Das stille Kind
Roman. Originalausgabe
Paulina lebt mit ihrer Familie endlich auf dem Land, so wie sie es sich immer gewünscht hat. Doch dann bringt eine Diagnose ihr Glück ins Wanken. Paulinas 4-jähriger Sohn David leidet am Asperger-Syndrom, einer Form von Autismus. Nun muss...
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Produktinformationen zu „Das stille Kind “
Paulina lebt mit ihrer Familie endlich auf dem Land, so wie sie es sich immer gewünscht hat. Doch dann bringt eine Diagnose ihr Glück ins Wanken. Paulinas 4-jähriger Sohn David leidet am Asperger-Syndrom, einer Form von Autismus. Nun muss Paulina um ihren Sohn und ihre Liebe kämpfen.
Klappentext zu „Das stille Kind “
Paulina und Lukas können ihr Glück nicht fassen. Endlich soll ihr Traum vom Haus mit Garten in München wahr werden, endlich können sie mit ihren drei kleinen Kindern Cosima, David und Mavie aus der engen Wohnung an der lauten Donnersbergerstraße ausziehen. Das freut Paulina besonders für den vierjährigen David. Er ist anders als seine Geschwister, anders als die Kinder im Kindergarten. Er spricht wenig, hat vor allem Fremden Angst, kann kaum Kontakte aufbauen, braucht zwanghaft eine strenge Ordnung um sich herum. Als schließlich die ärztliche Diagnose Asperger Syndrom gestellt wird, eine Art von Autismus, bricht für die Familie scheinbar eine Welt zusammen. Doch dann beschließen Paulina und Lukas, ihren Sohn aus seinem seelischen Gefängnis zu befreien. Und damit beginnt das Leben jeden Tag neu.
Lese-Probe zu „Das stille Kind “
Das stille Kind von Asta Scheib1
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Lukas legte seinen Arm um Paulina und zog ihren Kopf sanft an seine Schulter. Paulina seufzte, tat so, als schliefe sie noch. Aber sie verriet sich, drängte sich an Lukas, und er spürte wieder die seidige Weichheit ihrer Haut, ihres warmen, geschmeidigen Körpers. Jetzt zog er sie fest an sich, grub seine Lippen in ihren Mund und suchte ihre Zunge, die ihm rasch entgegenkam. Paulina griff in Lukas' dichten Schopf, dann glitten ihre Finger über seinen Körper. »Verdammt schön, dass du mich so gut kennst«, murmelte Lukas und schloss die Augen, seine Hand streichelte Paulinas Haar. Sie mussten leise sein. Paulina bewegte sich unter der Bettdecke an seinem Körper entlang, bedeckte ihn mit Küssen und liebkoste ihn, als wollte sie ihm ihren gesamten Vorrat an Liebe auf einmal schenken.
»Und du?«, flüsterte Lukas Paulina später ins Ohr. Sie hatte sich noch mal an seine Schulter geschmiegt, lag still da und atmete mit ihm. Sie gab ihm noch einen flüchtigen Kuss, sagte: »Heute nicht«, und stieg graziös aus dem Bett.
Lukas schaute ihr nach, sah die Schwimmerschultern, den festen Po und die langen Beine Paulinas im Bad verschwinden. Er versuchte, alles zu speichern, Paulinas Duft, ihren fast jungenhaften Körper an seinem - dann war es auch Zeit für ihn, aufzustehen. Es hatte sich so ergeben, dass er den Tee zubereitete und für jeden eine Schale Milch mit Flocken, Rosinen und Honig.
Als er in die Küche kam, sah er auf Cosimas Platz die Geburtstagsdekoration, die Paulina wohl gestern noch gemacht hatte, als er schon schlief. Seine Große wurde sechs Jahre alt. Er ging ins Kinderzimmer, setzte sich vorsichtig an ihr Bett und streichelte sie wach.
Sein Sohn David ließ sich nicht stören. Er hockte schon unterm Küchentisch und spielte selbstvergessen mit seinen Soldaten, die er in pingelig genauen Reihen aufmarschieren ließ. Wehe, einer fiel um. Niemand, auch nicht die Eltern, durfte an Davids Streitmacht etwas verändern. Er hatte die Soldaten von Granny bekommen. Die kleinen Figuren aus bunt bemaltem Zinn, etwa daumengroß, waren nach dem deutsch-französischen Krieg in Nürnberg hergestellt worden, denn sie trugen die Uniform des Garderegiments, schwarze Stiefel, weiße Hosen, blaue Jacke. Die französischen Soldaten waren an ihren roten Hosen zu erkennen. Lukas, Franziskas Enkelsohn, war nie an dieser Armee interessiert gewesen, die noch von seinem Urgroßvater stammte. Für David jedoch waren die Zinnsoldaten sein Ein und Alles.
Paulina hatte ihren Bademantel angezogen und stillte das Baby. Wie jedes Mal, wenn Lukas und sie sich am Morgen liebten, hatte sie ihren Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen. Als täte sie etwas Verbotenes. Sie hatte Angst, Cosima oder David könnten plötzlich ins Schlafzimmer kommen.
Sie sah mit einem kurzen Lächeln auf, aber ihre Aufmerksamkeit gehörte nicht mehr ihrem Mann. Lukas erlebte das nicht zum ersten Mal. Kein Gedanke an den letzten Augenblick, er war abgemeldet. Fast war er beleidigt, und er hätte das Paulina gern ein wenig spüren lassen, aber es war schon acht Uhr vorbei, er musste sich beeilen denn ausgerechnet heute sollte er einen Kollegen auf dem Waldfriedhof vertreten. Und vorher wollte er Cosima noch in den Kindergarten bringen.
Lukas legte kurz seine Wange an Paulinas Gesicht, küsste David und Mavie, nahm die fertig angezogene Cosima an der Hand und polterte die Treppe hinunter. Da erschien Paulina noch einmal am Treppenabsatz und rief ihm hinterher, dass er seinen Schal vergessen habe, es sei für den ganzen Tag Schneefall gemeldet. Sie warf den wollenen Schal runter ins Treppenhaus. Lukas fing ihn auf und sah, wie Paulina die Wohnungstür schon wieder schloss. Manchmal war er hilflos - als Mann und als Vater. Familienvater, Vater dreier Kinder. Noch vor sieben Jahren wäre das für ihn unvorstellbar gewesen, und manchmal fühlte er sich so platt, als habe ein Traktor ihn überfahren. Dann wieder fand er alles großartig - durch diese vier geliebten Menschen schien er doppelt und dreifach zu leben.
Dieser Gedanke war ihm zum ersten Mal gekommen, und Lukas fand ihn eindrucksvoll. Vielleicht könnte er den Gedanken seinem Schwiegervater vortragen. Oder der Schwiegermutter. Lukas hatte schon mal gehört, dass sie ihren Mann mit »Herr Professor« ansprach und er sie mit »Frau Doktor«. Das war zwar nicht ernst gemeint, aber Lukas fand es trotzdem lächerlich. Es kam sogar vor, dass die Eltern sich siezten, wie es die gebildeten Schichten in Frankreich machten. Das war auch Paulina jedes Mal peinlich.
Der erste Nachmittag bei Paulinas Eltern war beklemmend verlaufen. Professor Robert Mertens war herablassend wohlwollend aufgetreten, auch nicht sonderlich interessiert; er entschuldigte sich ständig zum Telefonieren. Als er hörte, dass Paulina und Lukas heiraten wollten, war sein Gesicht hart und abweisend geworden. »Was machen Sie denn beruflich?«, hatte Paulinas Mutter in das Schweigen hinein gefragt. Doch auch sie, die Lukas eigentlich sympathisch gefunden hatte, war nur noch höflich, als sie hörte, dass Lukas Landschaftsgärtner sei. Er ärgerte sich, und als Melanie Mertens bemüht fragte, was er denn an seinem Beruf am meisten schätze, sagte er: »Den Feierabend!« Sogar Paulina war verblüfft gewesen, dann aber schaltete sie und verzog sich schleunigst mit Lukas.
Ein Segen, dass die Schwiegereltern selten zu Besuch kamen. Waren sie zwei oder drei Mal in die Donnersbergerstraße gekommen? Lukas und Paulina waren mit Ikea-Möbeln eingerichtet, womit sonst. Allerdings hatte Granny ihnen ihren alten fränkischen Geschirrschrank zur Hochzeit vermacht. Er wirkte trotz seiner Größe elegant mit seinem grau schimmernden Eichenholz. Auf beiden Türen strahlte ein großer Stern in kunstvoller Intarsienarbeit. Fast zu fein für die Wohnung, aber Paulina und Lukas liebten den Schrank. Er war denn auch Anlass für die Mertens gewesen, sich über sein Alter, seinen Wert und seine Herkunft zu unterhalten. Einer wollte den anderen mit seinem Wissen übertrumpfen, bis Professor Mertens schließlich etwas zusammenhanglos erklärte: »Unsere zweihundert Quadratmeter Tengstraße sind das richtige Ambiente für Designermöbel.« Und Melanie Mertens nickte zustimmend. Die zählen einfach nicht, sagte sich Lukas grimmig. Es ist noch nicht aller Tage Abend, sagte seine Granny immer, wenn sie ihn trösten wollte. Lukas könnte jederzeit nach Kanada gehen, mit der ganzen Familie; er hatte schon mehrere interessante Angebote bekommen. Man lebte dort komfortabler als hier in München, wo man für jeden Quadratmeter ein Vermögen zahlen musste. Doch Paulina träumte nicht von Kanada. Sie träumte von einem Haus in München. Das wusste Lukas, obwohl Paulina nie davon sprach. Aber Lukas nahm die Träume seiner Frau ernst. Für beide war München die Heimatstadt, eine der grünsten Großstädte Deutschlands. Lukas war angestellt bei der Stadt. Sein oberster Chef sei der Oberbürgermeister Christian Ude, betonte Lukas gerne. Er sagte auch manchmal, dass die Münchner oftmals Eingaben machten, zum Teil absurde Vorschläge oder Ideen unterbreiteten. Auf diese Weise seien die Bürger wiederum Chef von Ude, und diese These leuchtete jedem ein.
Lukas hatte nach seiner Rückkehr aus Kanada innerhalb weniger Wochen die Anstellung bei der Stadt bekommen. Er war vor allem für die Pflege der Grünanlagen an den städtischen Schulen, Bibliotheken, Krippen und Kindergärten zuständig. Die Erzieherinnen dort hatten oftmals Träume, die Lukas wahrmachen sollte. Sie wünschten sich Rasen, damit die Kinder darauf spielen konnten. Dort, wo Kinder täglich spielten, wuchs aber kein Rasen, das war ein Naturgesetz, das Lukas geduldig erklärte. Da sprachen die jungen Frauen von Rollrasen. Sie glaubten ihm nicht, dass der auch unansehnlich werden würde. Als er gerade die Mittel hatte, ließ Lukas in einem Kindergarten Rollrasen verlegen. Der wurde dann wirklich rasch häßlich, und diese Erzieherinnen wenigstens glaubten fortan Lukas, wenn er ihnen einen Wunsch abschlagen musste.
Er machte jeden Tag die Erfahrung, dass die meisten Menschen sich nach der Natur sehnen, dass sie Bäume, Pflanzen und Blumen um sich haben wollen, doch allenfalls die Hobbygärtner hatten eine Vorstellung von der Pflege, der immer wiederkehrenden Arbeit, die notwendig war, um der Natur das Bild abzuringen, das sich die Verantwortlichen der Stadt und auch die Bürger von ihr machten.
Paulina ging vorsichtig die Treppe hinunter, Mavie im Arm. Paulinas Vorsicht galt vor allem den Nachbarn, die sich offenbar darauf geeinigt hatten, dass die Ruges einfach nicht in das Haus in der Donnersbergerstraße passten. Niemand sagte es offen, doch Paulina hörte, wie sich Türen leise schlossen, sobald Paulina auf der Treppe war, oder wie ein Gespräch sofort abbrach, wenn Paulina näher kam. Wahrscheinlich hielten sie die Ruges für verrückt, vor allem wegen David. Und er gab den Vögeln reichlich Zucker, flatterte mit den Händen, wenn die Nachbarn aus der Türe kamen. Oder er sah die Nachbarn erst gar nicht an. Außer Frau Ramsauer. Sie schien ihm zu gefallen. Um die Siebzig war sie wohl. Im Sommer trug sie stets weiß. Duftig. Wie eine in die Jahre gekommene Elfe. Wenn sie David sah, legte sie einen Finger auf die Lippen und schaute verschwörerisch.
»Wir fliegen um die Welt«, sagte sie. Und David legte auch einen Finger auf die Lippen. Er nickte. »Wir fliegen um die Welt. Wir fliegen um die Welt.«
Am Anfang erschien es Paulina seltsam, einer Frau im Treppenhaus zu begegnen, die ihr im Vorbeigehen versicherte: »Ich brauche die Menschen, ich brauche die Menschlichkeit.« Paulina fand Frau Ramsauer mit der Zeit liebenswert, weil sie immer fantasievoll aussah und nie Anstoß nahm am Lärm der Kinder.
Paulina mochte eigentlich auch die lange, breite und bunte Donnersbergerstraße jeden Tag mehr. Wenn Paulina im Winter aus dem Fenster schaute, war die Straße manchmal auch grausam kalt und still. Der Mond stand in der Nacht hoch und eisig am Himmel, doch er schickte blausilbernes Licht auf den frisch gefallenen Schnee. Nirgends war der Schnee so glitzernd und funkelnd wie hier. Unbeteiligt und dunkel standen die Häuser, und auch die Zimmer ihrer Wohnung blieben trotz des Mondlichts merkwürdig finster. Granny hatte sie damals gewarnt, aber sie kannte auch die blausilbernen Schneeverwehungen nicht, nicht das Funkeln. Und die Miete der Wohnung war niedrig; sie wollten unbedingt selbstständig sein.
Als Entschädigung lernten sie schon am Umzugstag Frau Ramsauer kennen. Sie wohnte auf demselben Stock wie die Ruges. Zumindest modisch gesehen war sie zweifellos eine Attraktion in der Donnersbergerstraße. Auch jetzt im Winter war Frau Ramsauer modisch auf der Höhe der Zeit, was vor allem David interessant fand. Ihr Wintermantel hatte dicke altsilberne Kugelknöpfe, mindestens zehn Stück. Von der schwarzen, steifen Filzkappe hingen links und rechts zwei dicke Zöpfe hinab, und Frau Ramsauer neigte den Kopf ein wenig, damit die Zöpfe frei hängen konnten. Als sie der Nachbarin zum ersten Mal in dieser Montur begegneten, neigte David sofort ebenfalls seinen Kopf nach vorn und schaukelte sanft, als hätte auch er Zöpfe an der Mütze.
»David will Frau Ramsauer sein. David will Frau Ramsauer sein.«
Da Frau Ramsauer eher klein gewachsen war, mussten ihre Jeans fast zwei Handbreit umgeschlagen werden. Praktisch bis zum Knie. Sie abzuschneiden kam Frau Ramsauer nicht in den Sinn. Die Musikstudentin Michiko, die unterm Dach ein schräges Zimmer bewohnte, hatte respektvoll gesagt, sie möchte wetten, dass die Jeans von True Religions seien. Paulina hatte von dieser Marke noch nie gehört, Frau Ramsauer war einfach anders als die anderen. Paulina hatte schon beobachtet, dass Frau Ramsauer die Donnersbergerstraße auf und ab spazierte, einfach so, mit schwingenden Zöpfen. Sie schien es zu genießen, dass Passanten auf sie aufmerksam wurden.
Paulina beeindruckte das, doch sie wollte vor allem wissen, warum es bei dieser Nachbarin immer rumpelte, auch wenn sie nicht daheim war. Paulina fand das unheimlich, besonders abends, wenn es still war in der Wohnung und Lukas noch spät im Büro arbeitete. Ob es in München noch mehr Häuser gab, in denen es spukte? In denen vielleicht die Geister der Leute umhergingen, die früher hier gewohnt hatten? Die Erklärung war banaler, das Rumpeln bei Frau Ramsauer hatte einen Namen: Ojesses. Ein kräftiger schwarzer Kater, den man kaum zu Gesicht bekam, weil er sein Revier auf den Dächern hatte. Frau Ramsauer hatte ihn einmal auf dem Arm gehabt, um ihn David zu zeigen. Doch der grüßte nur gemessen, und dem Kater Ojesses lag auch nichts an David. Vielmehr strebte er energisch runter vom Arm der Frau Ramsauer und war blitzschnell treppauf verschwunden.
Paulina war ihrem Viertel nicht nur im Winter verfallen.
Konnte Mavie nachts nicht schlafen, zeigte ihr Paulina den Mittleren Ring, auf dem die Autos im nie endenden Corso aus der Stadt hinausfuhren oder von draußen hereinkamen und sich nach der Freiheit der Autobahn wieder einfädeln mussten in das komplizierte Geflecht der Straßen und Plätze. Überm Ring und über dem Hochhaus der Mercedes-Niederlassung konnte Paulina jederzeit den Himmel in seinen exklusiven Farbschattierungen sehen. Am schönsten war das Abendlicht, das jetzt im Februar den Himmel roséfarben und dunkelgrau schimmern ließ. Früh munter waren die Tauben, die auf den Fenstersimsen der Häuser saßen wie dicke Kinder von Adlern.
Alles für Mavie. Besonders in den frühen Morgenstunden, wenn Paulina mit Mavie oft alleine in der Wohnung herumging, schien ihr dieses Kind am vertrautesten. Mavie sah genauso aus wie Paulina auf ihren Babyfotos, hatte dieselbe unbedingte Lebensfreude. Mavie war auch ebenso friedlich, wie es Paulina in den ersten Lebensjahren nachgesagt wurde.
Ihre beiden älteren Kinder, Cosima und David, schienen Paulina dagegen oft rätselhaft. Davids unberechenbare Ausbrüche. Die unkindliche Sicherheit Cosimas. Oft erinnerte sie Paulina an ihre Mutter, nur eben im Kleinformat.
Heute wurde Cosima sechs Jahre alt. Jedes Mal, wenn Cosimas Geburtstag nahte, dachte Paulina an die Tage, als sich Cosima weigerte, auf die Welt zu kommen. Ein ganzes Wochenende lang. Eine Geburt sei harte Arbeit, aber doch sehr schön - war Paulina erzählt worden. Einen Kaiserschnitt, den man ihr irgendwann vorschlug, hatte Paulina abgelehnt, sie wollte dabei sein, wenn ihr Baby auf die Welt kam. Und dann dieses Desaster. Freitagmittag waren sie in die Maistraße gefahren, Lukas und sie. Lukas hatte erst dann Urlaub nehmen wollen, wenn Paulina mit dem Baby nach Hause kam. Das würde ja höchstens drei Tage dauern. Aber Cosima war erst am Montagmittag auf die Welt gekommen. Mutterglück - Pustekuchen. Lukas konnte es nicht fassen, dass Paulina nur weinte. »Gebär du mal drei Tage lang!«, hatte Paulina geschluchzt. In der Klinik war das schon losgegangen. Paulina war von dem anhaltenden Wehenschmerz völlig kraftlos gewesen, und plötzlich bedrückte sie die Zukunft mit dem Baby, so viel Unheimliches schien ihr aufzulauern. Eine Schwester hatte Paulina kühl mitgeteilt, dass es Schwangere gebe, die nach den Aufregungen und Ängsten der Geburt verrückt wurden, vom Wochenbett in die Psychiatrie, das käme durchaus vor. Paulina hatte es sofort geglaubt. Die Spuren dieser Ängste verschwanden lange nicht.
Gestern, vor dem Zubettgehen, hatte Paulina für Cosima einen Kuchen gebacken. In Herzform. Sechs Kerzen hatte sie darauf gesteckt. Dann begann sie, den Familienthron zu schmücken, einen alten Holzsessel mit geschwungenen Lehnen. Er wurde über und über mit Papiergirlanden umwickelt. Paulina öffnete das Fenster. Sie hatte schon das Licht ausgemacht und sah auf die schwach schimmernde Asphaltdecke der Arnulfstraße. Wieder fiel ihr der Tag vor sechs Jahren ein. Damals hatte Paulina an einem Fenster in der Maistraße gestanden und ebenfalls hinaus auf die Fahrbahn geschaut. Der Kampf lag noch vor ihr, und sie hatte mit jedem Auto, das sie vorbeifahren sah, mitfahren, flüchten wollen.
Paulina würde Cosima sanft wecken, was ihr jeden Morgen schwerfiel, denn Cosima mochte abends nicht ins Bett gehen und am Morgen ganz entschieden nicht aufstehen. Sie schlief noch, die Locken auf dem Kissen ausgebreitet, die Arme seitlich neben dem Kopf abgelegt. Lukas saß bei ihr und streichelte vorsichtig ihre Wangen. »Meine große Tochter«, sagte er, und Paulina hörte die Rührung in seiner Stimme.
Cosima und Lukas sahen einander sehr ähnlich. Lukas' schmales, blasses Gesicht mit der langen Nase und den ernsthaften dunklen Augen fand sich in Cosima wieder. Doch anders als bei Lukas, dessen kurze Locken wie ein Rahmen um sein Gesicht standen, fielen Cosimas Haare bis auf die Schultern.Am ähnlichsten schien Paulina der Mund. Genau wie Lukas' Mund war er meist geschlossen, und die Mundwinkel wiesen leicht nach unten. Bei Lukas löste sich diese leicht ablehnend wirkende Mimik rasch auf in Herzlichkeit, Übermut. Cosima dagegen blieb gerne ernst. Auch jetzt, an ihrem Geburtstagsmorgen. Nur ein flüchtiges Lächeln für die sechs brennenden Kerzen auf dem Kuchenherz erhellte Cosimas Gesicht. Paulinas und Lukas' Küsse und Umarmungen nahm sie huldvoll entgegen.
Paulina spürte noch Cosimas Schlafduft, ihre Locken, die Paulina an der Nase gekitzelt hatten. Dann sah sie auf David unter dem Tisch.
»Hey, David, willst du nicht deiner Schwester zum Geburtstag gratulieren?«, rief Lukas, der ihrem Blick gefolgt war, nach unten, doch David kommandierte sein Bataillon. Cosima rief: »Lass den bloß in Ruhe, Papa, sonst gibt es wieder Terz.« Cosima rief es freundlich, nachsichtig, doch sie trank ihren Kakao lieber allein mit Lukas, während Paulina Mavie aus dem Schlafzimmer holte, die ihr Erwachen durch laute Brabbeltöne mitteilte. Morgens bekam sie noch die Brust, und ihr zahnloser Mund öffnete sich zu dem typischen Mavie-Lächeln, das ein Lächeln hoch drei war und von keinem anderen Baby erreicht werden konnte.
Es tat Paulina weh, dass Cosima so selbstverständlich auf Davids Gratulation verzichtete. Doch sie musste zugeben, dass David es einem mit seinem Eigensinn schwer machte. Obwohl er sichtlich an seiner Mutter hing, war er nicht zärtlich, kein Schmusebär wie andere kleine Jungen. Und dazu seine Spinnereien, sein endloses Singen, immer neue Strophen, von ihm selbst erfunden und vertont, die er im Bett sang, so, dass Cosima oftmals nicht einschlafen konnte. Oder seine Tobsuchtsanfälle, wenn etwas Unvorhergesehenes passierte. Glücklicherweise erwachte er früh, denn wenn er unvermutet geweckt werden musste, war er fassungslos, drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand und fuchtelte wild mit den Armen.
Von wem hatte er das nur? Paulina belächelte schon selber ihren Zwang, ständig die Eigenheiten ihrer Kinder bei Verwandten zu suchen. Eigentlich kam nur Paulinas Vater in Frage, der auch jähzornig war und ein Eigenbrötler. Aus Lukas' Familie kannte sie nur Granny, seine Großmutter. Paulina konnte sich nicht erinnern, jemals einen Menschen so rasch lieb gewonnen zu haben wie Franziska Ruge. Die Ruhe und Wärme dieser Frau waren ungewöhnlich. Bald, nachdem Paulina und Lukas sich kennengelernt hatten, lud Granny Paulina zum Kaffee ein. Die Wohnung war mit frischen Blumen geschmückt. Es gab Waffeln, dazu Kirschkompott und Sahne. Willkommen, Paulina. Sie fühlte sich umhegt wie eine Prinzessin.
Kein Zweifel, Franziska Ruge hatte sich auf Paulina gefreut, und man könnte sagen, es war Liebe auf den ersten Blick. Manchmal, wenn Paulina sich nach einem endlosen Tag erschöpft fühlte, wäre sie gern in die Frundsbergstraße zu Franziska Ruge gegangen. Aber Lukas kam manchmal spät heim, wenn er nach der Tagesarbeit noch Bürokram erledigen musste. Und Franziska konnte die Kinder nicht allein lassen.
© 2011 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
Lukas legte seinen Arm um Paulina und zog ihren Kopf sanft an seine Schulter. Paulina seufzte, tat so, als schliefe sie noch. Aber sie verriet sich, drängte sich an Lukas, und er spürte wieder die seidige Weichheit ihrer Haut, ihres warmen, geschmeidigen Körpers. Jetzt zog er sie fest an sich, grub seine Lippen in ihren Mund und suchte ihre Zunge, die ihm rasch entgegenkam. Paulina griff in Lukas' dichten Schopf, dann glitten ihre Finger über seinen Körper. »Verdammt schön, dass du mich so gut kennst«, murmelte Lukas und schloss die Augen, seine Hand streichelte Paulinas Haar. Sie mussten leise sein. Paulina bewegte sich unter der Bettdecke an seinem Körper entlang, bedeckte ihn mit Küssen und liebkoste ihn, als wollte sie ihm ihren gesamten Vorrat an Liebe auf einmal schenken.
»Und du?«, flüsterte Lukas Paulina später ins Ohr. Sie hatte sich noch mal an seine Schulter geschmiegt, lag still da und atmete mit ihm. Sie gab ihm noch einen flüchtigen Kuss, sagte: »Heute nicht«, und stieg graziös aus dem Bett.
Lukas schaute ihr nach, sah die Schwimmerschultern, den festen Po und die langen Beine Paulinas im Bad verschwinden. Er versuchte, alles zu speichern, Paulinas Duft, ihren fast jungenhaften Körper an seinem - dann war es auch Zeit für ihn, aufzustehen. Es hatte sich so ergeben, dass er den Tee zubereitete und für jeden eine Schale Milch mit Flocken, Rosinen und Honig.
Als er in die Küche kam, sah er auf Cosimas Platz die Geburtstagsdekoration, die Paulina wohl gestern noch gemacht hatte, als er schon schlief. Seine Große wurde sechs Jahre alt. Er ging ins Kinderzimmer, setzte sich vorsichtig an ihr Bett und streichelte sie wach.
Sein Sohn David ließ sich nicht stören. Er hockte schon unterm Küchentisch und spielte selbstvergessen mit seinen Soldaten, die er in pingelig genauen Reihen aufmarschieren ließ. Wehe, einer fiel um. Niemand, auch nicht die Eltern, durfte an Davids Streitmacht etwas verändern. Er hatte die Soldaten von Granny bekommen. Die kleinen Figuren aus bunt bemaltem Zinn, etwa daumengroß, waren nach dem deutsch-französischen Krieg in Nürnberg hergestellt worden, denn sie trugen die Uniform des Garderegiments, schwarze Stiefel, weiße Hosen, blaue Jacke. Die französischen Soldaten waren an ihren roten Hosen zu erkennen. Lukas, Franziskas Enkelsohn, war nie an dieser Armee interessiert gewesen, die noch von seinem Urgroßvater stammte. Für David jedoch waren die Zinnsoldaten sein Ein und Alles.
Paulina hatte ihren Bademantel angezogen und stillte das Baby. Wie jedes Mal, wenn Lukas und sie sich am Morgen liebten, hatte sie ihren Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen. Als täte sie etwas Verbotenes. Sie hatte Angst, Cosima oder David könnten plötzlich ins Schlafzimmer kommen.
Sie sah mit einem kurzen Lächeln auf, aber ihre Aufmerksamkeit gehörte nicht mehr ihrem Mann. Lukas erlebte das nicht zum ersten Mal. Kein Gedanke an den letzten Augenblick, er war abgemeldet. Fast war er beleidigt, und er hätte das Paulina gern ein wenig spüren lassen, aber es war schon acht Uhr vorbei, er musste sich beeilen denn ausgerechnet heute sollte er einen Kollegen auf dem Waldfriedhof vertreten. Und vorher wollte er Cosima noch in den Kindergarten bringen.
Lukas legte kurz seine Wange an Paulinas Gesicht, küsste David und Mavie, nahm die fertig angezogene Cosima an der Hand und polterte die Treppe hinunter. Da erschien Paulina noch einmal am Treppenabsatz und rief ihm hinterher, dass er seinen Schal vergessen habe, es sei für den ganzen Tag Schneefall gemeldet. Sie warf den wollenen Schal runter ins Treppenhaus. Lukas fing ihn auf und sah, wie Paulina die Wohnungstür schon wieder schloss. Manchmal war er hilflos - als Mann und als Vater. Familienvater, Vater dreier Kinder. Noch vor sieben Jahren wäre das für ihn unvorstellbar gewesen, und manchmal fühlte er sich so platt, als habe ein Traktor ihn überfahren. Dann wieder fand er alles großartig - durch diese vier geliebten Menschen schien er doppelt und dreifach zu leben.
Dieser Gedanke war ihm zum ersten Mal gekommen, und Lukas fand ihn eindrucksvoll. Vielleicht könnte er den Gedanken seinem Schwiegervater vortragen. Oder der Schwiegermutter. Lukas hatte schon mal gehört, dass sie ihren Mann mit »Herr Professor« ansprach und er sie mit »Frau Doktor«. Das war zwar nicht ernst gemeint, aber Lukas fand es trotzdem lächerlich. Es kam sogar vor, dass die Eltern sich siezten, wie es die gebildeten Schichten in Frankreich machten. Das war auch Paulina jedes Mal peinlich.
Der erste Nachmittag bei Paulinas Eltern war beklemmend verlaufen. Professor Robert Mertens war herablassend wohlwollend aufgetreten, auch nicht sonderlich interessiert; er entschuldigte sich ständig zum Telefonieren. Als er hörte, dass Paulina und Lukas heiraten wollten, war sein Gesicht hart und abweisend geworden. »Was machen Sie denn beruflich?«, hatte Paulinas Mutter in das Schweigen hinein gefragt. Doch auch sie, die Lukas eigentlich sympathisch gefunden hatte, war nur noch höflich, als sie hörte, dass Lukas Landschaftsgärtner sei. Er ärgerte sich, und als Melanie Mertens bemüht fragte, was er denn an seinem Beruf am meisten schätze, sagte er: »Den Feierabend!« Sogar Paulina war verblüfft gewesen, dann aber schaltete sie und verzog sich schleunigst mit Lukas.
Ein Segen, dass die Schwiegereltern selten zu Besuch kamen. Waren sie zwei oder drei Mal in die Donnersbergerstraße gekommen? Lukas und Paulina waren mit Ikea-Möbeln eingerichtet, womit sonst. Allerdings hatte Granny ihnen ihren alten fränkischen Geschirrschrank zur Hochzeit vermacht. Er wirkte trotz seiner Größe elegant mit seinem grau schimmernden Eichenholz. Auf beiden Türen strahlte ein großer Stern in kunstvoller Intarsienarbeit. Fast zu fein für die Wohnung, aber Paulina und Lukas liebten den Schrank. Er war denn auch Anlass für die Mertens gewesen, sich über sein Alter, seinen Wert und seine Herkunft zu unterhalten. Einer wollte den anderen mit seinem Wissen übertrumpfen, bis Professor Mertens schließlich etwas zusammenhanglos erklärte: »Unsere zweihundert Quadratmeter Tengstraße sind das richtige Ambiente für Designermöbel.« Und Melanie Mertens nickte zustimmend. Die zählen einfach nicht, sagte sich Lukas grimmig. Es ist noch nicht aller Tage Abend, sagte seine Granny immer, wenn sie ihn trösten wollte. Lukas könnte jederzeit nach Kanada gehen, mit der ganzen Familie; er hatte schon mehrere interessante Angebote bekommen. Man lebte dort komfortabler als hier in München, wo man für jeden Quadratmeter ein Vermögen zahlen musste. Doch Paulina träumte nicht von Kanada. Sie träumte von einem Haus in München. Das wusste Lukas, obwohl Paulina nie davon sprach. Aber Lukas nahm die Träume seiner Frau ernst. Für beide war München die Heimatstadt, eine der grünsten Großstädte Deutschlands. Lukas war angestellt bei der Stadt. Sein oberster Chef sei der Oberbürgermeister Christian Ude, betonte Lukas gerne. Er sagte auch manchmal, dass die Münchner oftmals Eingaben machten, zum Teil absurde Vorschläge oder Ideen unterbreiteten. Auf diese Weise seien die Bürger wiederum Chef von Ude, und diese These leuchtete jedem ein.
Lukas hatte nach seiner Rückkehr aus Kanada innerhalb weniger Wochen die Anstellung bei der Stadt bekommen. Er war vor allem für die Pflege der Grünanlagen an den städtischen Schulen, Bibliotheken, Krippen und Kindergärten zuständig. Die Erzieherinnen dort hatten oftmals Träume, die Lukas wahrmachen sollte. Sie wünschten sich Rasen, damit die Kinder darauf spielen konnten. Dort, wo Kinder täglich spielten, wuchs aber kein Rasen, das war ein Naturgesetz, das Lukas geduldig erklärte. Da sprachen die jungen Frauen von Rollrasen. Sie glaubten ihm nicht, dass der auch unansehnlich werden würde. Als er gerade die Mittel hatte, ließ Lukas in einem Kindergarten Rollrasen verlegen. Der wurde dann wirklich rasch häßlich, und diese Erzieherinnen wenigstens glaubten fortan Lukas, wenn er ihnen einen Wunsch abschlagen musste.
Er machte jeden Tag die Erfahrung, dass die meisten Menschen sich nach der Natur sehnen, dass sie Bäume, Pflanzen und Blumen um sich haben wollen, doch allenfalls die Hobbygärtner hatten eine Vorstellung von der Pflege, der immer wiederkehrenden Arbeit, die notwendig war, um der Natur das Bild abzuringen, das sich die Verantwortlichen der Stadt und auch die Bürger von ihr machten.
Paulina ging vorsichtig die Treppe hinunter, Mavie im Arm. Paulinas Vorsicht galt vor allem den Nachbarn, die sich offenbar darauf geeinigt hatten, dass die Ruges einfach nicht in das Haus in der Donnersbergerstraße passten. Niemand sagte es offen, doch Paulina hörte, wie sich Türen leise schlossen, sobald Paulina auf der Treppe war, oder wie ein Gespräch sofort abbrach, wenn Paulina näher kam. Wahrscheinlich hielten sie die Ruges für verrückt, vor allem wegen David. Und er gab den Vögeln reichlich Zucker, flatterte mit den Händen, wenn die Nachbarn aus der Türe kamen. Oder er sah die Nachbarn erst gar nicht an. Außer Frau Ramsauer. Sie schien ihm zu gefallen. Um die Siebzig war sie wohl. Im Sommer trug sie stets weiß. Duftig. Wie eine in die Jahre gekommene Elfe. Wenn sie David sah, legte sie einen Finger auf die Lippen und schaute verschwörerisch.
»Wir fliegen um die Welt«, sagte sie. Und David legte auch einen Finger auf die Lippen. Er nickte. »Wir fliegen um die Welt. Wir fliegen um die Welt.«
Am Anfang erschien es Paulina seltsam, einer Frau im Treppenhaus zu begegnen, die ihr im Vorbeigehen versicherte: »Ich brauche die Menschen, ich brauche die Menschlichkeit.« Paulina fand Frau Ramsauer mit der Zeit liebenswert, weil sie immer fantasievoll aussah und nie Anstoß nahm am Lärm der Kinder.
Paulina mochte eigentlich auch die lange, breite und bunte Donnersbergerstraße jeden Tag mehr. Wenn Paulina im Winter aus dem Fenster schaute, war die Straße manchmal auch grausam kalt und still. Der Mond stand in der Nacht hoch und eisig am Himmel, doch er schickte blausilbernes Licht auf den frisch gefallenen Schnee. Nirgends war der Schnee so glitzernd und funkelnd wie hier. Unbeteiligt und dunkel standen die Häuser, und auch die Zimmer ihrer Wohnung blieben trotz des Mondlichts merkwürdig finster. Granny hatte sie damals gewarnt, aber sie kannte auch die blausilbernen Schneeverwehungen nicht, nicht das Funkeln. Und die Miete der Wohnung war niedrig; sie wollten unbedingt selbstständig sein.
Als Entschädigung lernten sie schon am Umzugstag Frau Ramsauer kennen. Sie wohnte auf demselben Stock wie die Ruges. Zumindest modisch gesehen war sie zweifellos eine Attraktion in der Donnersbergerstraße. Auch jetzt im Winter war Frau Ramsauer modisch auf der Höhe der Zeit, was vor allem David interessant fand. Ihr Wintermantel hatte dicke altsilberne Kugelknöpfe, mindestens zehn Stück. Von der schwarzen, steifen Filzkappe hingen links und rechts zwei dicke Zöpfe hinab, und Frau Ramsauer neigte den Kopf ein wenig, damit die Zöpfe frei hängen konnten. Als sie der Nachbarin zum ersten Mal in dieser Montur begegneten, neigte David sofort ebenfalls seinen Kopf nach vorn und schaukelte sanft, als hätte auch er Zöpfe an der Mütze.
»David will Frau Ramsauer sein. David will Frau Ramsauer sein.«
Da Frau Ramsauer eher klein gewachsen war, mussten ihre Jeans fast zwei Handbreit umgeschlagen werden. Praktisch bis zum Knie. Sie abzuschneiden kam Frau Ramsauer nicht in den Sinn. Die Musikstudentin Michiko, die unterm Dach ein schräges Zimmer bewohnte, hatte respektvoll gesagt, sie möchte wetten, dass die Jeans von True Religions seien. Paulina hatte von dieser Marke noch nie gehört, Frau Ramsauer war einfach anders als die anderen. Paulina hatte schon beobachtet, dass Frau Ramsauer die Donnersbergerstraße auf und ab spazierte, einfach so, mit schwingenden Zöpfen. Sie schien es zu genießen, dass Passanten auf sie aufmerksam wurden.
Paulina beeindruckte das, doch sie wollte vor allem wissen, warum es bei dieser Nachbarin immer rumpelte, auch wenn sie nicht daheim war. Paulina fand das unheimlich, besonders abends, wenn es still war in der Wohnung und Lukas noch spät im Büro arbeitete. Ob es in München noch mehr Häuser gab, in denen es spukte? In denen vielleicht die Geister der Leute umhergingen, die früher hier gewohnt hatten? Die Erklärung war banaler, das Rumpeln bei Frau Ramsauer hatte einen Namen: Ojesses. Ein kräftiger schwarzer Kater, den man kaum zu Gesicht bekam, weil er sein Revier auf den Dächern hatte. Frau Ramsauer hatte ihn einmal auf dem Arm gehabt, um ihn David zu zeigen. Doch der grüßte nur gemessen, und dem Kater Ojesses lag auch nichts an David. Vielmehr strebte er energisch runter vom Arm der Frau Ramsauer und war blitzschnell treppauf verschwunden.
Paulina war ihrem Viertel nicht nur im Winter verfallen.
Konnte Mavie nachts nicht schlafen, zeigte ihr Paulina den Mittleren Ring, auf dem die Autos im nie endenden Corso aus der Stadt hinausfuhren oder von draußen hereinkamen und sich nach der Freiheit der Autobahn wieder einfädeln mussten in das komplizierte Geflecht der Straßen und Plätze. Überm Ring und über dem Hochhaus der Mercedes-Niederlassung konnte Paulina jederzeit den Himmel in seinen exklusiven Farbschattierungen sehen. Am schönsten war das Abendlicht, das jetzt im Februar den Himmel roséfarben und dunkelgrau schimmern ließ. Früh munter waren die Tauben, die auf den Fenstersimsen der Häuser saßen wie dicke Kinder von Adlern.
Alles für Mavie. Besonders in den frühen Morgenstunden, wenn Paulina mit Mavie oft alleine in der Wohnung herumging, schien ihr dieses Kind am vertrautesten. Mavie sah genauso aus wie Paulina auf ihren Babyfotos, hatte dieselbe unbedingte Lebensfreude. Mavie war auch ebenso friedlich, wie es Paulina in den ersten Lebensjahren nachgesagt wurde.
Ihre beiden älteren Kinder, Cosima und David, schienen Paulina dagegen oft rätselhaft. Davids unberechenbare Ausbrüche. Die unkindliche Sicherheit Cosimas. Oft erinnerte sie Paulina an ihre Mutter, nur eben im Kleinformat.
Heute wurde Cosima sechs Jahre alt. Jedes Mal, wenn Cosimas Geburtstag nahte, dachte Paulina an die Tage, als sich Cosima weigerte, auf die Welt zu kommen. Ein ganzes Wochenende lang. Eine Geburt sei harte Arbeit, aber doch sehr schön - war Paulina erzählt worden. Einen Kaiserschnitt, den man ihr irgendwann vorschlug, hatte Paulina abgelehnt, sie wollte dabei sein, wenn ihr Baby auf die Welt kam. Und dann dieses Desaster. Freitagmittag waren sie in die Maistraße gefahren, Lukas und sie. Lukas hatte erst dann Urlaub nehmen wollen, wenn Paulina mit dem Baby nach Hause kam. Das würde ja höchstens drei Tage dauern. Aber Cosima war erst am Montagmittag auf die Welt gekommen. Mutterglück - Pustekuchen. Lukas konnte es nicht fassen, dass Paulina nur weinte. »Gebär du mal drei Tage lang!«, hatte Paulina geschluchzt. In der Klinik war das schon losgegangen. Paulina war von dem anhaltenden Wehenschmerz völlig kraftlos gewesen, und plötzlich bedrückte sie die Zukunft mit dem Baby, so viel Unheimliches schien ihr aufzulauern. Eine Schwester hatte Paulina kühl mitgeteilt, dass es Schwangere gebe, die nach den Aufregungen und Ängsten der Geburt verrückt wurden, vom Wochenbett in die Psychiatrie, das käme durchaus vor. Paulina hatte es sofort geglaubt. Die Spuren dieser Ängste verschwanden lange nicht.
Gestern, vor dem Zubettgehen, hatte Paulina für Cosima einen Kuchen gebacken. In Herzform. Sechs Kerzen hatte sie darauf gesteckt. Dann begann sie, den Familienthron zu schmücken, einen alten Holzsessel mit geschwungenen Lehnen. Er wurde über und über mit Papiergirlanden umwickelt. Paulina öffnete das Fenster. Sie hatte schon das Licht ausgemacht und sah auf die schwach schimmernde Asphaltdecke der Arnulfstraße. Wieder fiel ihr der Tag vor sechs Jahren ein. Damals hatte Paulina an einem Fenster in der Maistraße gestanden und ebenfalls hinaus auf die Fahrbahn geschaut. Der Kampf lag noch vor ihr, und sie hatte mit jedem Auto, das sie vorbeifahren sah, mitfahren, flüchten wollen.
Paulina würde Cosima sanft wecken, was ihr jeden Morgen schwerfiel, denn Cosima mochte abends nicht ins Bett gehen und am Morgen ganz entschieden nicht aufstehen. Sie schlief noch, die Locken auf dem Kissen ausgebreitet, die Arme seitlich neben dem Kopf abgelegt. Lukas saß bei ihr und streichelte vorsichtig ihre Wangen. »Meine große Tochter«, sagte er, und Paulina hörte die Rührung in seiner Stimme.
Cosima und Lukas sahen einander sehr ähnlich. Lukas' schmales, blasses Gesicht mit der langen Nase und den ernsthaften dunklen Augen fand sich in Cosima wieder. Doch anders als bei Lukas, dessen kurze Locken wie ein Rahmen um sein Gesicht standen, fielen Cosimas Haare bis auf die Schultern.Am ähnlichsten schien Paulina der Mund. Genau wie Lukas' Mund war er meist geschlossen, und die Mundwinkel wiesen leicht nach unten. Bei Lukas löste sich diese leicht ablehnend wirkende Mimik rasch auf in Herzlichkeit, Übermut. Cosima dagegen blieb gerne ernst. Auch jetzt, an ihrem Geburtstagsmorgen. Nur ein flüchtiges Lächeln für die sechs brennenden Kerzen auf dem Kuchenherz erhellte Cosimas Gesicht. Paulinas und Lukas' Küsse und Umarmungen nahm sie huldvoll entgegen.
Paulina spürte noch Cosimas Schlafduft, ihre Locken, die Paulina an der Nase gekitzelt hatten. Dann sah sie auf David unter dem Tisch.
»Hey, David, willst du nicht deiner Schwester zum Geburtstag gratulieren?«, rief Lukas, der ihrem Blick gefolgt war, nach unten, doch David kommandierte sein Bataillon. Cosima rief: »Lass den bloß in Ruhe, Papa, sonst gibt es wieder Terz.« Cosima rief es freundlich, nachsichtig, doch sie trank ihren Kakao lieber allein mit Lukas, während Paulina Mavie aus dem Schlafzimmer holte, die ihr Erwachen durch laute Brabbeltöne mitteilte. Morgens bekam sie noch die Brust, und ihr zahnloser Mund öffnete sich zu dem typischen Mavie-Lächeln, das ein Lächeln hoch drei war und von keinem anderen Baby erreicht werden konnte.
Es tat Paulina weh, dass Cosima so selbstverständlich auf Davids Gratulation verzichtete. Doch sie musste zugeben, dass David es einem mit seinem Eigensinn schwer machte. Obwohl er sichtlich an seiner Mutter hing, war er nicht zärtlich, kein Schmusebär wie andere kleine Jungen. Und dazu seine Spinnereien, sein endloses Singen, immer neue Strophen, von ihm selbst erfunden und vertont, die er im Bett sang, so, dass Cosima oftmals nicht einschlafen konnte. Oder seine Tobsuchtsanfälle, wenn etwas Unvorhergesehenes passierte. Glücklicherweise erwachte er früh, denn wenn er unvermutet geweckt werden musste, war er fassungslos, drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand und fuchtelte wild mit den Armen.
Von wem hatte er das nur? Paulina belächelte schon selber ihren Zwang, ständig die Eigenheiten ihrer Kinder bei Verwandten zu suchen. Eigentlich kam nur Paulinas Vater in Frage, der auch jähzornig war und ein Eigenbrötler. Aus Lukas' Familie kannte sie nur Granny, seine Großmutter. Paulina konnte sich nicht erinnern, jemals einen Menschen so rasch lieb gewonnen zu haben wie Franziska Ruge. Die Ruhe und Wärme dieser Frau waren ungewöhnlich. Bald, nachdem Paulina und Lukas sich kennengelernt hatten, lud Granny Paulina zum Kaffee ein. Die Wohnung war mit frischen Blumen geschmückt. Es gab Waffeln, dazu Kirschkompott und Sahne. Willkommen, Paulina. Sie fühlte sich umhegt wie eine Prinzessin.
Kein Zweifel, Franziska Ruge hatte sich auf Paulina gefreut, und man könnte sagen, es war Liebe auf den ersten Blick. Manchmal, wenn Paulina sich nach einem endlosen Tag erschöpft fühlte, wäre sie gern in die Frundsbergstraße zu Franziska Ruge gegangen. Aber Lukas kam manchmal spät heim, wenn er nach der Tagesarbeit noch Bürokram erledigen musste. Und Franziska konnte die Kinder nicht allein lassen.
© 2011 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,
München
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Autoren-Porträt von Asta Scheib
Asta Scheib, geboren 1939 in Bergneustadt, ist Journalistin und Schriftstellerin und lebt in München. Sie arbeitete als Redakteurin bei verschiedenen Frauenzeitschriften und schrieb Drehbücher für das Fernsehen. Ihre literarische Tätigkeit begann sie mit Kurzgeschichten. 1974 verfilmte Rainer Werner Fassbinder ihre Erzählung "Angst vor der Angst". Großen Erfolg hatte Asta Scheib außerdem mit ihrem Roman "Kinder des Ungehorsams", in dem sie die Geschichte der Katharina von Bora, der Ehefrau Martin Luthers, darstellte. 2003 erhielt sie vom Freistaat Bayern die "Pro-Meritis-Auszeichnung" für besondere Verdienste in Wissenschaft und Kunst.
Bibliographische Angaben
- Autor: Asta Scheib
- 2011, 285 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423248548
- ISBN-13: 9783423248549
Rezension zu „Das stille Kind “
"Selten wurde liebevoller und sensibler über das Leben mit einem besonderen Kind geschrieben."Freizeit exklusiv 10/2011
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