Der Gesang des Blutes
Eine Familie erfüllt sich den Traum von einem alten Haus auf dem Land. Kristin, die junge Mutter, hat jedoch ein ungutes Gefühl. Sie hört Stimmen, träumt von einem Scherenschleifer, der hier vor langer Zeit seine Frau getötet haben...
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Produktinformationen zu „Der Gesang des Blutes “
Eine Familie erfüllt sich den Traum von einem alten Haus auf dem Land. Kristin, die junge Mutter, hat jedoch ein ungutes Gefühl. Sie hört Stimmen, träumt von einem Scherenschleifer, der hier vor langer Zeit seine Frau getötet haben soll. Der plötzliche Tod ihres Mannes wirft sie endgültig aus der Bahn. Dann überschlagen sich die Ereignisse.
Klappentext zu „Der Gesang des Blutes “
Es ist im Keller. Und bald kommt es herauf.Die eigenen vier Wände auf dem Land: für Kristin und Tom geht ein Traum in Erfüllung. Doch die junge Mutter beschleicht von Anfang an ein ungutes Gefühl. Das alte Haus ist ihr unheimlich. Als Tom kurz nach dem Einzug überraschend stirbt, werden Kristins Ängste von Tag zu Tag schlimmer. Sie hört Stimmen, und nachts träumt sie von einer Gestalt, über die man im Dorf spricht: von einem Scherenschleifer, der hier vor langer Zeit eine Frau getötet haben soll. Kristin glaubt, langsam verrückt zu werden. Die Dorfbewohner raten ihr, das neue Heim so schnell wie möglich zu verlassen. Sie entschließt sich, zu bleiben ...
Es ist im Keller. Und bald kommt es herauf.
Die eigenen vier Wände auf dem Land: für Kristin und Tom geht ein Traum in Erfüllung. Doch die junge Mutter beschleicht von Anfang an ein ungutes Gefühl. Das alte Haus ist ihr unheimlich. Als Tom kurz nach dem Einzug überraschend stirbt, werden Kristins Ängste von Tag zu Tag schlimmer. Sie hört Stimmen, und nachts träumt sie von einer Gestalt, über die man im Dorf spricht: von einem Scherenschleifer, der hier vor langer Zeit eine Frau getötet haben soll. Kristin glaubt, langsam verrückt zu werden. Die Dorfbewohner raten ihr, das neue Heim so schnell wie möglich zu verlassen. Sie entschließt sich, zu bleiben ...
Die eigenen vier Wände auf dem Land: für Kristin und Tom geht ein Traum in Erfüllung. Doch die junge Mutter beschleicht von Anfang an ein ungutes Gefühl. Das alte Haus ist ihr unheimlich. Als Tom kurz nach dem Einzug überraschend stirbt, werden Kristins Ängste von Tag zu Tag schlimmer. Sie hört Stimmen, und nachts träumt sie von einer Gestalt, über die man im Dorf spricht: von einem Scherenschleifer, der hier vor langer Zeit eine Frau getötet haben soll. Kristin glaubt, langsam verrückt zu werden. Die Dorfbewohner raten ihr, das neue Heim so schnell wie möglich zu verlassen. Sie entschließt sich, zu bleiben ...
Lese-Probe zu „Der Gesang des Blutes “
Der Gesang des Blutes von Andreas WinkelmannPROLOG
Bringt heraus Messer und Scher, so sie schneiden wieder schwer. Ich schleif sie euch, schnell und gut, und führ sie vor an meinem Blut. Wie ein Totenglöckchen wehte der helle Klang durch das offene Küchenfenster, untermalt von einem zugleich erregt und monoton klingenden Sprechgesang, den der Wind oder die Entfernung verschluckten. Aber da hatte sie schon das Knirschen der Räder auf dem Kiesweg gehört und einen Blick durch das Fenster geworfen. Sie sah einen großen bärtigen Mann, der einen Handkarren hinter sich herzog. Sein tief in die Stirn gezogener speckiger Filzhut verschattete sein Gesicht in der Mittagssonne gänzlich. Er trug Lumpen, und all das ließ ihn geradewegs als Finsterling erscheinen. «Der schwarze Mann!», flüsterte sie und krampfte ihre Finger in die Schürze. Aber es war der Scherenschleifer, nur der Scherenschleifer. Vor ihm brauchte sie keine Angst zu haben, dass wusste sie. Trotzdem trat sie rasch einen Schritt zurück. Allerdings zu spät, denn er hatte sie längst entdeckt. Sie sah ihn erstaunt an, als die letzte Zeile seines Gesangs wie ein Traumfetzen an ihr vorüberzog. Er blickte ihr direkt ins Gesicht. Und dann lächelte er. ... und führ sie vor an eurem Blut ...
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VOR DEM TOD
1
«Es gibt keine gruseligen Keller! Es gibt überhaupt keine gruseligen oder unheimlichen Räume! Ein Keller ist ein Keller, ist ein Keller! Egal wie dunkel und feucht er ist. Keller! Verstehst du? Alles andere spielt sich in deinem Kopf ab, nirgends sonst», sagte Tom und warf ihr einen zweifelnden Blick zu, der von seinem typischen spöttischen Lächeln begleitet wurde, das immer dann auftauchte, wenn er sich um Längen überlegen fühlte. Dabei hatte sie sich damals in sein Lächeln verliebt. Allerdings in ein anderes. Sie bereute schon, überhaupt etwas gesagt zu haben. Aber was konnte sie schließlich für ihre Gefühle? Das Haus war eigentlich genau der Traum, dem sie schon so viele Monate hinterherliefen. Ein bisschen weitab vom Schuss, aber man musste halt Abstriche machen. Das hatte schon ihr Makler gesagt. Doch für dieses Haus würde Tom sicher eine Stunde Fahrt zur Arbeit auf sich nehmen, das spürte sie. Was also war ihr Problem?
Dieses Kellerloch beunruhigte sie. Es war wie eine schwärende Wunde. Sie wich Toms Blick aus, richtete ihre Augen noch einmal auf den großen rechtwinkligen Raum und erschauerte erneut. Es war nicht einzig die Dunkelheit, der Geruch oder die feuchten Wände. Wenn jemand sie aufgefordert hätte, in klaren Worten zu beschreiben, was sie an diesem Keller so ängstigte, hätte sie versagt. Streng genommen war es gar kein richtiger Keller, sondern eines dieser Löcher, wie sie vor hundert Jahren unter die Häuser gegraben wurden. Ein einziger großer Raum mit Wänden aus Bruchstein und einer niedrigen Decke, die Tom zwang, sich zu bücken. Man musste eine gefährlich schmale, steile Betontreppe hinunter, bis man endlich auf dem feuchten, modrigen Lehmboden stand, der bei jedem Tritt nachzugeben schien und einen zu verschlingen drohte. In der Mitte des Bodens zeigte sich eine deutliche rechteckige Vertiefung, als habe vor Jahren jemand eine Sickergrube angelegt. Tom irrte sich, oh ja! Es gab sehr wohl gruselige Räume.
Dieser hier war einer, und zwar nicht nur in ihren Augen. Kristin wusste selbst, dass sie seit jeher empfänglich für solche Sachen war. Ihre Kindheit war vollgestopft mit abscheulichen Schrankgespenstern und heimtückischen Waldtrollen. Aber das war damals, damals, als ihre Phantasie noch um einiges lebendiger war. Heute brauchte es ein bisschen mehr, um sie einzuschüchtern. Und dieses bisschen Mehr war dieser Keller! «Was ist, gefällt dir das Haus etwa nicht?» Kristin sah ihn nicht an. Ihr Blick war an der rechteckigen Vertiefung im Lehmboden hängengeblieben. Er wusste nur zu gut, wie sehr ihr das Haus sonst gefiel, und vor allem das riesige Grundstück, das endlich ihren Traum vom eigenen Pferd zu erfüllen versprach. «Doch, es gefällt mir sehr, aber ...» «Aber? Was gibt es hier für ein Aber? Kristin, ich bitte dich, genau das haben wir uns immer vorgestellt. Wenn ich den Preis drücken kann, und ich weiß, dass ich diesen Armleuchter von Makler um mindestens Zwanzigtausend drücken kann, ist es mehr als ideal für uns. Schatz, denk mal rational.» Architekten dachten immer rational, das hatte Kristin inzwischen gelernt. Toms Leben war ausgefüllt mit Zahlen, Zahlen kannten keine Trolle und Schrankgespenster. Er würde nie begreifen, was sie empfand. Zahlen kannten keine Gefühle.
Andererseits hatten ihr ihre Gefühle bis jetzt auch die Beklemmungen, die der Keller in ihr ausgelöst hatte, nicht erklären können. Nur schwer konnte sie den Blick von der Vertiefung lösen, um Tom anzuschauen. Er hatte den Ausdruck des unschuldigen kleinen Jungen aufgesetzt, mit dem er bei ihr alles durchsetzen konnte. Selbst das, fürchtete sie, war seiner rationalen Strategie geschuldet. Aber darüber wollte sie lieber nicht nachdenken. «Ach Tom, es ist wirklich ein Traum, und wenn dir die Entfernung nichts ausmacht ...», sagte sie und ließ die Schultern fallen. «Etwas Besseres werden wir kaum finden.» Er eilte auf sie zu und nahm sie in die Arme. Kristin meinte, den Boden unter seinen Füßen schmatzen zu hören. Immerhin wog er fünfzig Kilo mehr als sie.
Es konnte doch durchaus möglich sein, dass der Kellerraum ihn zu verschlingen trachtete, nicht sie. Für einen winzigen Moment fühlte sie sich in seinen Armen gefangen. «Ich wusste, dass du vernünftig bist. Wir müssen den Keller ja nicht nutzen, oder? Das Haus ist ja groß genug. Und? Haben wir noch Gerümpel? Nein, oder? Und dann haben wir ja immer noch den großen Speicher, meinst du nicht?»
Er warf einen Blick auf die Vertiefung und kratzte sich am Kopf. «Der Keller ist wirklich ein Dreckloch. Aber Wohnfläche, Zuschnitt und Grundstück müssen stimmen. Und das tun sie allerdings, oder?» Was blieb ihr anderes übrig, als zu nicken? Ja, ja, er hatte recht. Er warf ihr einen gönnerhaften Blick zu. Ja, ja, sie würden den Keller nicht nutzen, niemals, außer für ein paar alte Sachen vielleicht, die sie hier runterschaffen könnten. Selbst das war zu überlegen, wegen der Feuchtigkeit, aber mein Gott, sollten sie deswegen etwa ...? Tom hatte recht: Wohnfläche, Zuschnitt und Grundstück. Und die stimmten weiß Gott! Sie nickte schließlich und ließ sich von Tom küssen, zuerst auf die Stirn, dann auf den Mund. Plötzlich fühlte sich auch das rational an, und zum ersten Mal, seitdem er sie vor dem Altar geküsst hatte, war sie nicht bei der Sache. «Komm, Mäuschen, wir gehen noch mal nach oben. Ich will den Ausblick aus dem Schlafzimmer noch mal sehen, bevor ich von Rahden auf die Füße trete.» Ohne auf sie zu warten, stieg er die steile Treppe hoch.
Sie konnte die Sohlen seiner Schuhe auf dem Beton schaben hören. Unwillkürlich zog sie die Schultern zusammen. Rückwärts, den Raum nicht aus den Augen lassend, tastete sie sich zur Treppe. Warum stand hier kein Gerümpel? Warum stand, von einem halb vergammelten Holzregal abgesehen, absolut nichts in diesem Keller? In den letzten sechs Monaten hatten sie vier alte Häuser besichtigt, deren Keller voll mit altem Gerümpel standen. Aber dieser Keller, so leer, so tot ... Nicht mal Spinnen gab es hier unten. Als sie den Mauerdurchbruch erreichte, der den Raum vom Treppenaufgang trennte, blieb sie stehen und tastete links nach dem altmodischen Lichtschalter. Bevor sie das Licht löschte, sah sie noch einmal hinunter. Für einen winzigen Augenblick hatte sie den Eindruck, als wollte eine unendliche Tiefe sie hinuntersaugen. Quatsch, das ist nichts anderes als eine Delle im Lehmboden, eine Delle.
Wahrscheinlich hat das Grundwasser da gestanden, und der Boden ist später abgesackt, verstehst du? So wird es gewesen sein, du Dummerchen, komm, bleib bitte rational. Entschlossen drehte sie den Lichtschalter, worauf die Glühbirne gehorsam erlosch ,und stürmte die Treppe hinauf. Auf halber Höhe rutschte sie auf der schmalen Stufe ab. Instinktiv streckte sie beide Arme aus und stützte sich mit den Händen an den Wänden ab. Es gab keinen Handlauf! Tom musste unbedingt einen Handlauf anbringen, sonst geschah auf dieser Treppe noch ein Unglück. Aber wozu, wenn sie den Keller ja doch nicht nutzenwollten? Ihr Herz schlug schnell und heftig, als sie die Tür hinter sich zuschlug. «Ich bin hier!», hörte sie Tom von irgendwoher rufen.
Herbert von Rahden, ihr Makler auf der langen Suche nach dem Objekt ihrer Begierde, konnte ihnen nicht viel über das Haus erzählen. Dieser überaus fette Mann, der ständig zu schwitzen schien und seinen Mund nie länger halten konnte, als es dauerte, sich eine Zigarre anzuzünden, war auffallend schweigsam, was das Haus betraf. Er kannte Daten und Fakten, aber keine Namen und schon gar keine Geschichte. Das Haus war vor fast genau hundert Jahren erbaut worden. Nicht dieses, ein anderes, aber dieses war nach dem Ende des Krieges aus den Resten des anderen entstanden. Das genaue Alter war also schleierhaft. Der Keller hielt wohl den Rekord, jene Wand stammte vielleicht ebenfalls aus Gründerzeiten, genauso wie das Fachwerk des vorderen Giebels, wohingegen das Dach jüngeren Datums sein dürfte. Nachdem sie sich am Tag der Besichtigung per Handschlag einig geworden waren (Tom hatte von Rahden sogar um dreißigtausend Euro drücken können), hatte es noch zwei weitere Treffen mit dem Makler gegeben.
Bei jedem war er Kristins Fragen ausgewichen: «Nein, haha, wie kommen Sie nur darauf? Warum sollte das Haus eine interessante Geschichte haben? Es stand so lange leer, weil es eben so weit draußen liegt und renovierungsbedürftig ist. Oh Gott, nein, davon weiß ich nichts. Vielleicht ist mal jemand darin gestorben, aber woher soll ich das wissen, großer Gott!» Sie kauften es, betranken sich einen Abend sinnlos vor Freude und begannen mit der Renovierung. Um die Kosten zu senken, machten sie das meiste selbst. Vor seinem Studium hatte Tom Maurer gelernt und er war geschickt. Unter seinen Händen verwandelte sich das alte Haus nach und nach in ein Schmuckstück. Kristin mochte es von Anfang an - bis auf den Keller -, und je mehr sie an ihm herumwerkelten, umso tiefere Zuneigung, vielleicht sogar Liebe empfand sie für ihr Haus. Es entwickelte ein Gesicht, Charakter, und es gab ihr eine Menge Zuversicht für die Zukunft ihrer kleinen Familie. Die Fragen aber blieben offen. Kristin hätte gern etwas über die Geschichte des Hauses erfahren. Ein so altes Haus musste einfach eine Geschichte haben.
Doch es gab niemanden, den sie hätte fragen können. Da sie während der Renovierungsphase noch in Hamburg lebten und nur für die Arbeiten herauskamen, war noch kein Kontakt zu den Nachbarn zustande gekommen. Wenn sie in dem kleinen Edeka Laden in der Dorfmitte einkaufen ging, verhielten die Einheimischen sich so, wie Städter es von Landmenschen erwarteten: zurückhaltend, wortkarg, reserviert. Also behielt das Haus seine Geschichte und seine Geheimnisse zunächst für sich. Bis zum Nachmittag des 16. August, an dem Kristin den Anbau entrümpelte. Was sie dort fand, erregte ihr Interesse, doch kurz darauf kam der Tod und veränderte alles. Kristin war mit der Absicht in den Schuppen gekommen, ihn so weit aufzuräumen, dass sie wenigstens ihre Fahrräder und Lisas Kinderwagen hier unterstellen konnten.
Offensichtlich hatte der Schuppen den früheren Bewohnern des Hauses als Lagerplatz für Brennholz gedient. Er war furztrocken, wie Tom es genannt hatte, und damit seiner Meinung nach zu gefährlich als Lagerplatz für brennbare Materialien. Man musste dem Feuer ja nicht noch zusätzliche Nahrung verschaffen. Später würden sie auch einen Kamin haben, doch Tom wollte das Brennholz auf einer freien Fläche hinter dem Haus stapeln, wo der Wind es trocknen würde. Also konnte dieser Teil des Schuppens, der zwischen Garage und Werkstatt lag, als Fahrradraum dienen. Wenn er aufgeräumt war!
© 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
VOR DEM TOD
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«Es gibt keine gruseligen Keller! Es gibt überhaupt keine gruseligen oder unheimlichen Räume! Ein Keller ist ein Keller, ist ein Keller! Egal wie dunkel und feucht er ist. Keller! Verstehst du? Alles andere spielt sich in deinem Kopf ab, nirgends sonst», sagte Tom und warf ihr einen zweifelnden Blick zu, der von seinem typischen spöttischen Lächeln begleitet wurde, das immer dann auftauchte, wenn er sich um Längen überlegen fühlte. Dabei hatte sie sich damals in sein Lächeln verliebt. Allerdings in ein anderes. Sie bereute schon, überhaupt etwas gesagt zu haben. Aber was konnte sie schließlich für ihre Gefühle? Das Haus war eigentlich genau der Traum, dem sie schon so viele Monate hinterherliefen. Ein bisschen weitab vom Schuss, aber man musste halt Abstriche machen. Das hatte schon ihr Makler gesagt. Doch für dieses Haus würde Tom sicher eine Stunde Fahrt zur Arbeit auf sich nehmen, das spürte sie. Was also war ihr Problem?
Dieses Kellerloch beunruhigte sie. Es war wie eine schwärende Wunde. Sie wich Toms Blick aus, richtete ihre Augen noch einmal auf den großen rechtwinkligen Raum und erschauerte erneut. Es war nicht einzig die Dunkelheit, der Geruch oder die feuchten Wände. Wenn jemand sie aufgefordert hätte, in klaren Worten zu beschreiben, was sie an diesem Keller so ängstigte, hätte sie versagt. Streng genommen war es gar kein richtiger Keller, sondern eines dieser Löcher, wie sie vor hundert Jahren unter die Häuser gegraben wurden. Ein einziger großer Raum mit Wänden aus Bruchstein und einer niedrigen Decke, die Tom zwang, sich zu bücken. Man musste eine gefährlich schmale, steile Betontreppe hinunter, bis man endlich auf dem feuchten, modrigen Lehmboden stand, der bei jedem Tritt nachzugeben schien und einen zu verschlingen drohte. In der Mitte des Bodens zeigte sich eine deutliche rechteckige Vertiefung, als habe vor Jahren jemand eine Sickergrube angelegt. Tom irrte sich, oh ja! Es gab sehr wohl gruselige Räume.
Dieser hier war einer, und zwar nicht nur in ihren Augen. Kristin wusste selbst, dass sie seit jeher empfänglich für solche Sachen war. Ihre Kindheit war vollgestopft mit abscheulichen Schrankgespenstern und heimtückischen Waldtrollen. Aber das war damals, damals, als ihre Phantasie noch um einiges lebendiger war. Heute brauchte es ein bisschen mehr, um sie einzuschüchtern. Und dieses bisschen Mehr war dieser Keller! «Was ist, gefällt dir das Haus etwa nicht?» Kristin sah ihn nicht an. Ihr Blick war an der rechteckigen Vertiefung im Lehmboden hängengeblieben. Er wusste nur zu gut, wie sehr ihr das Haus sonst gefiel, und vor allem das riesige Grundstück, das endlich ihren Traum vom eigenen Pferd zu erfüllen versprach. «Doch, es gefällt mir sehr, aber ...» «Aber? Was gibt es hier für ein Aber? Kristin, ich bitte dich, genau das haben wir uns immer vorgestellt. Wenn ich den Preis drücken kann, und ich weiß, dass ich diesen Armleuchter von Makler um mindestens Zwanzigtausend drücken kann, ist es mehr als ideal für uns. Schatz, denk mal rational.» Architekten dachten immer rational, das hatte Kristin inzwischen gelernt. Toms Leben war ausgefüllt mit Zahlen, Zahlen kannten keine Trolle und Schrankgespenster. Er würde nie begreifen, was sie empfand. Zahlen kannten keine Gefühle.
Andererseits hatten ihr ihre Gefühle bis jetzt auch die Beklemmungen, die der Keller in ihr ausgelöst hatte, nicht erklären können. Nur schwer konnte sie den Blick von der Vertiefung lösen, um Tom anzuschauen. Er hatte den Ausdruck des unschuldigen kleinen Jungen aufgesetzt, mit dem er bei ihr alles durchsetzen konnte. Selbst das, fürchtete sie, war seiner rationalen Strategie geschuldet. Aber darüber wollte sie lieber nicht nachdenken. «Ach Tom, es ist wirklich ein Traum, und wenn dir die Entfernung nichts ausmacht ...», sagte sie und ließ die Schultern fallen. «Etwas Besseres werden wir kaum finden.» Er eilte auf sie zu und nahm sie in die Arme. Kristin meinte, den Boden unter seinen Füßen schmatzen zu hören. Immerhin wog er fünfzig Kilo mehr als sie.
Es konnte doch durchaus möglich sein, dass der Kellerraum ihn zu verschlingen trachtete, nicht sie. Für einen winzigen Moment fühlte sie sich in seinen Armen gefangen. «Ich wusste, dass du vernünftig bist. Wir müssen den Keller ja nicht nutzen, oder? Das Haus ist ja groß genug. Und? Haben wir noch Gerümpel? Nein, oder? Und dann haben wir ja immer noch den großen Speicher, meinst du nicht?»
Er warf einen Blick auf die Vertiefung und kratzte sich am Kopf. «Der Keller ist wirklich ein Dreckloch. Aber Wohnfläche, Zuschnitt und Grundstück müssen stimmen. Und das tun sie allerdings, oder?» Was blieb ihr anderes übrig, als zu nicken? Ja, ja, er hatte recht. Er warf ihr einen gönnerhaften Blick zu. Ja, ja, sie würden den Keller nicht nutzen, niemals, außer für ein paar alte Sachen vielleicht, die sie hier runterschaffen könnten. Selbst das war zu überlegen, wegen der Feuchtigkeit, aber mein Gott, sollten sie deswegen etwa ...? Tom hatte recht: Wohnfläche, Zuschnitt und Grundstück. Und die stimmten weiß Gott! Sie nickte schließlich und ließ sich von Tom küssen, zuerst auf die Stirn, dann auf den Mund. Plötzlich fühlte sich auch das rational an, und zum ersten Mal, seitdem er sie vor dem Altar geküsst hatte, war sie nicht bei der Sache. «Komm, Mäuschen, wir gehen noch mal nach oben. Ich will den Ausblick aus dem Schlafzimmer noch mal sehen, bevor ich von Rahden auf die Füße trete.» Ohne auf sie zu warten, stieg er die steile Treppe hoch.
Sie konnte die Sohlen seiner Schuhe auf dem Beton schaben hören. Unwillkürlich zog sie die Schultern zusammen. Rückwärts, den Raum nicht aus den Augen lassend, tastete sie sich zur Treppe. Warum stand hier kein Gerümpel? Warum stand, von einem halb vergammelten Holzregal abgesehen, absolut nichts in diesem Keller? In den letzten sechs Monaten hatten sie vier alte Häuser besichtigt, deren Keller voll mit altem Gerümpel standen. Aber dieser Keller, so leer, so tot ... Nicht mal Spinnen gab es hier unten. Als sie den Mauerdurchbruch erreichte, der den Raum vom Treppenaufgang trennte, blieb sie stehen und tastete links nach dem altmodischen Lichtschalter. Bevor sie das Licht löschte, sah sie noch einmal hinunter. Für einen winzigen Augenblick hatte sie den Eindruck, als wollte eine unendliche Tiefe sie hinuntersaugen. Quatsch, das ist nichts anderes als eine Delle im Lehmboden, eine Delle.
Wahrscheinlich hat das Grundwasser da gestanden, und der Boden ist später abgesackt, verstehst du? So wird es gewesen sein, du Dummerchen, komm, bleib bitte rational. Entschlossen drehte sie den Lichtschalter, worauf die Glühbirne gehorsam erlosch ,und stürmte die Treppe hinauf. Auf halber Höhe rutschte sie auf der schmalen Stufe ab. Instinktiv streckte sie beide Arme aus und stützte sich mit den Händen an den Wänden ab. Es gab keinen Handlauf! Tom musste unbedingt einen Handlauf anbringen, sonst geschah auf dieser Treppe noch ein Unglück. Aber wozu, wenn sie den Keller ja doch nicht nutzenwollten? Ihr Herz schlug schnell und heftig, als sie die Tür hinter sich zuschlug. «Ich bin hier!», hörte sie Tom von irgendwoher rufen.
Herbert von Rahden, ihr Makler auf der langen Suche nach dem Objekt ihrer Begierde, konnte ihnen nicht viel über das Haus erzählen. Dieser überaus fette Mann, der ständig zu schwitzen schien und seinen Mund nie länger halten konnte, als es dauerte, sich eine Zigarre anzuzünden, war auffallend schweigsam, was das Haus betraf. Er kannte Daten und Fakten, aber keine Namen und schon gar keine Geschichte. Das Haus war vor fast genau hundert Jahren erbaut worden. Nicht dieses, ein anderes, aber dieses war nach dem Ende des Krieges aus den Resten des anderen entstanden. Das genaue Alter war also schleierhaft. Der Keller hielt wohl den Rekord, jene Wand stammte vielleicht ebenfalls aus Gründerzeiten, genauso wie das Fachwerk des vorderen Giebels, wohingegen das Dach jüngeren Datums sein dürfte. Nachdem sie sich am Tag der Besichtigung per Handschlag einig geworden waren (Tom hatte von Rahden sogar um dreißigtausend Euro drücken können), hatte es noch zwei weitere Treffen mit dem Makler gegeben.
Bei jedem war er Kristins Fragen ausgewichen: «Nein, haha, wie kommen Sie nur darauf? Warum sollte das Haus eine interessante Geschichte haben? Es stand so lange leer, weil es eben so weit draußen liegt und renovierungsbedürftig ist. Oh Gott, nein, davon weiß ich nichts. Vielleicht ist mal jemand darin gestorben, aber woher soll ich das wissen, großer Gott!» Sie kauften es, betranken sich einen Abend sinnlos vor Freude und begannen mit der Renovierung. Um die Kosten zu senken, machten sie das meiste selbst. Vor seinem Studium hatte Tom Maurer gelernt und er war geschickt. Unter seinen Händen verwandelte sich das alte Haus nach und nach in ein Schmuckstück. Kristin mochte es von Anfang an - bis auf den Keller -, und je mehr sie an ihm herumwerkelten, umso tiefere Zuneigung, vielleicht sogar Liebe empfand sie für ihr Haus. Es entwickelte ein Gesicht, Charakter, und es gab ihr eine Menge Zuversicht für die Zukunft ihrer kleinen Familie. Die Fragen aber blieben offen. Kristin hätte gern etwas über die Geschichte des Hauses erfahren. Ein so altes Haus musste einfach eine Geschichte haben.
Doch es gab niemanden, den sie hätte fragen können. Da sie während der Renovierungsphase noch in Hamburg lebten und nur für die Arbeiten herauskamen, war noch kein Kontakt zu den Nachbarn zustande gekommen. Wenn sie in dem kleinen Edeka Laden in der Dorfmitte einkaufen ging, verhielten die Einheimischen sich so, wie Städter es von Landmenschen erwarteten: zurückhaltend, wortkarg, reserviert. Also behielt das Haus seine Geschichte und seine Geheimnisse zunächst für sich. Bis zum Nachmittag des 16. August, an dem Kristin den Anbau entrümpelte. Was sie dort fand, erregte ihr Interesse, doch kurz darauf kam der Tod und veränderte alles. Kristin war mit der Absicht in den Schuppen gekommen, ihn so weit aufzuräumen, dass sie wenigstens ihre Fahrräder und Lisas Kinderwagen hier unterstellen konnten.
Offensichtlich hatte der Schuppen den früheren Bewohnern des Hauses als Lagerplatz für Brennholz gedient. Er war furztrocken, wie Tom es genannt hatte, und damit seiner Meinung nach zu gefährlich als Lagerplatz für brennbare Materialien. Man musste dem Feuer ja nicht noch zusätzliche Nahrung verschaffen. Später würden sie auch einen Kamin haben, doch Tom wollte das Brennholz auf einer freien Fläche hinter dem Haus stapeln, wo der Wind es trocknen würde. Also konnte dieser Teil des Schuppens, der zwischen Garage und Werkstatt lag, als Fahrradraum dienen. Wenn er aufgeräumt war!
© 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
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Autoren-Porträt von Andreas Winkelmann
In seiner Kindheit und Jugend verschlang Andreas Winkelmann die unheimlichen Geschichten von John Sinclair und Stephen King. Dabei erwachte in ihm der unbändige Wunsch, selbst zu schreiben und andere Menschen in Angst zu versetzen. Heute zählen seine Thriller zu den härtesten und meistgelesenen im deutschsprachigen Raum. In seinen Büchern gelingt es ihm, seine Leserinnen und Leser von der ersten Zeile an in die Handlung hineinzuziehen, um sie dann, gemeinsam mit seinen Figuren in ein düsteres Labyrinth zu stürzen, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. Die Geschichten sind stets nah an den Lebenswelten seines Publikums angesiedelt und werden in einer klaren, schnörkellosen Sprache erschreckend realistisch erzählt. Der Ort, an dem sie entstehen, könnte ein Schauplatz aus einem seiner Romane sein: der Dachboden eines vierhundert Jahre alten Hauses am Waldesrand in der Nähe von Bremen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andreas Winkelmann
- 2013, 5. Aufl., 336 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499266660
- ISBN-13: 9783499266669
- Erscheinungsdatum: 18.09.2013
Rezension zu „Der Gesang des Blutes “
Andreas Winkelmann treibt die Handlung mit einer Konsequenz voran, die man sonst nur von angelsächsischen Thrillern gewohnt ist. Die Welt
Pressezitat
Andreas Winkelmann treibt die Handlung mit einer Konsequenz voran, die man sonst nur von angelsächsischen Thrillern gewohnt ist. Die Welt
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