Western (DVD)

Regisseurin Valeska Grisebach (Jahrgang 1968, u.a. „Stern“ – Kurzfilm, Studienabschlussfilm 2001, „Sehnsucht“ - 2006) beschäftigt sich in ihrem Spielfilm „Western“, einer deutsch-bulgarisch-österreichischen Koproduktion aus dem Jahr 2017, mit einer Gruppe von überwiegend deutschen Bauarbeitern, die, nicht - wie der Filmtitel vermuten ließe - im „wilden Westen der USA“, sondern im Osten Europas in einer abgelegenen Gegend nahe eines kleinen Dorfes an der bulgarisch-griechischen Grenze ein Wasserkraftwerk errichten und dafür einen Fluss umleiten sollen. Die Hauptfigur ist der in sich gekehrte Meinhard (von eindringlicher Präsenz: Meinhard Neumann), der wie die anderen die Arbeit im Ausland angenommen hat, um Geld zu verdienen. Er lebt mit einer Handvoll Kollegen und dem Vorarbeiter Vincent (Reinhardt Wetrek) in einer Unterkunft auf einer Anhöhe, von der aus sich ein herrlicher Blick über die grandiose Landschaft bietet. Nach und nach gewinnt Meinhard das Vertrauen eines wild weidenden Pferdes und knüpft darüber, trotz Sprachbarrieren, zarte Kontakte zu dessen Eigentümer Adrian (Syuleyman Alilov Letifov), dessen Familie und zu den, Fremden gegenüber eigentlich misstrauischen Dorfbewohnern, darunter Veneta (Veneta Fragnova) und Vyara (Vyara Borisova). Doch seine zunehmende Vertrautheit mit einigen der Einheimischen kommt nicht bei allen gut an, insbesondere Vincent stößt sie sauer auf…

Es folgt ein kleiner Abstecher zur Regisseurin:
Die deutsche, in Bremen geborene Valeska Grisebach wird der „Berliner Schule“ zugerechnet, einer losen Gruppe an Filmemachern, zu deren erster Generation Christian Petzold (Jahrgang 1960, u.a. „Yella“ - 2007, „Barbara“ - 2012, „Phoenix“ - 2014, „Transit“ - 2018), Thomas Arslan (Jahrgang 1962, u.a. „Im Schatten“ - 2010, „Gold“ - 2013, „Helle Nächte“ - 2017) und Angela Schanelec (Jahrgang 1962, u.a. „Nachmittag“ - 2007, „Der traumhafte Weg“ - 2016, „Ich war zuhause, aber“ - 2019) zählen. Aktuell ordnet man vor allem auch die Werke von Christoph Hochhäusler (Jahrgang 1072, u.a. „Milchwald“ - 2003, „Dreileben – Eine Minute Dunkel“ - Fernsehfilm - 2011, „Die Lügen der Sieger“ -2014, Benjamin Heisenberg (Jahrgang 1974, u.a. „Schläfer“ - 2005, „Der Räuber“ - 2010 ), Maren Ade (Jahrgang 1976, u.a. „Alle anderen“ - 2009, „Toni Erdmann“ - 2016), Henner Winckler (Jahrgang 1969, „Klassenfahrt“ - 2002, „Lucy“ - 2006) dieser Gruppe zu.

Grisebach studierte an der Filmakademie Wien und zählt deswegen neben Barbara Albert (Jahrgang 1970, u.a. „Nordrand“ - 1999, „Die Lebenden“ - 2012, „Licht“ - 2017), Jessica Hausner (Jahrgang 1972, u.a. „Lourdes“ - 2009, „Amour Fou“ - 2014, „Little Joe – Glück ist ein Geschäft“ - 2019) und Ruth Mader (Jahrgang 1974, u.a. „Struggle“ - 2003, „Life Guidance“ - 2017) zu einer Gruppe von Filmemacherinnen aus Österreich, die dem „Neuen Österreichischen Film“ bzw. der "Viennese new wave“ zugewiesen wird.

Zurück zum Film:
„Western“ ist ein sehr eigener Spielfilm, der viel Dokumentarisches verströmt und der eine besondere Atmosphäre aufbauend, an seinem Publikum vorbeizieht, das beobachtet, wie sich Situationen langsam entwickeln, zuspitzen, entschärfen oder unaufgelöst als Andeutungen im Raum stehen bleiben. Er befasst sich mit (Vorstellungen von typischer) Männlichkeit, gemeinsam ausgetragenen Kämpfen oder feindseligen Auseinandersetzungen, der Ausformung und der Veränderlichkeit gesellschaftlicher Strukturen, der Auswirkung des Spannungsfelds zwischen Einsamkeit, Fremdheit und dem Dazugehörenwollen, Heimat und Freiheit, Menschlichkeit, Wärme und Verrohung, undefinierbaren oder nicht realisierbaren Sehnsüchten und Trauer, örtlicher und persönlicher Erdung auf die Psyche und das Verhalten eines Menschen. Er deckt mithilfe suggestiver Bilder und vieler Motive aus dem Western-Genre (Pferd, Fluss, Lagerfeuer, Waffen, Duelle, zwei Antagonisten, der eine der skrupellose und respektlose „Böse“, Vincent, der andere der wortkarge, im Vergleich geradezu feinsinnige „Gute“ Meinhard usw.) äußerliche und innerliche Widersprüche und Brüche auf, legt ungelöste und unlösbare zwischenmenschliche sowie Konflikte mit sich selbst frei, die genau wie der Titel verwirren, und verweist auf die Notwendigkeit, Balance zu halten, ob mit Blick auf die „Zähmung“ bzw. Urbarmachung der Natur oder im Umgang der Menschen miteinander.

Die Schauspieler sind allesamt Laien – den Hauptdarsteller Meinhard Neumann fand die Regisseurin zum Beispiel auf einem Pferdemarkt. Ihre Unverstelltheit, außerdem der Berliner Dialekt und die Tatsache, dass viel Bulgarisch gesprochen wird (beides ist untertitelt) tragen zur enormen Authentizität dieses Films bei.

Fazit: Bedächtig, rau, kantig sowie undurchschaubar wie die Hauptperson und damit insgesamt schwer zu fassen, voller Zwischentöne und dauerhaft unterschwelliger, flirrender Spannung ist dieser 2017 mit dem „Günter-Rohrbach-Filmpreis“, dem „Preis der deutschen Filmkritik“ und dem „Deutschen Filmpreis“ 2018 jeweils in der Kategorie „Bester Spielfilm“ ausgezeichnete Film „Western“ und deswegen ein spezieller Leckerbissen für diejenigen, die außergewöhnliche Filme suchen, welche zur Kontemplation und Reflexion einladen.