Das unendliche Licht
Thomas Finn wurde 1967 geboren und lebt in Hamburg. Er war Mitautor des beliebten Fantasy-Rollenspiels ''Das schwarze Auge''. ''Das unendliche Licht'' ist sein erster Jugendroman.
Das unendliche Licht von Thomas Finn
LESEPROBE
DasIrrlicht tanzte im silbernen Schein des Vollmonds. Von weitem hätte man es fürein Glühwürmchen oder die Laterne eines einsamen Torfstechers halten können.Doch je näher es kam, desto mehr enthüllte sich in der Dämmerung eine loderndeGestalt mit spindeldürren Armen und Beinen, deren Haupt von einer waberndenLohe umrahmt wurde. Zögernd tänzelte das Irrlicht mal hierhin, mal dorthin.Dann huschte es im Zickzack über die trügerischen Tümpel hinweg auf die Quelleder Flötenmelodie zu, die wehmütig über dem Moor schwebte.
Kai pustetesich eine Strähne seines schwarzen Haars aus der Stirn und duckte sich nochtiefer hinter das Schilf, das ihm und seiner Großmutter als Versteck diente.Dummerweise waren seine Stiefel bereits bis zum Schaft im Morast eingesunkenund so wurde jede Bewegung von einem dumpfen Schmatzen begleitet.
Gequältverzog der junge das Gesicht. Er konnte nur hoffen, dass das Geräusch von demWind geschluckt wurde, der säuselnd über die unheimliche Ödnisstrich.
Irrlichterwaren scheu.
Auch KaisGroßmutter schien nichts bemerkt zu haben. Die erfahrene Irrlichtjägerinkauerte ruhig neben ihm und konzentrierte sich ganz auf das Spiel ihrerSchwanenbeinflöte. Die Tonfolge wurde immer melancholischer und schwermütiger.Irrlichter wurden von traurigen Melodien angelockt. Dieses Wissen gehörte zuden Geheimnissen der Irrlichtjäger, welche die Großmutter an Kai weitergegebenhatte.
Warum diesso war, konnte kein Irrlichtjäger so genau sagen. Man fragte ja auch nicht,warum Gespenster vorzugsweise um Mitternacht spukten oder warum Gnome lieberunter Wurzeln oder in Erdhöhlen lebten, statt sich anständige Unterkünfte zubauen.
Im Momentwar Kai das jedoch egal. Denn wenn er nicht bald aufstehen durfte, würden seineStiefel mit Wasser voll laufen. Sollte das passieren, würden die folgendenStunden noch ungemütlicher werden als die vorangegangenen.
Dennochwagte er es nicht, sich zu rühren. Keinesfalls durfte ihm ein weiterer Fehlerwie eben passieren. Ein Irrlichtjäger musste sich in Geduld üben können. DasIrrlicht da vorn war zwar ein recht dummes Geschöpf, aber wenn es sie bemerkte,würde es seine Artgenossen warnen. In diesem Fall konnten sie ihre Ausrüstunggleich wieder zusammenpacken und nach Hause gehen. Dazu durfte es nicht kommen.Nicht an einem Abend wie diesem. Schließlich wollte Kai heute zum ersten Malselbst ein Irrlicht fangen.
DasFlammenwesen hatte sich ihrem Versteck inzwischen bis auf ein halbes DutzendSchritte genähert. Wie die meisten Irrlichter war es etwa eine Handspanne großund Kai erkannte an seinem Schein, dass es noch relativ jung war. Das war gut so.junge Irrlichter brannten heller als ältere Exemplare. Die Händler aus Hammaburg, die einmal im Monat die Elbe zu ihnenheraufkamen, würden seiner Großmutter einen gutenPreisdafür zahlen.
In dergroßen Hafenstadt wurden Irrlichter zur Straßenbeleuchtung eingesetzt. Dieseltenen großen Exemplare, für die die Händler sogar Gold boten, wandertendirekt in die Haushalte der Reichen. Solche Irrlichter waren in der Elbstadt nochbegehrter, denn sie veränderten bei Musik ihre Farbe. Spielereien dieser Artwaren vor allem bei den so genannten Pfeffersäcken, den reichen Kaufleuten Hammaburgs, beliebt, die sich kostbare Elfenharfen, Waffenaus zwergischer Fertigung oder noch exotischere Güteraus den fernen Reichen der Dschinn leisten konnten.Leider waren solche Irrlichter überaus selten.
In diesemAugenblick verharrte das Irrlicht. Wäre das Schilf nicht gewesen, Kai hättenach ihm spucken können, so nah war es ihnen inzwischen gekommen. Für einenkurzen Moment flackerte es verwirrt. Plötzlich züngelte sein Feuerleib so heftigwie eine Kerzenflamme im Wind und der lodernde Mund der kleinen Gestalt zogsich geisterhaft in die Länge.
Eingespenstisches Wehklagen erfüllte das Moor. Kai lief ein Schauer über denRücken. Diesen Teil der Arbeit mochte er überhaupt nicht. Wie immer erinnerteihn der Klagelaut des Irrlichts an das verzweifelte Schreien eines Kindes. Alsangehender Irrlichtjäger wusste er nur zu gut, dass dem Gesang der Irrlichtereine schwache Zauberkraft innewohnte. Eine gefährliche Eigenheit, die sie erstwährend ihrer Gefangenschaft verloren. Unerfahrenen Moorwanderern konnte dasGejammer die Sinne verwirren und sie von den Wegen abbringen. Sie verirrtensich und irgendwann verschluckte sie der Sumpf. Kai und seiner Großmutterkonnte das natürlich nicht passieren. Sie hatten sich getrocknete Mistelbeerenin die Ohren gestopft, die Kai vor sieben Tagen eigenhändig von einerhundertjährigen Eiche geschnitten hatte. Mistelbeeren brachen die Zaubermachtdes Irrlichtgesangs. Auch dabei handelte es sich um ein wohl gehütetesGeheimnis der Irrlichtjäger. Dennoch war das Geschrei furchtbar.
KaisGroßmutter ließ ihr Flötenspiel ausklingen und bedeutete ihrem Enkel mit einemkaum merklichen Nicken, den Lohenfänger in Position zu rücken.
Das Gerätbestand aus einer langen Rute, die aus dem Holz einer Trauerweide geschnittenwar. In vielerlei Hinsicht ähnelte der Lohenfänger einer Angel, nur dass anseinem Ende eine Schnur befestigt war, an der statt eines Hakens eine kupferneLaterne mit offenem Türchen baumelte. Im Innern der Leuchte befand sichkostbarer Bernsteinstaub, den die alte Frau von den HammaburgerHändlern erwarb.
Lautlosschwenkte Kai den Lohenfänger Stück für Stück
näher andas Irrlicht heran. Solange das Feuermännchen sang,
war esabgelenkt. jetzt galt es, das Wesen in die Falle zu locken. Doch noch immerlief er Gefahr, es durch ein unbedachtes Geräusch zu verschrecken.
Die offeneLaterne war nur noch einen halben Schritt von dem Irrlicht entfernt, als dessenKlagelaut abbrach. Einen Moment lang zuckte es in grellen Gelbtönen, dann stobdas Flammenwesen mit einem gierigen jaulen auf die Laterne zu, schlüpfte hineinund suhlte sich im Bernsteinstaub. Kai spürte ein kurzes Rucken an der Rute undhörte, wie sich der wertvolle Staub unter Knistergeräuschen entzündete. »Gutgemacht!« Seine Großmutter erhob sich mit knackenden Gliedern und zwängte sichbehände durch das dichte Schilfgras. Mit fliegenden Fingern verriegelte sie dasTürchen und hakte die Lampe von der Schnur, um ihren Fang zu begutachten. Sieschien zufrieden.
Wieerwartet, bemerkte das Irrlicht sie noch nicht einmal. Noch immer hüpfte esverzückt auf dem Bernsteinstaub auf und ab, der bis zu ihrer Heimkehr zu einergelbbraunen Lache geschmolzen sein würde.
Kai standebenfalls auf und steckte die Rute des Lohenfängers neben sich in den Boden.Endlich konnte er seine Stiefel aus dem Schlamm ziehen.
»Ich hatteschon befürchtet, du würdest es vertreiben«, brummte seine Großmutter leichtverärgert.
Also hattesie seinen kleinen Ausrutscher vorhin doch bemerkt.
Kai soggeräuschvoll die Moorluft ein. Sie roch nach modrigem Wasser und verrottetemWurzelwerk.
»Tut mirLeid«, murmelte er. »Passiert mir nicht wieder.«
»Na, daswill ich hoffen.« Ächzend bahnte sich seine Großmuttereinen Weg durch das Schilfdickicht. »Ich gebe es nicht gern zu, aber die Arbeitist nichts mehr für mich. Sie ermüdet mich von Mal zu Mal mehr. Wir hattengroßes Glück und das weißt du.«
Kai nicktestumm und musterte seine Großmutter, die im Schein der Laterne älter als sonstwirkte. Das flackernde Irrlicht enthüllte ihr Gesicht, das von Runzeln übersätwar. Die gebogene Nase, die unter dem Kopftuch hervorlugte, warf einen Schattenauf ihre Wange, der in scharfem Kontrast zu ihrer blassen Haut stand. Wirklichböse schien sie ihm nicht zu sein.
»Du wirstschon sehen. Ich fange gleich noch eines«, sagte Kai zuversichtlich. »Ich willdoch morgen beim Sternschnuppenfest nicht mit leeren Händen dastehen. «
»Das wirstdu aber, wenn du dein Temperament nicht zügelst«, seufzte die alte Frau.
Als siebeide im Moor nach einem günstigen Versteck Ausschau gehalten hatten, hatte diewarme Spätsommersonne noch geschienen. Inzwischen war nur noch schales Abendrotam Horizont auszumachen, das die feinen Nebelschleier, die sich über die Hügelund feuchten Senken des Moors gelegt hatten, in purpurnes Licht tauchte. Baldwürde der Vollmond aufgehen. Bestes Irrlichtwetter also. Doch seiner Großmutterschien die Feuchtigkeit mehr auszumachen als früher. Kai bemerkte das nicht zumersten Mal. Er machte sich Sorgen.
»KommGroßmutter«, sagte er fröhlicher, als ihm zumute war. »Setz dich neben dasIrrlicht und wärm dich bei einem Schluck heißen Tee.«
Kai halfder alten Frau, sich auf einem Baumstamm niederzulassen. Dann griff er zumGepäck, das sie in einer Bodensenke abgestellt hatten. An seinem Tornisterhingen drei weitere Laternen, die sie eigentlich nur der Vorsicht halber mitgenommenhatten. Es musste schon mit den Moorgeistern zugehen, sollte es ihnen gelingen,mehr als zwei Irrlichter an einem Abend einzufangen. Aber man wusste ja nie.Bei Vollmond war alles möglich. Kai kramte die mit dicken Tüchern umwickelteTeekanne hervor und kurz darauf dampfte es aus einer hölzernen Schale, die er deralten Frau reichte.
© Ravensburger Buchverlag
- Autor: Thomas Finn
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2006, 444 Seiten, Maße: 14,3 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: RAVENSBURGER BUCHVERLAG
- ISBN-10: 3473352608
- ISBN-13: 9783473352609
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