach den vielen Jahren, in denen ich das schreckliche Geheimnis mit mir herumgeschleppt hatte, wusste ich kaum noch, wie sich eine richtige Tochter benehmen sollte. Selbst jetzt, wo er im Knast saß, stand David noch zwischen meiner Mutter und mir und zerstörte unsere Beziehung zueinander. Das konnte ich ihm niemals verzeihen.
»Wein doch nicht, Mum«, sagte ich hilflos.
»Entschuldige, Liebes.« Sie wischte sich über die Augen. »Du hast recht. Wir müssen stark sein für David. Wir werden gegen das Urteil Berufung einlegen und können sicher bald wieder eine richtige Familie sein.«
In diesem Moment wusste ich eines ganz sicher. Mein niederträchtiger Bruder mochte zu acht Jahren verurteilt worden sein, doch meine Strafe dauerte viel länger. Für mich gab es keine vorzeitige Entlassung, keine Freiheit, auf die ich mich freuen konnte. Und schlimmer noch: Ich musste mein Leiden stumm ertragen, sonst würde ich alle, die ich liebte, um ihr Glück und ihren Verstand bringen.
Frühe Tage
Ich streckte die Arme weit nach oben und rieb mir die Augen. Dann schnellte ich hoch, warf mein geblümtes pinkfarbenes Federbett beiseite und sprang aus dem Bett. »Dad!«, rief ich. »Wo bist du?« Ich hörte sein leises Lachen und fand ihn in der Küche. Mit ausgebreiteten Armen wartete er auf mich. »Da bist du ja«, sagte ich und warf mich an seine Brust.
»Was möchtest du denn heute machen?«, fragte er. Erwartungsvoll sah ich ihn an. Sicher hatte er längst einen Plan. Für Len, meinen Vater, war ich die Nummer eins, sein ganz besonderes Mädchen. Jeder Tag mit ihm war ein Abenteuer.
Samstags morgens rannte ich fast immer aufgeregt durch die Sozialwohnung in Tilbury und suchte nach Dad, weil ich wissen wollte, was er sich für den Tag überlegt hatte. Dann quietschte ich vor Aufregung, während Dad gemütlich die Zeitung las und über meine kindliche Ungeduld lachte.
»Los, geh, wasch dich, und zieh dich an. Ich denke mir solange etwas aus«, sagte er dann. Und ich sauste wie der Blitz ins Badezimmer ... Ohne Dad wäre meine Kindheit ziemlich öde gewesen.
Seit ich mich erinnern kann, hatten er und ich uns sehr nahegestanden. Er war ein liebevoller Mensch, und seine Umarmungen waren so fest, dass man glaubte, ein großer knuffiger Bär habe einen gepackt. Dabei war er ein eher schlanker, schlaksiger Mann und wirkte viel jünger als die meisten Erwachsenen in seinem Alter. Als ich und meine Geschwister geboren wurden, war er noch sehr jung gewesen, fand aber der Familienlegende nach sofort in die Vaterrolle hinein. Mein Dad mag nicht ausgesehen haben wie ein Bär, aber dennoch fühlte man sich in seinen Armen geborgen und beschützt. Viele Angehörige haben mir immer wieder erzählt, dass ich vom ersten Tag an Dads Prinzessin war. Gleich als ich aus der Klinik kam, badete er mich und wechselte meine Windeln. Tatsächlich kümmerte er sich stets viel hingebungsvoller um mich, als Mum es je tat. Sie war erschöpft von der Geburt, und die anderen Kinder brauchten sie ebenfalls.
Avril, meine Mum, war eine lebhafte Blondine, die es sich gerne gut gehen ließ. Sie war zierlich wie mein Dad und sehr attraktiv. Ich fand sie wunderschön und betete sie an. Obwohl Mum es manchmal nicht zeigen konnte, wusste ich, dass sie mich liebte. Wenn ich ihr eine meiner langatmigen, kindlichen Geschichten erzählen wollte, ließ sie mich manchmal einfach stehen, weil eine Zeitschrift auf dem Küchentisch oder ein Geräusch auf der Straße sie mehr interessierte. Für David, meinen älteren Bruder, hatte Mum immer Zeit. Sie war einfach kein Mädchen, das mit Mädchen viel anfangen konnte. Wenn Dad sie gelegentlich ermahnte, kein Kind zu bevorzugen, gab sie sich daraufhin immer große Mühe, auch an mir Interesse zu zeigen, und dies hielt immerhin für eine Weile an.
Mum war ein paar Jahre älter als Dad und hatte nicht viel Zeit für irgendwelchen Kinderkram mit mir. Sie war berufstätig und oft sehr müde, sorgte aber auch dafür, dass der Spaß in ihrem Leben nicht zu kurz kam. Mum hatte einen ziemlich lebhaften und lauten Freundeskreis. Als ich etwa fünf Jahre alt war, zogen wir in ein Haus in der Bata Avenue in der Nähe der gleichnamigen Schuhfabrik. Dad arbeitete dort bereits als Schweißer, und Mum fand in der Fabrik eine Teilzeitstelle als Helferin. Ich weiß noch, wie begeistert Mum und Dad waren, denn wenn sie beide dort arbeiteten, konnten wir in ein Firmenhaus auf dem Fabrikgelände ziehen. Die enge Vierzimmer-Sozialwohnung, die aus allen Nähten platzte, war damit Vergangenheit.
Wir waren eine ziemlich große Familie mit ein paar Besonderheiten. Aber die gibt es ja fast überall. Ich war das Nesthäkchen - das jüngste von vier Kindern. Zu John Paul, meinem ältesten Bruder, der fast zehn Jahre älter war als ich, hatte ich nie eine sehr enge Verbindung. Er traf sich lieber mit seinen Freunden oder hantierte mit seinem CB-Funkgerät, als sich mit seiner kleinen Schwester zu beschäftigen.
Eine große Schwester namens Tina hatte ich auch. Aber sie lebte nicht bei uns. Sie war acht Jahre älter als ich und lange vor meiner Geburt aus einem Hochstuhl gefallen. Seither hatte sie Verhaltensprobleme. Als sie älter wurde, konnten Mum und Dad sie fast nicht mehr bändigen. Sie wurde handgreiflich, speziell Mum gegenüber, deren Gesicht nach Tinas Ausbrüchen oft von Kratzern und Platzwunden übersät war.
Als ich noch ein Baby war, versuchte Tina während eines Wutanfalls angeblich einmal, John Paul zu erwürgen. Er wurde ohnmächtig, und Mum musste Tina ins Schlafzimmer sperren, um John Paul wiederbeleben zu können. Danach kamen meine Eltern um die schwierige Entscheidung nicht mehr herum, wie Tinas weitere Zukunft aussehen sollte. Letztendlich mussten sie sich der Tatsache stellen, dass Tinas Ausbrüche uns alle und auch sie selbst gefährdeten. Sie wurde auf eine spezielle Schule geschickt.
So war Tina während meiner Kindheit meist in dieser besonderen Schule oder in einem Heim. Sie kam gelegentlich übers Wochenende oder während der Ferien nach Hause, und ich hatte immer ein bisschen Angst vor ihr. Ich weiß noch, dass ich mich als kleines Kind in ihrer Gegenwart nicht wohlfühlte, weil sie so anders war als wir anderen. Jetzt, wo ich älter bin, kann ich schmerzhaft nachempfinden, wie einsam sie sich gefühlt haben muss. Aber damals war ich noch zu jung, um das zu verstehen. Ich fand es schwer, die destruktive, aggressive Tina als Familienmitglied zu betrachten. Heute denke ich, dass Mum Tina sehr vermisste. Vielleicht schenkte sie David deshalb immer so viel Aufmerksamkeit. Vielleicht hoffte sie, seine traurige, schwierige ältere Schwester vergessen zu können, wenn sie meinen Bruder mit Liebe überschüttete.
Von allen Geschwistern standen David und ich uns am nächsten. Er war fünf Jahre älter als ich und ein typischer großer Bruder. Man sagt, als ich noch ein Baby war, sei er ganz vernarrt in mich gewesen. Er küsste mich ständig und streichelte meinen Kopf. Als ich älter wurde, wollte er mich vor allem beschützen - manchmal auch mit übertriebenem Eifer. Mein Bruder war ein aufgeweckter kleiner Junge, und meine Mutter liebte ihn abgöttisch. Während sie sich mir gegenüber oft distanziert verhielt, fragte sie ihn ständig, was er gemacht hatte und wer seine Freunde seien. Er hatte schon damals eine fast unheimliche Gabe, mit seinem Charme Menschen in seinen Bann zu ziehen. So gab es immer viele neue Freunde, von denen er Mum berichten konnte.
Im Lauf meiner Kindheit wurde die Beziehung zu meinem Dad immer enger, und ich folgte ihm auf Schritt und Tritt. Manchmal ging ich mit ihm zur Arbeit; an anderen Tagen fuhren wir mit dem Wagen zum Angeln oder zu den Wiesen und Feldern in der Nähe, wo wir Insekten beobachteten. Ich war seine kleine Prinzessin und sah ihm zudem mit meinen großen Augen und dem breiten, ansteckenden Grinsen ziemlich ähnlich. Gleichzeitig behaupteten alle, die Jungs seien das Ebenbild meiner Mutter. Sie hatten dasselbe blonde Haar und dieselben stechenden, hellen Augen.
Ich war ein richtiger Wildfang - die meisten Leute meinten, ich hätte ein Junge werden sollen - und tat am liebsten das, was mein Vater gerade machte. Überall, wo wir auftauchten, riefen die Leute: »Alles klar, Kumpel?«, und ich war unglaublich stolz, weil er so beliebt war. Gerne hätte ich von sämtlichen Dächern gerufen: »Das ist mein Dad, und er gehört ganz allein mir!«
Dad war ein aufrichtiger, hart arbeitender Mann, der uns ein schönes, sicheres Leben ermöglichen wollte. Im Lauf der Jahre versuchte er sein Glück in verschiedenen Branchen, aber eigentlich war er Schweißer. Er stammte aus Essex, wo viele Männer diesen Beruf ausübten. Dabei war es für einen so schlanken, drahtigen Mann eher ungewöhnlich, körperlich dermaßen schwer zu arbeiten. Er kleidete sich gerne schick und ließ sein volles braunes Haar so schneiden, dass die Frisur zu seinem schmalen und doch markanten Gesicht passte. Obwohl er ein gut aussehender Mann war, konnte Dad sein Glück nie recht fassen, eine so umwerfend schöne Frau wie meine Mutter abbekommen zu haben. Wenn die Nachbarinnen mit ihm flirteten, lachte er immer und dachte, sie würden ihn nur aufziehen. Und da Mum so mit David beschäftigt war, hatte ich viel Zeit, sein größter und treuester Fan zu sein.
Auch wenn Dad oft lange arbeitete, nahm er sich viel Zeit für mich. Häufig trug er seine Arbeitskleidung, und wenn ich ihm dann nahe war, atmete ich seinen Geruch in tiefen Zügen ein. Er hatte den herben Geruch eines körperlich arbeitenden Mannes, den viele Leute wahrscheinlich als unangenehm empfunden hätten. Ich aber liebte ihn, weil er zu ihm gehörte.
Das Bata-Schuhfabrikgelände, auf dem wir jetzt wohnten, war wie ein eigenes kleines Dorf für die Fabrikarbeiter. Die Firma hatte für alles gesorgt: Es gab eine Schule, Läden, ein Kino, ein Hotel und sogar ein Schwimmbad. Hier konnte man wunderbar und ganz anders leben als in den trostlosen Sozialsiedlungen, von denen meine Eltern uns gerne fernhalten wollten.
Mum arbeitete normalerweise montags bis freitags von neun Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags. Fast immer holte sie uns von der Schule ab, ging mit uns heim und bereitete dann ein warmes Abendessen zu. Unser Haus war stets von verlockenden Essendüften erfüllt, weil Mum gerne neue Rezepte ausprobierte. Unser aller Leibgericht war allerdings ein ganz altmodischer Eintopf mit Klößen. Er schmeckte himmlisch.
Meinen Eltern war es wichtig, dass wir jeden Abend beim Essen gemeinsam am Tisch saßen. Wir mussten sauber und pünktlich um sechs Uhr zur Stelle sein. Mum kochte immer etwas mehr, falls zufällig jemand vorbeikam oder falls die Freunde meines Bruders da waren und Hunger hatten. Ich war nicht so gesellig wie meine Geschwister, doch meine Brüder hatten immer viele Freunde zu Besuch, und Mum und Dad luden sie gerne ein. »Esst ihr heute Abend mit uns?«, fragte Mum, wenn das Essen fertig war. »Ist das o.k., Mrs J?«, fragten die Jungen dann, kamen angerannt und stürzten sich wie die Geier auf alles, was auf dem Tisch stand.
Ich erinnere mich noch gut an einen Abend, als ich etwa sechs war, David elf und John Paul sechzehn, an dem ausnahmsweise nur die Familie beieinandersaß. Mum hatte einen gigantischen Cottage Pie gemacht, und John Paul fiel darüber her, sobald sie ihn auf dem Tisch abgestellt hatte.
»Finger weg!« Mum schlug mit den Ofenhandschuhen nach ihm. »Lass für uns auch noch was übrig. David hat noch gar nichts, und er ist ein Junge im Wachstum.«
Dad und ich sahen uns über den Tisch hinweg an und lachten. Mum war so berechenbar.
»Schon gut. Mach, was du willst!«, murmelte John Paul beleidigt.
David grinste. »Bloß weil du ein Volltrottel bist, musst du dich nicht gleich aufführen wie ein Tier«, sagte er. John Paul sah aus, als würde er seinem kleinen Bruder am liebsten die Lichter auspusten.
»Sei still, David, und schieb die Schüssel rüber. Hmmmmm. Sieht lecker aus.« Dad wollte keinen Streit.
Ich wollte gerne nachfragen, was ein Volltrottel war, doch John Paul guckte bereits grimmig genug. David schien die angespannte Stimmung nicht zu bemerken. Das war typisch für ihn. Er provozierte fröhlich drauflos und war dann überrascht, wenn andere wütend wurden. Umgekehrt verhielt sich das ganz anders. Bereits als ganz kleiner Junge war David oft ohne Vorwarnung explodiert und hatte sich erst wieder beruhigt, wenn er seinem Gegenüber richtig wehgetan oder es gedemütigt hatte. Deshalb bemühte ich mich stets, es mir mit ihm nicht zu verscherzen.
Weil mir Spannungen in der Familie zuwider waren, fing ich an, einen langen, komplizierten Witz zu erzählen, den ich bei einem von Dads Freunden aufgeschnappt hatte. Natürlich war ich zu jung, um ihn richtig zu verstehen, deshalb brachte ich immer wieder alles durcheinander. Mein Geplapper war so albern, dass am Ende alle lachten - selbst John Paul. Mum gab mir sogar einen Extralöffel Eiscreme, und ich hatte das Gefühl, dass wir jetzt wieder eine glückliche, traute Familie waren.
Bevor David auf die weiterführende Schule wechselte, gingen wir ein Jahr lang auf dieselbe Schule. Damals war ich etwa fünf oder sechs Jahre alt, und das Lernen fiel mir zunehmend schwerer. Mum brachte mich schließlich zu einem Fachmann, der nach ein paar Tests feststellte, dass ich Legasthenikerin war. Als die anderen Kinder in der Schule das herausfanden, nannten sie mich »Doofi« und jagten mich über den ganzen Hof. Die Schule wurde für mich zum Albtraum.
Einmal drängten mich ein paar ältere Kinder auf dem Schulhof in eine Ecke. Das passierte am Anfang der Mittagspause; die Lehrkräfte waren noch beim Essen. Ich schaute mich nach Hilfe um, doch niemand kam.
»Ich kenne dich«, sagte ein kräftiger rothaariger Junge. Er kam auf mich zu und stieß mir den Zeigefinger in die Brust. »Du bist die Zurückgebliebene.«
Hinter ihm kicherten seine Freunde spöttisch. Als ich nicht reagierte, schnappte er sich meine Schultasche.
»Du kriegst sie zurück, wenn du sie buchstabieren kannst.«
»Gib her!«, schrie ich und wollte danach greifen. Der Junge warf sie seinen Freunden zu und stieß mich so heftig, dass ich das Gleichgewicht verlor. Die Tasche hatten wir erst am letzten Samstag gekauft. Mum würde toben.
»Komm, Doofi. Ich helfe dir«, spottete er. Inzwischen hatte sich eine ganze Meute um uns versammelt. Alle warteten auf meine Antwort. Als ich David am Rand der Gruppe stehen sah, war mir die Situation noch viel peinlicher. Nie würde mein schlauer großer Bruder in eine solche Lage geraten. Wenn er jetzt auch noch Mum davon erzählte, würde mich sicher die ganze Familie auslachen. Bei diesem Gedanken konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.
»T ...«
Ein Mädchen drehte die Tasche um. Mein lilafarbener Federkasten knallte zu Boden und sprang auf.
»A ...«
Der rothaarige Junge kam noch näher. Sein Atem roch nach Zwiebeln. Ich konnte einfach nicht aufhören zu weinen.
»S ...«
Plötzlich hörte ich einen Schrei, und David stürmte wie aus dem Nichts auf den Jungen zu.
»Hey! Was soll das?«
Er brüllte in voller Lautstärke. Ich war klein für mein Alter und schüchtern. Doch David kannten und fürchteten sämtliche Kinder an der Schule. Sie waren vor ihm auf der Hut.
Ich zog mich in eine Ecke zurück und war ausnahmsweise einmal glücklich, dass sich nun alles um meinen Bruder drehte. »Macht es dir Spaß, meine kleine Schwester zu ärgern? Willst du es vielleicht auch mal mit mir versuchen?«, knurrte er.
Weil der rothaarige Junge sich vor seinen Freunden keine Blöße geben wollte, holte er aus und versuchte, David zu schlagen. Darauf hatte mein großer Bruder nur gewartet. Er wich dem ungeschickten Schlag aus und stieß meinem Peiniger mit Wucht das Knie in den Magen. Der Junge fiel hin; David trat auf ihn ein. Er hörte selbst dann nicht auf, als der Rothaarige sich am Boden krümmte und alle seine Freunde längst weggerannt waren.
Ich konnte das nicht mit ansehen und schlich mich am Ende sogar weg. Eigentlich hatte ich nie gewollt, dass David sich für mich prügelte. Ich mochte Prügeleien nicht. Doch das schien seine Art zu sein, Zuneigung für mich zu zeigen.
Kein Mensch wäre je auf die Idee gekommen, David als »Doofi« zu bezeichnen. Im Gegenteil: Bald hatten wir sogar schwarz auf weiß, wie überaus intelligent er war. Die Lehrer baten Mum und Dad immer wieder in die Sprechstunde, um mit ihnen über seine Fähigkeiten zu sprechen. Klassenarbeiten füllte er innerhalb von drei Minuten vollständig aus und erreichte so gut wie immer die höchstmögliche Punktzahl, ohne sich dafür groß anstrengen zu müssen. Ein paar Jahre später ergab ein an der Schule durchgeführter Test für David einen IQ von 158. Da der Durchschnitt bei 100 liegt, machte ihn das zu einer Ausnahmeerscheinung. Das Ergebnis war umso beeindruckender, wenn man bedachte, auf was für berüchtigte Schulen er gegangen war. Man war sich allgemein einig, dass er ein begabtes Kind mit außerordentlichen Veranlagungen sei.
Eines Tages konnte ich direkt miterleben, wie viel Talent in David steckte. An einem Nachmittag hockte ich in seinem Zimmer und schaute zu, wie er mit ausrangierten Computerteilen spielte. »Was machst du da?«, fragte ich. Er sah mich nur schweigend an. Dann bastelte er weiter. Ich saß auf seinem Bett und beobachtete staunend, wie er aus irgendwelchen x-beliebigen Teilen, die in seinem Zimmer herumlagen, ein Karussell baute. »Wow. Das ist fantastisch!«, quietschte ich. Dabei drehte ich die komplizierte Konstruktion im Kreis. Obwohl er sich vorher sehr gleichgültig gegeben hatte, sah er jetzt so aus, als gefiele ihm meine Bewunderung. Ich nahm das Karussell mit in mein Zimmer, hütete es wie einen Schatz und zeigte es jedem, der zu Besuch kam. In diesen frühen Jahren freuten Mum und Dad sich vermutlich, dass ihre Kinder sich so gut verstanden - besonders David und ich. Von außen betrachtet benahm sich David wie der typische große Bruder: Er war nicht übermäßig bemüht, aber doch so interessiert an mir, dass ich mich wichtig fühlte.
Für mich war die Sache ein bisschen komplizierter. Zwar redeten wir nie darüber, doch der Vorfall auf dem Schulhof ging mir nicht aus dem Kopf. Einerseits war ich schockiert, wie brutal David sein konnte. Andererseits war ich auf merkwürdige Weise stolz auf ihn und sehr dankbar, dass er mich vor meinen Peinigern beschützt hatte. Und ich war froh, dass er meinen Eltern nichts davon erzählte. Wie ein blödes Opfer dazustehen wäre mir furchtbar peinlich gewesen. Vor allem aber hatte ich das Gefühl, dass ich ihm nun etwas schuldete. Deshalb versuchte ich, seine Macken nicht mehr zu beachten und stattdessen die positiven Seiten seiner Persönlichkeit zu sehen. Das machte Davids Verrat an mir am Ende umso schrecklicher. Es sollte sich herausstellen, dass ich von ihm viel mehr zu befürchten hatte als von irgendwelchen dummen Jungen, die mich auf dem Schulhof drangsalierten.
Weiterziehen
Zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen gehören die Ferientage, die wir zusammen als großer Clan im Lambeach-Marina Caravan- Park in Cambridgeshire verbrachten. Wir, das waren Mum, Dad, David, John Paul und ich, dazu Dads Schwester, Tante Chris, mit ihrem Mann und meinen Cousinen Kate und Kayley. Wann immer wir es uns leisten konnten, fuhren wir auf den Campingplatz: im Sommer, zu Ostern und Halloween - manchmal sogar an langen Wochenenden. Nur an Weihnachten und zu Silvester blieben wir zu Hause, weil Dad Weihnachten im engsten Familienkreis so liebte. Heute weiß ich, dass meine Eltern damals Sorgen hatten. Zu Hause gab es immer wieder Zeiten, in denen sie wochenlang flüsternd stritten und Türen zuknallten. Doch als Kind dachte ich nur an die Ferientage, in denen die Anspannung von Mum und Dad abfiel, sodass sie normal miteinander redeten und wieder lachten, während ich Stunde um Stunde mit meinen Brüdern und Cousinen Karten spielte.
Der Campingplatz war wunderschön und von Seen, Feldern und Wäldern umgeben. Für Zelte, Wohnwagen und Dauercamper gab es jeweils separate Bereiche. Die Erwachsenen konnten zwischen drei verschiedenen Bars wählen, wir Kinder hatten als Treffpunkt ein Café. Ich liebte den Platz. Damals besaßen wir dort einen Wohnwagen, dazu stellten wir ein paar Zelte auf. Die Jungs genossen die Freiheit draußen in den Zelten, wir anderen schliefen im Wohnwagen. Ich war fast ununterbrochen mit meiner Cousine Kate zusammen. Die Leute meinten, wir wären ein Gespann wie Laurel und Hardy. Wir hatten immer viel Spaß. Kate war in meinem Alter, nur etwas kleiner. Ihr braunes, wuscheliges Haar stand in alle Richtungen ab. Sie sah richtig drollig aus und guckte meist, als würde sie gleich losprusten. Weil sie so niedlich aussah, bekam sie selten ernsthafte Schwierigkeiten. Ich selbst war in diesem Alter noch furchtbar schüchtern und machte nur ungern den Mund auf, wenn mir etwas nicht passte. Kate hingegen war sehr laut und keck. Wir müssen ein ziemlich gegensätzliches Duo gewesen sein.
Kate war aber auch ein sehr lieber Mensch, und ich ließ nichts auf sie kommen. Außerdem gehörte sie zur Familie; das unterschied sie von anderen Freunden. In ihrer Gegenwart verlor ich meine Hemmungen und meine Unsicherheit.
Der Campingplatz war für uns ein kleines Paradies. Einmal fand auf dem See ein Wasserfestival statt, bei dem Wasserski-Akrobaten Kunststücke vorführten. Ich war sehr beeindruckt. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Die Sportler schienen so frei, wenn sie übers Wasser sprangen. So als könnte nichts sie halten.
Bei dem Fest lief ein Mann in einem Affenkostüm durch die Menge. David lachte sich halb tot, aber Katy rannte wie ein Hase, als sie ihn sah. Dar Affenmann jagte ihr furchtbare Angst ein. Stundenlang mussten wir nach ihr suchen, weil sie kopflos einfach geflüchtet war. Das passte so gar nicht zu meiner vorlauten, selbstbewussten Cousine, aber die Erwachsenen lachten nur darüber. Ich hingegen sorgte mich, dass ihr etwas passiert sein könnte. Am Ende fanden wir sie unverletzt und wohlbehalten unter ihrer Bettdecke im Wohnwagen. Offenbar hatte meine kesse Cousine doch eine sensible Seite. Hinterher tat sie, als sei nichts gewesen, und wollte nie darüber reden, was ihr solche Angst gemacht hatte. In unserer Familie war es nicht üblich, Probleme voreinander auszubreiten. Deshalb drängte ich sie nie, ihr Schweigen zu brechen. Und wenige Jahre später versuchte auch niemand, mich dazu zu bewegen.
Kurz nachdem wir diesmal vom Campingplatz nach Hause zurückgekehrt waren, lief in unserer Familie etwas gründlich schief. Anscheinend war Kate nicht die Einzige, die sich ungern in die Karten schauen ließ. Anhand der angespannten Atmosphäre im Haus hätte ich erraten können, dass Mum ernste Sorgen hatte. Doch ich war damals erst neun Jahre alt und vertraute ganz darauf, dass meine Eltern stets dafür sorgen würden, dass mein glückliches, sicheres kleines Leben einfach immer so weiterging.
Eines Nachmittags kam Mum mit blassem Gesicht und geröteten Augen aus der Bata-Schuhfabrik nach Hause. Sie zog Dad ins Schlafzimmer und schloss die Tür. Die beiden redeten leise miteinander, sodass ich nicht verstehen konnte, was sie sagten. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Was konnte passiert sein? War sie krank? Warum wollten die beiden nicht, dass ich sie hörte? Ich wusste, dass es etwas Schlimmes sein musste, denn auf dem Weg die Treppe hinauf hatte Mum nicht wie sonst nach David gefragt. Obwohl es mich schon immer geärgert hatte, dass David ihr erklärter Liebling war, war die Angst riesengroß, dass meiner wunderschönen Mum etwas fehlen könnte.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis Mum und Dad aus dem Schlafzimmer kamen und sich mit mir zusammensetzten.
»Hör zu, Liebes.« Dad strich mir übers Haar. »Es gibt Neuigkeiten. «
»Was ist denn?«, fragte ich. Mum sah aus, als könnte sie nur mit Mühe die Tränen zurückhalten.
»Wir ziehen um, Vicks. Wir packen alles zusammen. Das wird ein Abenteuer.« Dad versuchte zu lächeln.
»Oh«, sagte ich langsam. »Und Kate? Kommt sie mit?«
»Nein. Sie bleibt bei Tante Chris. Aber wir können herkommen und sie besuchen. Das ist kein Problem«, murmelte er. Er sah, wie meine Unterlippe anfing zu zittern. »Und du kannst mit deinen Brüdern spielen. Die Familie bleibt zusammen, nur darauf kommt es an.«
»Aber warum ...?«
Meine Mutter unterbrach mich vielleicht ein wenig schroffer als beabsichtigt.
»Vicky, ich habe meinen Job verloren. Wir ziehen weg. Du musst dir keine Sorgen machen. Und jetzt will ich nichts mehr darüber hören.« Damit ging sie davon, um nach David zu suchen, und ich flüchtete in Dads warme Arme, wo ich mich immer zu Hause fühlte. So lange ich ihn hatte, konnte mir nichts passieren.
Rückblickend bin ich froh, dass ich damals noch zu jung war, um zu verstehen, wie prekär unsere Lage war. Viel Geld hatten wir nie gehabt, und Mums Entlassung brachte uns in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten. Während ich mich sorgte, weil mein kleines Leben aus den Angeln geriet, hatten meine Eltern Mühe, genügend Geld fürs Essen aufzutreiben. Aus dem Schlafzimmer hörte ich nun öfter Streit, und wir lebten wochenlang nur von Pommes und Eiern.
Nach Mums Entlassung verbrachten wir zwei Wochen auf dem Campingplatz. In dieser Zeit beschlossen meine Eltern, noch mal von vorn anzufangen und sich ganz in dieser Gegend niederzulassen. Ich war begeistert. Für mich klang das nach endlosen Ferien. Es war ein Neuanfang, und auf einem Campingplatz zu leben erschien einer Neunjährigen wie die beste Nachricht aller Zeiten. Dad fand einen neuen Job, und der Caravan-Park wurde unser Zuhause. Doch nach der aufregenden Anfangszeit wurde mir klar, dass das Leben dort ohne meine Cousinen nicht dasselbe war. Lange vermisste ich Kate und sehnte mich danach, sie zu sehen. Ich saß auf meinem Bett und überlegte, welchen Unsinn sie wohl gerade ausheckte.
»Komm, Vicky«, sagte Dad ab und zu. »Nun lach doch mal.«
»Warum ist sie bloß so eine Heulsuse?«, grunzte David aus dem Etagenbett.
»Hey, es würde dich nicht umbringen, dich ein bisschen mehr um deine Schwester zu kümmern ...«, antwortete Dad.
»Ich weiß nicht. Auszuschließen ist es nicht«, nuschelte David unter der Bettdecke hervor. »Oder ich bringe sie um, wenn sie nicht aufhört zu jammern.«
»Vicks, lass deinen Bruder in Ruhe, bitte«, rief Mum aus der Kochecke. Dad verdrehte die Augen und ging mit mir hinaus auf den Platz.
So jäh aus der gewohnten Umgebung gerissen zu werden wäre für fast jedes Kind in meinem Alter schwierig gewesen. Aber ich war entschlossen, das Beste daraus zu machen und meinen Eltern nicht noch zusätzlich Sorgen zu bereiten.
Wie die Sardinen hausten wir in unserem alten Wohnwagen, bis Mum eine Putzstelle fand und die Frau des Platzverwalters, eine Maklerin, uns nicht allzu weit entfernt, in Meeple, ein Haus zur Miete vermittelte, wo wir leben konnten. Ich war froh, wieder ein eigenes Zimmer zu haben. David konnte so launisch und unberechenbar sein, dass ich nicht mehr gern so nah bei ihm schlafen mochte. Sobald wir aus dem Wohnwagen ausgezogen waren, verflog mein Unbehagen, und Mums Jobverlust war schnell nur noch eine blasse Erinnerung.
Ich liebte unser neues Heim und fand an der Grundschule in Meeple schnell Freundinnen. Wie üblich war ich zwar nicht das kontaktfreudigste Kind der Klasse, doch unter meinen Mitschülern gab es ein sehr nettes Mädchen namens Alice. Sie war ziemlich schüchtern, und ich glaube, sie hatte auch nicht viele Freunde. Also hatten wir etwas gemeinsam.
»Möchtest du heute Abend zum Essen zu uns kommen?«, fragte Alice eines Tages. »Mum meint, es sei o.k., und wir haben viele Tiere.« Ich liebte Tiere, und bald ging ich fast jeden Nachmittag nach der Schule mit zu ihr.
Alice und ihre Familie lebten auf einer Farm nur ein Stück weiter die Straße entlang. So hatte ich einen kurzen Heimweg. Wir sahen zusammen fern oder gingen spazieren. Auf der Farm gab es Schweine, Kühe und Ställe voller Pferde. Alice war eine hervorragende Reiterin, und jedes Mal, wenn ich sie auf einem Pferd sah, war ich voller Bewunderung. Wir wurden sehr enge Freundinnen, und sie brachte mir das Reiten bei. Für mich war es neu, dass andere Menschen nett zu mir waren und sich für mich interessierten. Bisher hatte das nur Dad getan. Normalerweise drehte sich immer alles um meinen charmanten, klugen großen Bruder. Alice hatte auch einen älteren Bruder, Stephen, der manchmal mit uns spielte. Erstaunt registrierte ich, wie gut die zwei sich verstanden. Nie gab es zwischen den beiden irgendwelche seltsamen Spannungen. Obwohl sie sich gegenseitig gnadenlos aufzogen, war nicht die Spur von Bosheit dabei. Wenn sie sich stritten, dann immer nur spielerisch. Ich wünschte mir, David und ich hätten ein so entspanntes Verhältnis zueinander.
Mit Alice als bester Freundin und mit meiner neuen Leidenschaft, dem Reiten, blühte ich auf und wurde zu einem glücklichen, viel beschäftigten kleinen Mädchen. Gerne wäre ich für immer in Meeple geblieben. Selbst die Schule erschien mir hier nur halb so schlimm! Wenn wir irgendwo geblieben wären, wo ich echte Freunde hatte, denen ich vertrauen konnte, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Doch dieses schöne aufregende Leben war nicht von langer Dauer. Nach kaum zwei Jahren erklärten meine Eltern uns, dass wir wieder umziehen müssten. Ich nickte nur steif, ging in mein Zimmer und weinte und weinte. In meiner Erinnerung sind die Jahre in Meeple die glücklichsten meines Lebens.
Dad kam zu mir und versuchte mich zu trösten, indem er sagte, dass wir Meeple verlassen müssten, sei zwar traurig, aber nicht das Ende der Welt.
»Du wirst neue Freunde finden, Liebes.« Er sah mir angespannt ins Gesicht. »Und ist es nicht das Wichtigste, dass wir alle zusammen sind? Freunde kommen und gehen, aber die Familie bleibt für immer.«
»Ja, wahrscheinlich.« Ihm zuliebe versuchte ich zu lächeln.
»Schon besser.« Dad schenkte mir sein breites, unwiderstehliches Grinsen. »In unserem neuen Zuhause haben wir sicher ebenso viel Spaß miteinander. Du wirst sehen ...«
In dieser Nacht weinte ich nicht mehr in mein Kopfkissen. Dad hatte recht - ich brauchte nur meine Familie. Sie würde sich um mich kümmern.
Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass mein Bild von unserer perfekten Familie nur ein schöner Schein war und dass die ganze Fassade schon bald in sich zusammenfallen würde.
Übersetzung: Usch Pilz
© 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Vicky Jaggers
Vicky Jaggers' Traum von einem behüteten Leben in ihrer glücklichen Familie verwandelte sich in einen Alptraum, als sie mit zwölf Jahren von ihrem Bruder vergewaltigt wurde. Erst viele Jahre später und nach weiteren schweren Prüfungen gelang es Vicky Jaggers, über die Vergewaltigungen zu sprechen. Unterstützt von ihrem Ehemann und ihren Kindern setzt sie sich inzwischen mit ihrem Trauma auseinander und nimmt ihr Leben selbst in die Hand. Vicky Jaggers lebt mit ihrer Familie und vielen Tieren in Essex.
Bibliographische Angaben
- Autor: Vicky Jaggers
- 2012, 227 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863656768
- ISBN-13: 9783863656768
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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