Die Wahrheit über Alice
Schuld, Freundschaft, Feindschaft, Verrat. Ein außergewöhnlicher, psychologisch-dramatischer und wahnsinnig spannender Roman, der einen an sich fesselt. Und bei dem man sich immer wieder fragt: War es wirklich so? Oder war es ganz...
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Produktinformationen zu „Die Wahrheit über Alice “
Schuld, Freundschaft, Feindschaft, Verrat. Ein außergewöhnlicher, psychologisch-dramatischer und wahnsinnig spannender Roman, der einen an sich fesselt. Und bei dem man sich immer wieder fragt: War es wirklich so? Oder war es ganz anders?
Die 17-jährige Katherine ist eine verschlossene Einzelgängerin. Niemand soll wissen, dass sie ein dunkles Geheimnis hat: Ihre kleine Schwester wurde vor Jahren vor ihren Augen ermordet - und sie konnte ihr nicht helfen. Dann fällt Katherine aus allen Wolken: Ausgerechnet die beliebte und schöne Alice sucht ihre Nähe und Freundschaft. Doch nach und nach wird Alice merkwürdiger. Und bald merkt Katherine, dass auch Alice ein gefährliches Geheimnis hat.
Lese-Probe zu „Die Wahrheit über Alice “
Die Wahrheit über Alice von Rebecca JamesTeil eins
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Ich war nicht auf Alice' Beerdigung. Ich war damals schwanger. Wahnsinnig und rasend vor Trauer. Aber ich trauerte nicht um Alice. Nein. Da hasste ich Alice schon und war froh, dass sie tot war. Denn Alice hatte mir das angetan, Alice hatte mein Leben zerstört, mir das Beste genommen, was ich je hatte, und es in Millionen Scherben zerschlagen. Ich weinte nicht um Alice, sondern wegen Alice.
Erst jetzt, vier Jahre später und eine Ewigkeit glücklicher, endlich angekommen in einem geborgenen und ruhigen Leben mit meiner Tochter Sarah (meiner süßen, ach so ernsten kleinen Sarah), wünsche ich manchmal, ich wäre doch zu Alice' Beerdigung gegangen.
Weil ich Alice nämlich überall sehe - im Supermarkt, am Eingang von Sarahs Kindergarten, in dem Club, wo Sarah und ich manchmal preiswert essen. Da sehe ich plötzlich aus den Augenwinkeln Alice' glänzendes weizenblondes Haar, ihre Modelfigur, ihre auffälligen Klamotten, und ich bleibe mit pochendem Herzen stehen und starre. Es dauert nicht lange, dann fällt mir wieder ein, dass sie tot und begraben ist, dass sie es unmöglich sein kann, aber dennoch muss ich mich zwingen, näher ranzugehen und mich zu vergewissern, dass ihr Geist mich nicht verfolgt. Von nahem sehen diese Frauen Alice manchmal ähnlich, aber sie sind nie, niemals so schön wie sie. Oft haben sie, aus der Nähe betrachtet, nicht mal die geringste Ähnlichkeit mit ihr.
Dann wende ich mich ab und mache weiter mit dem, was ich zuvor getan habe, aber alle Wärme ist mir aus Gesicht und Lippen gewichen, und der Adrenalinstoß lässt meine Fingerspitzen unangenehm kribbeln. Mein Tag ist unweigerlich ruiniert.
Ich hätte zu ihrer Beerdigung gehen sollen. Ich hätte nicht weinen oder Trauer heucheln müssen. Ich hätte verbittert lachen und in die Grube spucken können. Wen hätte das gekümmert? Wenn ich nur gesehen hätte, wie sie ihren Sarg hinab ließen, wenn ich zugeschaut hätte, wie sie die Erde darauf warfen, dann wäre ich mir jetzt sicherer, dass sie wirklich tot und begraben ist.
Und ich wüsste tief in meinem Inneren, dass Alice für immer fort ist.
1
Hast du Lust zu kommen?« Alice Parrie lächelt zu mir herunter. Es ist Mittagspause, ich sitze unter einem Baum, allein, und lese ein Buch.
»Hä?« Ich schirme die Augen ab und sehe hoch. »Wohin kommen?«
Alice reicht mir ein Blatt Papier.
Ich nehme es und werfe einen Blick darauf. Es ist die knallbunte Fotokopie einer Einladung zu Alice' 18. Geburtstag. Kommt alle!! Bringt eure Freunde mit!! steht da. Sekt gratis! Essen gratis! Nur jemand, der so beliebt und selbstbewusst ist wie Alice Parrie, kann eine derartige Einladung verteilen. Jeder Normalsterbliche würde wirken, als bettelte er um Gäste. Wieso ich?, frage ich mich. Ich kenne Alice, jeder kennt sie, aber ich habe bisher noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Sie ist etwas Besonderes - schön, beliebt, unübersehbar.
Ich falte die Einladung in der Mitte und nicke. »Ich versuch's. Klingt gut«, lüge ich.
Alice schaut mich ein paar Sekunden lang unverwandt an. Dann seufzt sie und lässt sich neben mir auf den Rasen plumpsen, so nah, dass eins ihrer Knie schwer gegen meines drückt.
»Du kommst nicht.« Sie grinst.
Ich spüre, wie meine Wangen rot werden. Obwohl mir mein ganzes Leben manchmal vorkommt wie eine Fassade, wie eine Mauer aus Geheimnissen, bin ich keine gute Lügnerin. Ich blicke nach unten auf meinen Schoß. »Wahrscheinlich nicht.«
»Aber du musst kommen, Katherine«, sagt sie. »Das wär mir wirklich total wichtig.«
Ich bin erstaunt, dass Alice überhaupt meinen Namen kennt, aber noch erstaunlicher - ja, geradezu unglaublich - ist, dass sie mich auf ihrer Party dabeihaben will. An der Drummond High School kennt mich praktisch keiner, und ich bin mit niemandem befreundet. Ich komme und gehe unauffällig, allein, und lerne vor mich hin. Ich versuche, möglichst keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich komme ganz gut klar, aber meine Noten sind nicht berauschend. Ich bin in keiner Schulsportmannschaft¬ , in keiner AG. Und obwohl ich weiß, dass ich nicht immer so weitermachen, nicht ewig ein Schattendasein führen kann, ist es vorläuf g richtig so für mich. Ich verstecke mich, das weiß ich, ich verhalte mich feige, aber im Augenblick muss ich unscheinbar sein, langweilig. Damit keiner erfährt, wer ich wirklich bin oder was passiert ist.
Ich klappe das Buch zu und fange an, meinen Lunch wegzupacken.
»Moment.« Alice legt eine Hand auf mein Knie. Ich blicke sie so kalt an, wie ich kann, und sie zieht sie wieder zurück. »Ich meine es ernst. Ich möchte wirklich, dass du kommst. Und ich finde es super, was du letzte Woche zu Dan gesagt hast. Ich wäre echt froh, wenn mir auch mal so was einfallen würde, aber so schlagfertig bin ich einfach nicht. Und ehrlich, ich hätte nie im Leben dran gedacht, wie das für die Frau gewesen sein muss. Das ist mir erst klargeworden, als ich mitgekriegt habe, wie du Dan zur Schnecke gemacht hast. Ich meine, du warst toll, was du gesagt hast, war total richtig. Du hast ihn als den Idioten bloßgestellt, der er ist.«
Ich weiß sofort, wovon Alice spricht - das einzige Mal, wo ich nicht aufgepasst, mich einen Augenblick lang vergessen habe. Ich lege mich nicht mehr mit anderen an. Im Gegenteil, ich gebe mir alle Mühe, das in meinem täglichen Leben zu vermeiden. Aber das Benehmen von Dan Johnson und seinen Freunden vor einer Woche fand ich derart widerlich, dass ich mich nicht mehr beherrschen konnte.
Unsere Schule hatte eine Berufsberaterin eingeladen, die uns etwas über unsere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und über die Zulassungsbedingungen für die Uni erzählen sollte. Zugegeben, der Vortrag war langweilig, wir hatten das alles schon zigmal gehört, und die Frau war nervös, stotterte herum und redete konfuses Zeug. Je lauter und unruhiger ihre Zuhörer wurden, desto mehr geriet sie aus dem Konzept. Aber Dan Johnson und seine fiese Clique nutzten das aus. Sie führten sich dermaßen gemein und respektlos auf, dass die Frau schließlich in Tränen ausbrach und gedemütigt das Weite suchte. Nach der Veranstaltung tippte ich Dan im Flur von hinten auf die Schulter.
Dan drehte sich mit einem blasierten, selbstgefälligen Gesichtsausdruck um. Er erwartete offensichtlich Bewunderung für sein Benehmen.
»Ist dir eigentlich klar«, begann ich mit überraschend lauter, zorniger Stimme, »wie sehr du diese Frau verletzt hast? Das ist ihr Leben, Daniel, ihr Beruf, ihr berufliches Ansehen. Mit deinem erbärmlichen Schrei nach Aufmerksamkeit hast du sie zutiefst gedemütigt. Du tust mir leid, Daniel, du musst dich schon verdammt traurig und winzig fühlen, wenn du das Bedürfnis hast, jemanden so niederzumachen, jemanden, den du nicht mal kennst.«
»Du warst super«, fährt Alice fort. »Und ich war ehrlich gesagt total überrascht. Echt, ich glaube, alle waren das. Niemand redet so mit Dan.« Sie schüttelt den Kopf. »Niemand.«
Tja, ich schon, denke ich bei mir. Zumindest mein wahres Ich.
»Es war großartig. Mutig.«
Und das Wort gibt schließlich den Ausschlag. »Mutig.« Ich wäre so furchtbar gern mutig. Ich möchte den Feigling in mir so wahnsinnig gern auslöschen und zerquetschen und vernichten, dass ich Alice nicht länger widerstehen kann.
Ich stehe auf und hänge mir meine Tasche über die Schulter. »Okay«, sage ich zu meiner eigenen Verblüffung - »okay, ich komme.«
2
Alice besteht darauf, dass wir uns gemeinsam für die Party hübsch machen. Als der große Tag gekommen ist, holt sie mich am frühen Nachmittag mit ihrem klapprigen alten VW ab, und wir fahren zu ihr nach Hause. Sie wechselt ständig die Spur und fährt viel schneller, als es einer Anfängerin mit Führerschein auf Probe erlaubt ist, und dabei erzählt sie mir, dass sie allein lebt, in einer Einzimmerwohnung in der Innenstadt. Das überrascht mich, es erstaunt mich sogar. Ich hätte gedacht, dass jemand wie Alice in einem schicken Haus in einer Vorortsiedlung bei ihren treusorgenden Eltern wohnt. Ich hätte gedacht, dass sie verwöhnt, umhegt, verhätschelt wird (genau wie ich früher), und die Tatsache, dass sie allein lebt, macht sie plötzlich irgendwie interessanter. Sie ist offenbar komplexer, als ich ihr zugetraut hätte. Alice und ich haben mehr gemeinsam, als ich dachte.
Ich möchte ihr tausend Fragen stellen - Wo sind ihre Eltern? Wie kann sie sich eine Wohnung leisten? Hat sie je Angst? Ist sie einsam? -, aber ich halte mich zurück. Ich habe selbst Geheimnisse, und ich habe gelernt, dass ich, wenn ich Fragen stelle, nur Gefahr laufe, selbst ausgefragt zu werden. Es ist sicherer, bei anderen nicht zu neugierig zu sein, sicherer, nichts zu fragen.
Ihre Wohnung liegt in einem spießigen, durchschnittlich aussehenden Mietsblock. Das Treppenhaus ist dunkel und nicht besonders einladend, aber nachdem wir vier Etagen hoch getrabt sind und atemlos an ihrer Wohnung ankommen, öffnet sie die Tür zu einem Zimmer voller Farbe und Wärme.
Die Wände sind in einem satten dunklen Orange gestrichen und mit großen, knalligen abstrakten Bildern behängt. Burgunderrote Überwürfe und farbenfrohe Kissen im Ethno-Look verschönern zwei wuchtige, weich aussehende Sofas. Auf jeder freien Fläche stehen Kerzen.
»Voilà! Mein bescheidenes Heim.« Alice zieht mich herein und beobachtet gespannt mein Gesicht. Ich sehe mich im Raum um. »Wie findest du's? Ich hab alles selbst gemacht, weißt du. Du hättest mal sehen sollen, wie's hier aussah, als ich eingezogen bin, total öde und langweilig. Aber du glaubst nicht, wie ein bisschen Farbe einen Raum verändern kann. Eigentlich braucht man nur ein paar Ideen und einen Eimer knallige Farbe.«
»Ich find's echt cool«, sage ich. Und bin unwillkürlich ein wenig neidisch. Alice' Zimmer ist richtig abgefahren, so viel jünger als die moderne, minimalistische Wohnung, in der ich lebe.
»Ehrlich? Es gefällt dir wirklich?«
»Ja«, sage ich und lache. »Ganz ehrlich.«
»Da bin ich echt froh. Du sollst dich hier nämlich genauso wohl fühlen wie ich, weil ich vorhabe, ganz oft mit dir zusammen zu sein. Und ich kann mir richtig vorstellen, wie wir hier in diesem Zimmer ganz viel Zeit miteinander verbringen, wie wir quatschen und quatschen und quatschen und uns bis tief in die Nacht gegenseitig unsere Geheimnisse anvertrauen.«
Es heißt, charmante, beeindruckende Menschen verstünden es, einem das Gefühl zu geben, man wäre der einzige Mensch auf der Welt, und jetzt wird mir klar, was damit gemeint ist. Ich bin nicht ganz sicher, was sie da macht oder wie sie es macht - jemand anders hätte aufdringlich oder sogar unterwürfig gewirkt -, aber wenn Alice mir so vorbehaltlos ihre Aufmerksamkeit widmet, fühle ich mich kostbar, von der Gewissheit erwärmt, wirklich verstanden zu werden.
Einen kurzen, verrückten Moment lang stelle ich mir vor, wie ich ihr mein Geheimnis verrate. Ich habe alles ganz deutlich vor Augen. Alice und ich in diesem Zimmer, wir sind beide ein bisschen beschwipst, kicherig und fröhlich und ein ganz klein wenig verlegen, wie man es eben ist, wenn man das Gefühl hat, eine neue Freundin gefunden zu haben, eine besondere Freundin. Ich lege meine Hand auf ihr Knie, damit sie still und leise wird, damit sie weiß, dass ich etwas Wichtiges sagen will, und dann erzähle ich es ihr. Ich erzähle es ihr schnell, ohne zu stocken, ohne ihr in die Augen zu schauen. Und wenn ich geendet habe, ist sie warmherzig und nachsichtig und verständnisvoll, genau wie ich es mir erhofft habe. Sie umarmt mich. Alles ist gut, und ich fühle mich leichter, weil ich es erzählt habe. Ich bin endlich frei.
Aber das ist alles bloß ein Traum. Ein irres Hirngespinst. Ich erzähle ihr nichts.
Ich trage meine übliche Kluft - Jeans, Stiefel und Bluse - und habe etwas Make-up dabei, um mich für die Party an zu hübschen, doch Alice besteht darauf, dass ich ein Kleid anziehe. Ihr Schrank ist prall gefüllt mit Kleidern in allen möglichen Farben und Längen und Schnitten. Es müssen mindestens hundert sein, und an manchen hängen noch die Preisschilder. Ich frage mich, woher sie das Geld hat, wie sie sich so viele Klamotten leisten kann, und schon wieder bin ich versucht zu fragen.
»Ich hab einen kleinen Klamottenfimmel.« Sie grinst.
»Tatsache?«, witzele ich. »Wär ich nie drauf gekommen.«
Alice greift in den Schrank und fängt an, Kleider herauszuziehen. Sie wirft sie aufs Bett. »Da. Such dir eins aus. Die meisten davon hab ich noch kein einziges Mal getragen.« Sie hält ein blaues hoch. »Gefällt's dir?«
Es ist hübsch, aber ich habe mein Traumkleid bereits entdeckt. Es ist rot mit Paisleymuster, ein Wickelkleid mit Gürtel, offensichtlich aus irgendeinem Stretchmaterial. Solche Kleider hat meine Mutter in den Siebzigern getragen, und es würde gut zu den hohen Stiefeln passen, die ich anhabe.
Alice beobachtet mich. Sie lacht und greift nach dem roten Kleid. »Das hier?«
Ich nicke.
»Es ist toll, nicht?« Sie hält es vor sich und schaut in den Spiegel. »Und teuer. Es ist von Pakbelle und Kanon. Du hast einen guten Geschmack.«
»Es ist wunderschön. Warum ziehst du es nicht selbst an? Das Etikett ist noch dran, du hast es noch kein Mal getragen. Wahrscheinlich hast du's dir für einen besonderen Anlass aufgespart.«
»Nein. Ich zieh was anderes an. Etwas Besonderes.« Alice hält es vor mich. »Probier's an.«
Das Kleid sitzt perfekt und passt wirklich gut zu meinen Stiefeln. Das Rot bringt meinen dunklen Teint und die dunklen Haare zur Geltung, und ich lächle Alice glücklich im Spiegel an. Ich bin begeistert und froh, dass ich ihre Einladung angenommen habe.
Alice geht in die Küche und holt eine Flasche aus dem Kühlschrank. Es ist Sekt. Er ist rosé.
»Mhm, lecker«, sagt sie und küsst die Flasche. »Meine einzig wahre Liebe. Und hey, seit gestern bin ich volljährig.«
Sie öffnet die Flasche, lässt den Korken gegen die Decke knallen und gießt uns beiden ein Glas ein, ohne vorher zu fragen, ob ich auch was will. Sie geht mit ihrem ins Bad, um zu duschen und sich zurechtzumachen, und als sie verschwunden ist, hebe ich mein Glas und nehme einen kleinen Schluck. Seit der Nacht, in der meine Familie zerstört wurde, habe ich keinen Alkohol mehr getrunken. Nicht einen Tropfen. Aber andererseits habe
ich mich seitdem auch nicht mehr mit einer Freundin amüsiert, und so setze ich das Glas wieder an den Mund und genieße das Gefühl der perlenden Flüssigkeit an den Lippen, auf der Zunge. Ich lasse einen weiteren kleinen Schluck durch die Kehle gleiten und bilde mir ein, die Wirkung unmittelbar zu spüren, zu fühlen, wie der Alkohol mir durch die Adern strömt, meine Lippen zum Prickeln bringt, mir zu Kopf steigt. Der Sekt ist süß und süffig wie Likör, und ich muss mich zwingen, nicht alles auf einmal herunterzukippen.
Ich koste jeden Mundvoll aus und genieße es, wie sich mein Körper mit jedem Schluck mehr und mehr entspannt. Als das Glas leer ist, bin ich fröhlicher, heiterer, unbeschwerter - fast eine normale Siebzehnjährige -, und ich lasse mich auf Alice' buntes Sofa fallen und kichere einfach so ohne Grund. Und ich sitze noch immer so da, lächle, genieße die angenehme Schwere meines Körpers auf dem Sofa, als Alice wieder ins Zimmer kommt.
»Wahnsinn. Alice. Du siehst ...« Ich zucke die Achseln, finde einfach nicht das passende Wort. »Du siehst umwerfend aus!«
Sie hebt die Arme und dreht sich auf den Zehenspitzen. »Na, vielen Dank, Miss Katherine«, sagt sie.
Alice ist schön, atemberaubend schön. Sie ist groß, mit vollen Brüsten und langen, wohlgeformten Beinen, und ihr Gesicht ist ein Bild der Vollkommenheit: die Augen strahlend tief lau, die Haut golden schimmernd.
Ich bin auch nicht gerade hässlich, aber neben Alice komme ich mir total reizlos vor.
Während wir auf das Taxi warten, geht Alice mit unseren leeren Gläsern in die Küche und schenkt Sekt nach. Als ich aufstehe, um mein Glas zu holen, merke ich, dass mir leicht schwindelig wird. Es fühlt sich nicht unangenehm an - im Gegenteil, es macht mich leicht und locker und entspannt. Und plötzlich
kommt mir dieses Gefühl, diese benommene Glückseligkeit, dieser Eindruck, dass die Welt ein gütiger und freundlicher Ort ist, so furchtbar vertraut vor, und ich merke, wie sehr es mir Angst macht. Alkohol trickst deinen Verstand aus, er lässt dich unvorsichtig werden, wiegt dich in dem Glauben, dass irgendwer schon auf dich aufpassen wird - aber ich weiß, dass das nur eine gefährliche Illusion ist. Alkohol bringt dich dazu, Risiken einzugehen, die du normalerweise nicht eingehen würdest, Alkohol lässt dich dumme Entscheidungen treffen. Und ich weiß besser als jeder andere, wie verheerend die Folgen einer einzigen schlechten Entscheidung sein können. Ich lebe jeden Tag damit.
Ich nehme das Glas, tu aber nur so, als würde ich einen Schluck trinken, und als das Taxi kommt, schütte ich den Rest in die Spüle.
Alice hat den Festsaal oben im Lion Hotel gemietet. Der Saal ist riesig und elegant, mit hohen Holzfenstern und einem herrlichen Ausblick auf die Stadt. Es gibt weiße Luftballons, weiße Tischdecken und eine Band. Es gibt Caterer, die Sektgläser polieren, und Servierplatten mit teuer aussehenden Häppchen. Und weil es eine geschlossene Gesellschaft ist, verlangt niemand, dass wir unsere Ausweise vorzeigen, als Alice für uns beide ein Glas Sekt holt.
»Das ist ja sagenhaft .« Ich blicke Alice neugierig an. »Haben deine Eltern dir das alles spendiert?«
»Nein.« Alice schnaubt verächtlich. »Die könnten nicht mal ein Grillfest geben, schon gar nicht so eine Party wie die hier.« »Leben sie in Sydney?«, frage ich.
»Wer?« Sie runzelt die Stirn.
»Deine Eltern.«
»Nein. Nein, Gott sei Dank nicht. Die leben im Norden.«
Ich frage mich, wie Alice es sich leisten kann, in Sydney zu leben, wie sie ihre Miete bezahlt und das hier. Ich hatte angenommen, ihre Eltern würden sie unterstützen, aber das hier hört sich nicht so an.
»Egal«, sage ich. »Es ist supernett von dir, so eine große Party für deine Freunde zu schmeißen. Ich glaube, so großzügig wäre ich nie. Ich würde das Geld lieber für mich ausgeben. Für Reisen oder irgendwas anderes Tolles.«
»Großzügig? Findest du?« Alice zuckt die Achseln. »Finde ich eigentlich nicht. Ich liebe Partys. Besonders wenn ich die Hauptperson bin. Was Besseres kann ich mir gar nicht vorstellen. Und Reisen interessiert mich sowieso nicht.«
»Im Ernst?«
»Was soll ich in anderen Ländern? Da kenne ich kein Schwein, und kein Schwein kennt mich. Also was soll's?«
»Oh.« Ich lache und frage mich, ob sie einen Witz macht. »Mir fällt da so einiges ein. Im Mittelmeer schwimmen, den Eiffelturm sehen, die Chinesische Mauer, die Freiheitsstatue ... und kein Schwein kennen. Stell dir mal vor, wie befreiend das sein muss.« Ich merke, dass Alice mich skeptisch ansieht. »Interessierst du dich wirklich nicht fürs Reisen?«
»Nicht die Bohne. Mir gefällt's hier. Ich mag meine Freunde. Ich liebe mein Leben. Wieso sollte ich da woandershin wollen?«
»Weil -« Ich will ihr erzählen, wie ungeheuer neugierig ich auf den Rest der Welt bin, wie stark mich fremde Sprachen und Lebensarten faszinieren, die Geschichte der Menschheit, doch wir werden unterbrochen, weil die ersten Gäste kommen.
»Alice, Alice!«, rufen sie, und unversehens ist sie umringt von Leuten. Einige kenne ich von der Schule, andere sind älter, und ich habe sie noch nie gesehen. Manche sind sehr festlich gekleidet, in langen Kleidern oder Anzug und Krawatte, andere salopp in Jeans und T-Shirt. Doch eines haben sie alle miteinander gemein: Sie wollen ein Stück von Alice haben, einen Augenblick von ihrer Zeit, sie wollen im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit
stehen, sie zum Lachen bringen. Sie wollen alle von ihr gemocht werden, ohne Ausnahme.
Und Alice kümmert sich um alle. Sie schafft es, dass ihre Gäste sich rundum wohl fühlen. Aus irgendeinem Grund weicht sie mir trotzdem den ganzen Abend kaum von der Seite. Sie hakt sich immer wieder bei mir unter, führt mich von einer Gruppe zur nächsten und bezieht mich in jede Unterhaltung mit ein. Wir tanzen zusammen und lästern darüber, wie manche sich angezogen haben, mit wem sie flirten, wer wen anscheinend attraktiv findet. Ich amüsiere mich köstlich und habe so viel Spaß wie schon seit Jahren nicht mehr. Und die ganze Zeit denke ich kein einziges Mal an meine Schwester oder an meine gebrochenen Eltern. Ich tanze und lache und flirte. Ich vergesse für eine Weile die Nacht, in der ich die schreckliche Wahrheit über mich selbst erkannte. Ich vergesse die Nacht, in der ich den beschämenden, schäbigen Feigling auf dem Grund meiner Seele entdeckte.
3
Nach Alice' Party ist man an der Schule spürbar freundlicher zu mir. Schüler, die ich noch nie gesehen habe, lächeln mich auf dem Flur an oder nicken mir zu, und einige sagen sogar Hey, Katherine! Sie kennen erstaunlicherweise meinen Namen. Und in der Mittagspause setzt sich Alice neben mich und bringt mich mit Geschichten über andere Schüler zum Lachen, Klatsch und Tratsch über Leute, die ich kaum kenne. Es ist lustig, und ich freue mich richtig über ihre Gesellschaft . Ich bin froh, nicht mehr allein zu sein.
Ich denke nicht zu viel darüber nach, warum sie den Kontakt zu mir sucht. Schließlich war ich selbst auch mal beliebt und bin es gewohnt, gemocht zu werden. Alice sagt, sie will meine Freundin sein. Sie ist anscheinend gern mit mir zusammen, und sie hört bei allem, was ich sage, aufmerksam zu. Daher bin ich dankbar und geschmeichelt und erfreut. Und zum ersten Mal seit Rachels Tod empfinde ich so etwas wie Glück.
Am Donnerstag nach der Party rufe ich Alice an und lade sie für Samstagabend zu mir nach Hause ein. Ich wohne bei meiner Tante Vivien, der Schwester meines Vaters. Vivien ist warmherzig und locker, und ich wohne gern bei ihr. Ich bin froh, nicht mehr in Melbourne zu sein und die Highschool irgendwo abschließen zu können, wo niemand von Rachel und den Boydell Schwestern gehört hat. Weil Vivien oft beruflich unterwegs ist, bin ich unter der Woche viel allein, und wenn sie am Wochenende frei hat, trifft sie sich meistens mit Freunden. Sie ermuntert mich häufig, doch mal jemanden einzuladen, und findet es offenbar komisch, dass ich nie unter Leute gehe, aber ich habe mich an das Alleinsein gewöhnt und genieße es, selbst entscheiden zu können, was ich esse, was ich im Fernsehen gucke, was für Musik ich höre.
»Ich mach uns was zum Abendessen«, sage ich.
»Cool«, sagt Alice. »Ich hoffte, du kannst kochen.«
»Kann ich. Das ist eines meiner geheimen Talente.« »Geheim, hmm?« Alice schweigt einen Augenblick. »Geheimnisse hast du wohl reichlich, was?«
Ich lache, als wäre der Gedanke absurd.
Am Samstag gehe ich einkaufen. Früher, vor Rachels Tod, als wir noch eine Familie waren, habe ich oft gekocht, daher kenne ich mich aus und weiß, was ich brauche. Ich kaufe Hähnchenschenkel, Kardamom, Joghurt, Kreuzkümmel, gemahlenen Koriander und Basmatireis ein, um mein Lieblingscurry zu kochen. So kann ich alles rechtzeitig vorbereiten, bevor Alice kommt, und wenn sie da ist, kann ich es einfach weiter köcheln und noch mehr Geschmack entfalten lassen, während wir plaudern.
Ich habe mich inzwischen so daran gewöhnt, stets auf der Hut zu sein, alles für mich zu behalten und niemanden an mich heranzulassen, dass ich erstaunt bin, wie sehr ich mich auf Alice freue. Ich weiß nicht, wann oder wie der Gedanke an Freundschaft und Nähe für mich so reizvoll geworden ist, doch mit einem Mal finde ich die Vorstellung, Spaß zu haben und jemand Neues kennenzulernen, geradezu unwiderstehlich. Obwohl ich noch immer Angst davor habe, zu viel preiszugeben, und noch immer weiß, dass Freundschaft Risiken birgt, kann ich die aufgeregte Vorfreude nicht unterdrücken.
Zu Hause angekommen, bereite ich das Curry zu, dann dusche ich und ziehe mich an. Ich habe noch eine Stunde Zeit, bis Alice eintrifft, also rufe ich meine Eltern an. Mum und Dad und ich sind vor gut einem Jahr aus Melbourne weggezogen. Dort kannten uns zu viele Leute, und alle wussten, was mit Rachel passiert war. Irgendwann wurden uns die mitleidigen oder neugierigen Blicke und die unüberhörbaren Tuscheleien zu viel, die uns überall begleiteten. Ich bin zu Vivien gezogen, um an der Drummond High, einer der größten Highschools in New South Wales, die Schule zu Ende zu bringen. Sie ist so groß, dass ich hier gut für mich bleiben kann, anonym. Meine Eltern haben zwei Fahrtstunden weiter nördlich ein Haus, in Newcastle, nicht weit vom Strand. Sie wollten mich natürlich mitnehmen und sagten, ich sei noch zu jung, um von zu Hause auszuziehen. Aber ich finde ihre Traurigkeit immer unerträglicher und ihre Gegenwart geradezu erstickend. Schließlich konnte ich sie davon überzeugen, dass die Drummond High genau die richtige Schule für mich ist, ja, dass mein Glück davon abhängt, dorthin zu gehen. Allein.
»Boydell«, meldet sich meine Mutter am Telefon. Ich habe meinen Nachnamen abgelegt, als ich wegzog, und benutze jetzt den Mädchennamen meiner Großmutter, Patterson. Es war verblüffend leicht, mich von meinem alten Namen zu trennen. Es ist so leicht, ein neuer Mensch zu werden, zumindest auf dem Papier. Manchmal vermisse ich meinen alten Namen. Aber er gehört zu meinem alten Ich, dem glücklichen, sorglosen, geselligen Ich. Katherine Patterson passt zu der neuen, stilleren Version. Katie Boydell gibt es nicht mehr. Rachel und Katie Boydell, die berüchtigten Boydell-Schwestern. Sie sind beide tot.
»Mum.«
»Schätzchen. Ich wollte dich gerade anrufen. Daddy und ich haben über dein Auto gesprochen.«
»Aha?«
»Ja. Jetzt widersprich nicht gleich, Kleines, bitte. Aber wir haben beschlossen, dir ein neues zu kaufen. Die modernen sind viel sicherer, mit Airbags und so weiter. Wir haben das Geld, und wir finden es einfach albern, dich in dieser alten Klapperkiste rum fahren zu lassen.«
»Der Wagen ist erst acht Jahre alt, Mum.« Ich fahre ihren Volvo, was für jemanden in meinem Alter immerhin schon ein sehr neues und vernünftiges Auto ist.
Sie redet weiter, als hätte sie mich gar nicht gehört. »Und wir haben da so einen hübschen Peugeot gefunden. Der ist schön kompakt, ein richtig süßes Auto, wirklich, aber das Allerbeste ist, er hat bei sämtlichen Sicherheitstests erstaunlich gut abgeschnitten. Er wäre ideal für dich in der Stadt.«
Es hat keinen Sinn, dagegen zu reden, ich will sie nicht aufregen oder unnötig Theater machen. Seit Rachels Tod sind meine Eltern geradezu besessen davon, für meine Sicherheit zu sorgen, alles Menschenmögliche zu tun, damit ich am Leben bleibe, und ich habe keine andere Wahl, als ihre Geschenke und ihre Fürsorge zu akzeptieren.
»Klingt toll, Mum«, sage ich. »Danke.«
»Was macht die Schule? Sind deine Noten etwas besser geworden?«
»Ja«, lüge ich. »Viel besser.«
»Ich hab was über das Medizinstudium an der Uni hier in Newcastle gelesen. Die Fakultät ist ziemlich fortschrittlich, weißt du, und hat genauso einen guten Ruf wie die in Sydney. Ja, ich glaube sogar, sie ist ziemlich angesagt. Und unter den Dozenten sind hervorragende Ärzte. Bitte, denk wenigstens drüber nach, Schätzchen. Mir zuliebe. Wohnen könntest du bei uns. Du weißt, wie sehr Daddy sich darüber freuen würde, und du könntest dich voll und ganz auf dein Studium konzentrieren, ohne dir Gedanken über die Miete oder über Rechnungen oder das Essen machen zu müssen. Wir könnten uns um dich kümmern und dir alles erleichtern.«
»Ich weiß nicht, Mum, ich weiß nicht. Im Augenblick mag ich am liebsten englische Literatur, und auch Geschichte, überhaupt Lesen ... Naturwissenschaften liegen mir nicht so ... jedenfalls, ich dachte, ich studiere vielleicht irgendwas mit Geisteswissenschaften oder so. Und, Mum, ich lebe total gern in Sydney, wirklich.«
»Oh, natürlich, klar. Bei Vivien zu wohnen, ist ja auch ideal, und ich weiß, sie freut sich riesig, wenn du bleibst. Und ein geisteswissenschaftliches Studium ist ein wunderbarer Anfang. Aber eben nur ein Anfang, bis zum Bachelor, Schätzchen. Du wirst wieder nach vorne schauen müssen. Irgendwann. Wenn du so weit bist.«
Nach vorne schauen. Wenn du so weit bist. Konkreter geht Mom nie darauf ein, was mit Rachel passiert ist, was wir verloren haben, welches Leben wir führten, bevor sie starb. Ich war in der Zehnten und sehr gut in der Schule - die Beste meines Jahrgangs. Ich hatte gehofft, zwei Jahre später einen so guten Abschluss zu machen, dass ich Medizin studieren könnte. Ich wollte Gynäkologin werden, ich hatte alles genau geplant. Doch als Rachel starb, lösten sich meine Pläne in Luft auf. Ihr Tod warf mich völlig aus der Bahn. Mir war, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen, als befände ich mich im freien Fall.
Und in dieser furchtbaren Zeit stellte ich fest, dass Naturwissenschaften und Mathematik, das ganze konkrete Zeugs, für das ich mich so begeistert hatte, völlig nutzlos war, wenn es darum ging, Trauer zu begreifen und mit Schuld fertig zu werden.
Jetzt kann ich mir nicht vorstellen, je wieder zu meinem alten Leben und meinen alten Vorlieben zurückzufinden. Ich habe inzwischen einen anderen Kurs eingeschlagen, nehme ganz, ganz langsam wieder Fahrt auf, und ich glaube nicht, ihn noch einmal ändern zu können oder es auch nur zu wollen.
»Ich denke drüber nach.«
»Gut. Ich schicke dir ein paar Broschüren.« Dann lacht sie, doch ich höre das leise Beben in ihrer Stimme. Ein Zeichen dafür, dass ihr durch unser Gespräch zum Weinen zumute ist. »Ich hab inzwischen einen ordentlichen Stapel gesammelt.«
Ich berühre die Sprechmuschel, als könnte ich ihr dadurch etwas Trost spenden. Obwohl sie doch untröstlich ist. Sie lebt ihr Leben nur in graduell unterschiedlichen Schmerzstufen.
»Das kann ich mir vorstellen«, sage ich, so herzlich wie möglich.
»Oh.« Ihre Stimme ist jetzt wieder resolut und geschäftsmäßig, sämtliche Emotionen sind unter Kontrolle. »Entschuldige, du denkst sicher, ich nehme dich hier in Beschlag, wo du doch bestimmt auch noch mit Daddy sprechen willst, nicht? Er ist gerade nicht da, Schätzchen, aber ich sag ihm, er soll dich später anrufen.«
»Schon gut. Ich krieg Besuch von einer Freundin. Ich melde mich dann morgen nochmal.«
»Oh, ich bin so froh, dass du Spaß hast.« Wieder höre ich das Beben, dann ein rasches Husten, um ihre Stimme wieder in den Griff zu bekommen. »Mach dir einen schönen Abend. Ich sag Daddy, er soll dich morgen anrufen. Ruf du nicht an. Wir sind wieder dran mit Zahlen.«
Als ich auflege, fühle ich mich leer, meine ganze Vorfreude auf den Abend ist verflogen. Ich hätte nicht anrufen sollen. Es hat mich nicht froh gemacht, und ich bin sicher, dass Mum sich jetzt nur noch elender fühlt. Es ist in letzter Zeit ständig so mit ihr. Sie redet immerzu, plant immerzu, ist immerzu voller Ideen und pragmatischer Themen. Sie kann es nicht ertragen, still zu sein oder sich einen Augenblick Ruhe zu gönnen. Auf diese
Weise lässt sie sich keinen Platz für Erinnerungen, keinen Raum für Gedanken an das, was sie verloren hat. Und sie macht es auch ihrem Gegenüber unmöglich, zu Wort zu kommen, über etwas zu reden, worüber sie nicht reden will, oder Rachel auch nur zu erwähnen.
Die moderne Art der Trauer, die angeblich richtige Art, ist die, über den Verlust zu reden, zu weinen, zu toben und zu wehklagen. Mein Therapeut hat gesagt, wir müssen reden. Und in jenem endlos langen Jahr, nachdem Rachel getötet worden war, habe ich versucht, über das Geschehene zu reden, meine Traurigkeit zum Ausdruck zu bringen, unseren Verlust in Worte zu fassen, mich meiner Verzweiflung zu stellen. Aber Dad weigerte sich zuzuhören, und Mum fiel mir ins Wort, wechselte das Thema, und wenn ich nicht locker ließ, fing sie an zu weinen und verließ den Raum.
Also gab ich auf. Ich hatte das Gefühl, sie zu quälen, und ich hatte mich irgendwann selbst gründlich satt, mich und meine Bedürftigkeit. Indem ich darüber redete, hatte ich mir Absolution erhofft, die Beruhigung, dass Mum und Dad mir keine Schuld gaben. Aber ich hatte das Unmögliche verlangt, wie ich irgendwann begriff. Natürlich gaben sie mir die Schuld. Weil ich feige gewesen war, weil ich geflohen war, weil ich gelogen hatte. Wenn schon eine ihrer Töchter sterben musste, dann hätte es mich treffen sollen.
Und ich glaube nicht mehr daran, dass es eine sichere Methode gibt, mit dem Verlust eines geliebten Menschen fertig zu werden. Es gibt einfach nur diesen gigantischen Schmerz, eine ständige und furchtbare Last, die man mit sich rumschleppt, und sie verschwindet nicht und wird auch nicht leichter, wenn man darüber redet. Rachel starb auf die grässlichste Weise, die man sich nur vorstellen kann. Gegen diese brutale Wahrheit sind alle Worte machtlos. Rachel ist tot. Sie ist für immer fort, und wir werden nie wieder ihr hübsches Gesicht sehen, nie wieder ihre Musik hören. Sie ist tot.
Wieso wir das Bedürfnis verspüren sollten, uns in dieser Realität zu suhlen, alles wieder und wieder durchzukauen, darin herumzuwühlen und es uns anzusehen, bis uns die Augen bluten, bis das Entsetzen und die unfassbare Traurigkeit uns das Herz zermalmen, ist mir unbegreiflich. Das kann unmöglich helfen. Nichts kann helfen. Wenn Mum es nötig hat, stoisch zu sein, so zu tun, als gehe es ihr gut, ihre Verzweiflung hinter einem durchsichtigen Schleier aus forschem Tatendrang und sachlichem Plauderton zu verbergen, dann soll es mir recht sein. Es ist eine Art, um mit ihrem beschädigten Leben weiterzumachen, nicht besser und nicht schlechter als alle anderen.
Ich drücke den Zeigefinger auf die kleine kreisrunde Narbe über meinem Knie. Sie ist mein einziger greif arer Beweis für die Nacht, in der Rachel getötet wurde, die einzige körperliche Verletzung, die ich erlitten habe. An jenem grauenhaften Tag in Melbourne starb das falsche Mädchen. Und obwohl ich mir nicht wirklich wünschen kann, statt Rachel gestorben zu sein, denn ich habe nun mal nicht das Zeug zur Märtyrerin, ist mir absolut bewusst, dass die bessere Schwester gestorben ist.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
Übersetzung: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Ich war nicht auf Alice' Beerdigung. Ich war damals schwanger. Wahnsinnig und rasend vor Trauer. Aber ich trauerte nicht um Alice. Nein. Da hasste ich Alice schon und war froh, dass sie tot war. Denn Alice hatte mir das angetan, Alice hatte mein Leben zerstört, mir das Beste genommen, was ich je hatte, und es in Millionen Scherben zerschlagen. Ich weinte nicht um Alice, sondern wegen Alice.
Erst jetzt, vier Jahre später und eine Ewigkeit glücklicher, endlich angekommen in einem geborgenen und ruhigen Leben mit meiner Tochter Sarah (meiner süßen, ach so ernsten kleinen Sarah), wünsche ich manchmal, ich wäre doch zu Alice' Beerdigung gegangen.
Weil ich Alice nämlich überall sehe - im Supermarkt, am Eingang von Sarahs Kindergarten, in dem Club, wo Sarah und ich manchmal preiswert essen. Da sehe ich plötzlich aus den Augenwinkeln Alice' glänzendes weizenblondes Haar, ihre Modelfigur, ihre auffälligen Klamotten, und ich bleibe mit pochendem Herzen stehen und starre. Es dauert nicht lange, dann fällt mir wieder ein, dass sie tot und begraben ist, dass sie es unmöglich sein kann, aber dennoch muss ich mich zwingen, näher ranzugehen und mich zu vergewissern, dass ihr Geist mich nicht verfolgt. Von nahem sehen diese Frauen Alice manchmal ähnlich, aber sie sind nie, niemals so schön wie sie. Oft haben sie, aus der Nähe betrachtet, nicht mal die geringste Ähnlichkeit mit ihr.
Dann wende ich mich ab und mache weiter mit dem, was ich zuvor getan habe, aber alle Wärme ist mir aus Gesicht und Lippen gewichen, und der Adrenalinstoß lässt meine Fingerspitzen unangenehm kribbeln. Mein Tag ist unweigerlich ruiniert.
Ich hätte zu ihrer Beerdigung gehen sollen. Ich hätte nicht weinen oder Trauer heucheln müssen. Ich hätte verbittert lachen und in die Grube spucken können. Wen hätte das gekümmert? Wenn ich nur gesehen hätte, wie sie ihren Sarg hinab ließen, wenn ich zugeschaut hätte, wie sie die Erde darauf warfen, dann wäre ich mir jetzt sicherer, dass sie wirklich tot und begraben ist.
Und ich wüsste tief in meinem Inneren, dass Alice für immer fort ist.
1
Hast du Lust zu kommen?« Alice Parrie lächelt zu mir herunter. Es ist Mittagspause, ich sitze unter einem Baum, allein, und lese ein Buch.
»Hä?« Ich schirme die Augen ab und sehe hoch. »Wohin kommen?«
Alice reicht mir ein Blatt Papier.
Ich nehme es und werfe einen Blick darauf. Es ist die knallbunte Fotokopie einer Einladung zu Alice' 18. Geburtstag. Kommt alle!! Bringt eure Freunde mit!! steht da. Sekt gratis! Essen gratis! Nur jemand, der so beliebt und selbstbewusst ist wie Alice Parrie, kann eine derartige Einladung verteilen. Jeder Normalsterbliche würde wirken, als bettelte er um Gäste. Wieso ich?, frage ich mich. Ich kenne Alice, jeder kennt sie, aber ich habe bisher noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Sie ist etwas Besonderes - schön, beliebt, unübersehbar.
Ich falte die Einladung in der Mitte und nicke. »Ich versuch's. Klingt gut«, lüge ich.
Alice schaut mich ein paar Sekunden lang unverwandt an. Dann seufzt sie und lässt sich neben mir auf den Rasen plumpsen, so nah, dass eins ihrer Knie schwer gegen meines drückt.
»Du kommst nicht.« Sie grinst.
Ich spüre, wie meine Wangen rot werden. Obwohl mir mein ganzes Leben manchmal vorkommt wie eine Fassade, wie eine Mauer aus Geheimnissen, bin ich keine gute Lügnerin. Ich blicke nach unten auf meinen Schoß. »Wahrscheinlich nicht.«
»Aber du musst kommen, Katherine«, sagt sie. »Das wär mir wirklich total wichtig.«
Ich bin erstaunt, dass Alice überhaupt meinen Namen kennt, aber noch erstaunlicher - ja, geradezu unglaublich - ist, dass sie mich auf ihrer Party dabeihaben will. An der Drummond High School kennt mich praktisch keiner, und ich bin mit niemandem befreundet. Ich komme und gehe unauffällig, allein, und lerne vor mich hin. Ich versuche, möglichst keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich komme ganz gut klar, aber meine Noten sind nicht berauschend. Ich bin in keiner Schulsportmannschaft¬ , in keiner AG. Und obwohl ich weiß, dass ich nicht immer so weitermachen, nicht ewig ein Schattendasein führen kann, ist es vorläuf g richtig so für mich. Ich verstecke mich, das weiß ich, ich verhalte mich feige, aber im Augenblick muss ich unscheinbar sein, langweilig. Damit keiner erfährt, wer ich wirklich bin oder was passiert ist.
Ich klappe das Buch zu und fange an, meinen Lunch wegzupacken.
»Moment.« Alice legt eine Hand auf mein Knie. Ich blicke sie so kalt an, wie ich kann, und sie zieht sie wieder zurück. »Ich meine es ernst. Ich möchte wirklich, dass du kommst. Und ich finde es super, was du letzte Woche zu Dan gesagt hast. Ich wäre echt froh, wenn mir auch mal so was einfallen würde, aber so schlagfertig bin ich einfach nicht. Und ehrlich, ich hätte nie im Leben dran gedacht, wie das für die Frau gewesen sein muss. Das ist mir erst klargeworden, als ich mitgekriegt habe, wie du Dan zur Schnecke gemacht hast. Ich meine, du warst toll, was du gesagt hast, war total richtig. Du hast ihn als den Idioten bloßgestellt, der er ist.«
Ich weiß sofort, wovon Alice spricht - das einzige Mal, wo ich nicht aufgepasst, mich einen Augenblick lang vergessen habe. Ich lege mich nicht mehr mit anderen an. Im Gegenteil, ich gebe mir alle Mühe, das in meinem täglichen Leben zu vermeiden. Aber das Benehmen von Dan Johnson und seinen Freunden vor einer Woche fand ich derart widerlich, dass ich mich nicht mehr beherrschen konnte.
Unsere Schule hatte eine Berufsberaterin eingeladen, die uns etwas über unsere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und über die Zulassungsbedingungen für die Uni erzählen sollte. Zugegeben, der Vortrag war langweilig, wir hatten das alles schon zigmal gehört, und die Frau war nervös, stotterte herum und redete konfuses Zeug. Je lauter und unruhiger ihre Zuhörer wurden, desto mehr geriet sie aus dem Konzept. Aber Dan Johnson und seine fiese Clique nutzten das aus. Sie führten sich dermaßen gemein und respektlos auf, dass die Frau schließlich in Tränen ausbrach und gedemütigt das Weite suchte. Nach der Veranstaltung tippte ich Dan im Flur von hinten auf die Schulter.
Dan drehte sich mit einem blasierten, selbstgefälligen Gesichtsausdruck um. Er erwartete offensichtlich Bewunderung für sein Benehmen.
»Ist dir eigentlich klar«, begann ich mit überraschend lauter, zorniger Stimme, »wie sehr du diese Frau verletzt hast? Das ist ihr Leben, Daniel, ihr Beruf, ihr berufliches Ansehen. Mit deinem erbärmlichen Schrei nach Aufmerksamkeit hast du sie zutiefst gedemütigt. Du tust mir leid, Daniel, du musst dich schon verdammt traurig und winzig fühlen, wenn du das Bedürfnis hast, jemanden so niederzumachen, jemanden, den du nicht mal kennst.«
»Du warst super«, fährt Alice fort. »Und ich war ehrlich gesagt total überrascht. Echt, ich glaube, alle waren das. Niemand redet so mit Dan.« Sie schüttelt den Kopf. »Niemand.«
Tja, ich schon, denke ich bei mir. Zumindest mein wahres Ich.
»Es war großartig. Mutig.«
Und das Wort gibt schließlich den Ausschlag. »Mutig.« Ich wäre so furchtbar gern mutig. Ich möchte den Feigling in mir so wahnsinnig gern auslöschen und zerquetschen und vernichten, dass ich Alice nicht länger widerstehen kann.
Ich stehe auf und hänge mir meine Tasche über die Schulter. »Okay«, sage ich zu meiner eigenen Verblüffung - »okay, ich komme.«
2
Alice besteht darauf, dass wir uns gemeinsam für die Party hübsch machen. Als der große Tag gekommen ist, holt sie mich am frühen Nachmittag mit ihrem klapprigen alten VW ab, und wir fahren zu ihr nach Hause. Sie wechselt ständig die Spur und fährt viel schneller, als es einer Anfängerin mit Führerschein auf Probe erlaubt ist, und dabei erzählt sie mir, dass sie allein lebt, in einer Einzimmerwohnung in der Innenstadt. Das überrascht mich, es erstaunt mich sogar. Ich hätte gedacht, dass jemand wie Alice in einem schicken Haus in einer Vorortsiedlung bei ihren treusorgenden Eltern wohnt. Ich hätte gedacht, dass sie verwöhnt, umhegt, verhätschelt wird (genau wie ich früher), und die Tatsache, dass sie allein lebt, macht sie plötzlich irgendwie interessanter. Sie ist offenbar komplexer, als ich ihr zugetraut hätte. Alice und ich haben mehr gemeinsam, als ich dachte.
Ich möchte ihr tausend Fragen stellen - Wo sind ihre Eltern? Wie kann sie sich eine Wohnung leisten? Hat sie je Angst? Ist sie einsam? -, aber ich halte mich zurück. Ich habe selbst Geheimnisse, und ich habe gelernt, dass ich, wenn ich Fragen stelle, nur Gefahr laufe, selbst ausgefragt zu werden. Es ist sicherer, bei anderen nicht zu neugierig zu sein, sicherer, nichts zu fragen.
Ihre Wohnung liegt in einem spießigen, durchschnittlich aussehenden Mietsblock. Das Treppenhaus ist dunkel und nicht besonders einladend, aber nachdem wir vier Etagen hoch getrabt sind und atemlos an ihrer Wohnung ankommen, öffnet sie die Tür zu einem Zimmer voller Farbe und Wärme.
Die Wände sind in einem satten dunklen Orange gestrichen und mit großen, knalligen abstrakten Bildern behängt. Burgunderrote Überwürfe und farbenfrohe Kissen im Ethno-Look verschönern zwei wuchtige, weich aussehende Sofas. Auf jeder freien Fläche stehen Kerzen.
»Voilà! Mein bescheidenes Heim.« Alice zieht mich herein und beobachtet gespannt mein Gesicht. Ich sehe mich im Raum um. »Wie findest du's? Ich hab alles selbst gemacht, weißt du. Du hättest mal sehen sollen, wie's hier aussah, als ich eingezogen bin, total öde und langweilig. Aber du glaubst nicht, wie ein bisschen Farbe einen Raum verändern kann. Eigentlich braucht man nur ein paar Ideen und einen Eimer knallige Farbe.«
»Ich find's echt cool«, sage ich. Und bin unwillkürlich ein wenig neidisch. Alice' Zimmer ist richtig abgefahren, so viel jünger als die moderne, minimalistische Wohnung, in der ich lebe.
»Ehrlich? Es gefällt dir wirklich?«
»Ja«, sage ich und lache. »Ganz ehrlich.«
»Da bin ich echt froh. Du sollst dich hier nämlich genauso wohl fühlen wie ich, weil ich vorhabe, ganz oft mit dir zusammen zu sein. Und ich kann mir richtig vorstellen, wie wir hier in diesem Zimmer ganz viel Zeit miteinander verbringen, wie wir quatschen und quatschen und quatschen und uns bis tief in die Nacht gegenseitig unsere Geheimnisse anvertrauen.«
Es heißt, charmante, beeindruckende Menschen verstünden es, einem das Gefühl zu geben, man wäre der einzige Mensch auf der Welt, und jetzt wird mir klar, was damit gemeint ist. Ich bin nicht ganz sicher, was sie da macht oder wie sie es macht - jemand anders hätte aufdringlich oder sogar unterwürfig gewirkt -, aber wenn Alice mir so vorbehaltlos ihre Aufmerksamkeit widmet, fühle ich mich kostbar, von der Gewissheit erwärmt, wirklich verstanden zu werden.
Einen kurzen, verrückten Moment lang stelle ich mir vor, wie ich ihr mein Geheimnis verrate. Ich habe alles ganz deutlich vor Augen. Alice und ich in diesem Zimmer, wir sind beide ein bisschen beschwipst, kicherig und fröhlich und ein ganz klein wenig verlegen, wie man es eben ist, wenn man das Gefühl hat, eine neue Freundin gefunden zu haben, eine besondere Freundin. Ich lege meine Hand auf ihr Knie, damit sie still und leise wird, damit sie weiß, dass ich etwas Wichtiges sagen will, und dann erzähle ich es ihr. Ich erzähle es ihr schnell, ohne zu stocken, ohne ihr in die Augen zu schauen. Und wenn ich geendet habe, ist sie warmherzig und nachsichtig und verständnisvoll, genau wie ich es mir erhofft habe. Sie umarmt mich. Alles ist gut, und ich fühle mich leichter, weil ich es erzählt habe. Ich bin endlich frei.
Aber das ist alles bloß ein Traum. Ein irres Hirngespinst. Ich erzähle ihr nichts.
Ich trage meine übliche Kluft - Jeans, Stiefel und Bluse - und habe etwas Make-up dabei, um mich für die Party an zu hübschen, doch Alice besteht darauf, dass ich ein Kleid anziehe. Ihr Schrank ist prall gefüllt mit Kleidern in allen möglichen Farben und Längen und Schnitten. Es müssen mindestens hundert sein, und an manchen hängen noch die Preisschilder. Ich frage mich, woher sie das Geld hat, wie sie sich so viele Klamotten leisten kann, und schon wieder bin ich versucht zu fragen.
»Ich hab einen kleinen Klamottenfimmel.« Sie grinst.
»Tatsache?«, witzele ich. »Wär ich nie drauf gekommen.«
Alice greift in den Schrank und fängt an, Kleider herauszuziehen. Sie wirft sie aufs Bett. »Da. Such dir eins aus. Die meisten davon hab ich noch kein einziges Mal getragen.« Sie hält ein blaues hoch. »Gefällt's dir?«
Es ist hübsch, aber ich habe mein Traumkleid bereits entdeckt. Es ist rot mit Paisleymuster, ein Wickelkleid mit Gürtel, offensichtlich aus irgendeinem Stretchmaterial. Solche Kleider hat meine Mutter in den Siebzigern getragen, und es würde gut zu den hohen Stiefeln passen, die ich anhabe.
Alice beobachtet mich. Sie lacht und greift nach dem roten Kleid. »Das hier?«
Ich nicke.
»Es ist toll, nicht?« Sie hält es vor sich und schaut in den Spiegel. »Und teuer. Es ist von Pakbelle und Kanon. Du hast einen guten Geschmack.«
»Es ist wunderschön. Warum ziehst du es nicht selbst an? Das Etikett ist noch dran, du hast es noch kein Mal getragen. Wahrscheinlich hast du's dir für einen besonderen Anlass aufgespart.«
»Nein. Ich zieh was anderes an. Etwas Besonderes.« Alice hält es vor mich. »Probier's an.«
Das Kleid sitzt perfekt und passt wirklich gut zu meinen Stiefeln. Das Rot bringt meinen dunklen Teint und die dunklen Haare zur Geltung, und ich lächle Alice glücklich im Spiegel an. Ich bin begeistert und froh, dass ich ihre Einladung angenommen habe.
Alice geht in die Küche und holt eine Flasche aus dem Kühlschrank. Es ist Sekt. Er ist rosé.
»Mhm, lecker«, sagt sie und küsst die Flasche. »Meine einzig wahre Liebe. Und hey, seit gestern bin ich volljährig.«
Sie öffnet die Flasche, lässt den Korken gegen die Decke knallen und gießt uns beiden ein Glas ein, ohne vorher zu fragen, ob ich auch was will. Sie geht mit ihrem ins Bad, um zu duschen und sich zurechtzumachen, und als sie verschwunden ist, hebe ich mein Glas und nehme einen kleinen Schluck. Seit der Nacht, in der meine Familie zerstört wurde, habe ich keinen Alkohol mehr getrunken. Nicht einen Tropfen. Aber andererseits habe
ich mich seitdem auch nicht mehr mit einer Freundin amüsiert, und so setze ich das Glas wieder an den Mund und genieße das Gefühl der perlenden Flüssigkeit an den Lippen, auf der Zunge. Ich lasse einen weiteren kleinen Schluck durch die Kehle gleiten und bilde mir ein, die Wirkung unmittelbar zu spüren, zu fühlen, wie der Alkohol mir durch die Adern strömt, meine Lippen zum Prickeln bringt, mir zu Kopf steigt. Der Sekt ist süß und süffig wie Likör, und ich muss mich zwingen, nicht alles auf einmal herunterzukippen.
Ich koste jeden Mundvoll aus und genieße es, wie sich mein Körper mit jedem Schluck mehr und mehr entspannt. Als das Glas leer ist, bin ich fröhlicher, heiterer, unbeschwerter - fast eine normale Siebzehnjährige -, und ich lasse mich auf Alice' buntes Sofa fallen und kichere einfach so ohne Grund. Und ich sitze noch immer so da, lächle, genieße die angenehme Schwere meines Körpers auf dem Sofa, als Alice wieder ins Zimmer kommt.
»Wahnsinn. Alice. Du siehst ...« Ich zucke die Achseln, finde einfach nicht das passende Wort. »Du siehst umwerfend aus!«
Sie hebt die Arme und dreht sich auf den Zehenspitzen. »Na, vielen Dank, Miss Katherine«, sagt sie.
Alice ist schön, atemberaubend schön. Sie ist groß, mit vollen Brüsten und langen, wohlgeformten Beinen, und ihr Gesicht ist ein Bild der Vollkommenheit: die Augen strahlend tief lau, die Haut golden schimmernd.
Ich bin auch nicht gerade hässlich, aber neben Alice komme ich mir total reizlos vor.
Während wir auf das Taxi warten, geht Alice mit unseren leeren Gläsern in die Küche und schenkt Sekt nach. Als ich aufstehe, um mein Glas zu holen, merke ich, dass mir leicht schwindelig wird. Es fühlt sich nicht unangenehm an - im Gegenteil, es macht mich leicht und locker und entspannt. Und plötzlich
kommt mir dieses Gefühl, diese benommene Glückseligkeit, dieser Eindruck, dass die Welt ein gütiger und freundlicher Ort ist, so furchtbar vertraut vor, und ich merke, wie sehr es mir Angst macht. Alkohol trickst deinen Verstand aus, er lässt dich unvorsichtig werden, wiegt dich in dem Glauben, dass irgendwer schon auf dich aufpassen wird - aber ich weiß, dass das nur eine gefährliche Illusion ist. Alkohol bringt dich dazu, Risiken einzugehen, die du normalerweise nicht eingehen würdest, Alkohol lässt dich dumme Entscheidungen treffen. Und ich weiß besser als jeder andere, wie verheerend die Folgen einer einzigen schlechten Entscheidung sein können. Ich lebe jeden Tag damit.
Ich nehme das Glas, tu aber nur so, als würde ich einen Schluck trinken, und als das Taxi kommt, schütte ich den Rest in die Spüle.
Alice hat den Festsaal oben im Lion Hotel gemietet. Der Saal ist riesig und elegant, mit hohen Holzfenstern und einem herrlichen Ausblick auf die Stadt. Es gibt weiße Luftballons, weiße Tischdecken und eine Band. Es gibt Caterer, die Sektgläser polieren, und Servierplatten mit teuer aussehenden Häppchen. Und weil es eine geschlossene Gesellschaft ist, verlangt niemand, dass wir unsere Ausweise vorzeigen, als Alice für uns beide ein Glas Sekt holt.
»Das ist ja sagenhaft .« Ich blicke Alice neugierig an. »Haben deine Eltern dir das alles spendiert?«
»Nein.« Alice schnaubt verächtlich. »Die könnten nicht mal ein Grillfest geben, schon gar nicht so eine Party wie die hier.« »Leben sie in Sydney?«, frage ich.
»Wer?« Sie runzelt die Stirn.
»Deine Eltern.«
»Nein. Nein, Gott sei Dank nicht. Die leben im Norden.«
Ich frage mich, wie Alice es sich leisten kann, in Sydney zu leben, wie sie ihre Miete bezahlt und das hier. Ich hatte angenommen, ihre Eltern würden sie unterstützen, aber das hier hört sich nicht so an.
»Egal«, sage ich. »Es ist supernett von dir, so eine große Party für deine Freunde zu schmeißen. Ich glaube, so großzügig wäre ich nie. Ich würde das Geld lieber für mich ausgeben. Für Reisen oder irgendwas anderes Tolles.«
»Großzügig? Findest du?« Alice zuckt die Achseln. »Finde ich eigentlich nicht. Ich liebe Partys. Besonders wenn ich die Hauptperson bin. Was Besseres kann ich mir gar nicht vorstellen. Und Reisen interessiert mich sowieso nicht.«
»Im Ernst?«
»Was soll ich in anderen Ländern? Da kenne ich kein Schwein, und kein Schwein kennt mich. Also was soll's?«
»Oh.« Ich lache und frage mich, ob sie einen Witz macht. »Mir fällt da so einiges ein. Im Mittelmeer schwimmen, den Eiffelturm sehen, die Chinesische Mauer, die Freiheitsstatue ... und kein Schwein kennen. Stell dir mal vor, wie befreiend das sein muss.« Ich merke, dass Alice mich skeptisch ansieht. »Interessierst du dich wirklich nicht fürs Reisen?«
»Nicht die Bohne. Mir gefällt's hier. Ich mag meine Freunde. Ich liebe mein Leben. Wieso sollte ich da woandershin wollen?«
»Weil -« Ich will ihr erzählen, wie ungeheuer neugierig ich auf den Rest der Welt bin, wie stark mich fremde Sprachen und Lebensarten faszinieren, die Geschichte der Menschheit, doch wir werden unterbrochen, weil die ersten Gäste kommen.
»Alice, Alice!«, rufen sie, und unversehens ist sie umringt von Leuten. Einige kenne ich von der Schule, andere sind älter, und ich habe sie noch nie gesehen. Manche sind sehr festlich gekleidet, in langen Kleidern oder Anzug und Krawatte, andere salopp in Jeans und T-Shirt. Doch eines haben sie alle miteinander gemein: Sie wollen ein Stück von Alice haben, einen Augenblick von ihrer Zeit, sie wollen im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit
stehen, sie zum Lachen bringen. Sie wollen alle von ihr gemocht werden, ohne Ausnahme.
Und Alice kümmert sich um alle. Sie schafft es, dass ihre Gäste sich rundum wohl fühlen. Aus irgendeinem Grund weicht sie mir trotzdem den ganzen Abend kaum von der Seite. Sie hakt sich immer wieder bei mir unter, führt mich von einer Gruppe zur nächsten und bezieht mich in jede Unterhaltung mit ein. Wir tanzen zusammen und lästern darüber, wie manche sich angezogen haben, mit wem sie flirten, wer wen anscheinend attraktiv findet. Ich amüsiere mich köstlich und habe so viel Spaß wie schon seit Jahren nicht mehr. Und die ganze Zeit denke ich kein einziges Mal an meine Schwester oder an meine gebrochenen Eltern. Ich tanze und lache und flirte. Ich vergesse für eine Weile die Nacht, in der ich die schreckliche Wahrheit über mich selbst erkannte. Ich vergesse die Nacht, in der ich den beschämenden, schäbigen Feigling auf dem Grund meiner Seele entdeckte.
3
Nach Alice' Party ist man an der Schule spürbar freundlicher zu mir. Schüler, die ich noch nie gesehen habe, lächeln mich auf dem Flur an oder nicken mir zu, und einige sagen sogar Hey, Katherine! Sie kennen erstaunlicherweise meinen Namen. Und in der Mittagspause setzt sich Alice neben mich und bringt mich mit Geschichten über andere Schüler zum Lachen, Klatsch und Tratsch über Leute, die ich kaum kenne. Es ist lustig, und ich freue mich richtig über ihre Gesellschaft . Ich bin froh, nicht mehr allein zu sein.
Ich denke nicht zu viel darüber nach, warum sie den Kontakt zu mir sucht. Schließlich war ich selbst auch mal beliebt und bin es gewohnt, gemocht zu werden. Alice sagt, sie will meine Freundin sein. Sie ist anscheinend gern mit mir zusammen, und sie hört bei allem, was ich sage, aufmerksam zu. Daher bin ich dankbar und geschmeichelt und erfreut. Und zum ersten Mal seit Rachels Tod empfinde ich so etwas wie Glück.
Am Donnerstag nach der Party rufe ich Alice an und lade sie für Samstagabend zu mir nach Hause ein. Ich wohne bei meiner Tante Vivien, der Schwester meines Vaters. Vivien ist warmherzig und locker, und ich wohne gern bei ihr. Ich bin froh, nicht mehr in Melbourne zu sein und die Highschool irgendwo abschließen zu können, wo niemand von Rachel und den Boydell Schwestern gehört hat. Weil Vivien oft beruflich unterwegs ist, bin ich unter der Woche viel allein, und wenn sie am Wochenende frei hat, trifft sie sich meistens mit Freunden. Sie ermuntert mich häufig, doch mal jemanden einzuladen, und findet es offenbar komisch, dass ich nie unter Leute gehe, aber ich habe mich an das Alleinsein gewöhnt und genieße es, selbst entscheiden zu können, was ich esse, was ich im Fernsehen gucke, was für Musik ich höre.
»Ich mach uns was zum Abendessen«, sage ich.
»Cool«, sagt Alice. »Ich hoffte, du kannst kochen.«
»Kann ich. Das ist eines meiner geheimen Talente.« »Geheim, hmm?« Alice schweigt einen Augenblick. »Geheimnisse hast du wohl reichlich, was?«
Ich lache, als wäre der Gedanke absurd.
Am Samstag gehe ich einkaufen. Früher, vor Rachels Tod, als wir noch eine Familie waren, habe ich oft gekocht, daher kenne ich mich aus und weiß, was ich brauche. Ich kaufe Hähnchenschenkel, Kardamom, Joghurt, Kreuzkümmel, gemahlenen Koriander und Basmatireis ein, um mein Lieblingscurry zu kochen. So kann ich alles rechtzeitig vorbereiten, bevor Alice kommt, und wenn sie da ist, kann ich es einfach weiter köcheln und noch mehr Geschmack entfalten lassen, während wir plaudern.
Ich habe mich inzwischen so daran gewöhnt, stets auf der Hut zu sein, alles für mich zu behalten und niemanden an mich heranzulassen, dass ich erstaunt bin, wie sehr ich mich auf Alice freue. Ich weiß nicht, wann oder wie der Gedanke an Freundschaft und Nähe für mich so reizvoll geworden ist, doch mit einem Mal finde ich die Vorstellung, Spaß zu haben und jemand Neues kennenzulernen, geradezu unwiderstehlich. Obwohl ich noch immer Angst davor habe, zu viel preiszugeben, und noch immer weiß, dass Freundschaft Risiken birgt, kann ich die aufgeregte Vorfreude nicht unterdrücken.
Zu Hause angekommen, bereite ich das Curry zu, dann dusche ich und ziehe mich an. Ich habe noch eine Stunde Zeit, bis Alice eintrifft, also rufe ich meine Eltern an. Mum und Dad und ich sind vor gut einem Jahr aus Melbourne weggezogen. Dort kannten uns zu viele Leute, und alle wussten, was mit Rachel passiert war. Irgendwann wurden uns die mitleidigen oder neugierigen Blicke und die unüberhörbaren Tuscheleien zu viel, die uns überall begleiteten. Ich bin zu Vivien gezogen, um an der Drummond High, einer der größten Highschools in New South Wales, die Schule zu Ende zu bringen. Sie ist so groß, dass ich hier gut für mich bleiben kann, anonym. Meine Eltern haben zwei Fahrtstunden weiter nördlich ein Haus, in Newcastle, nicht weit vom Strand. Sie wollten mich natürlich mitnehmen und sagten, ich sei noch zu jung, um von zu Hause auszuziehen. Aber ich finde ihre Traurigkeit immer unerträglicher und ihre Gegenwart geradezu erstickend. Schließlich konnte ich sie davon überzeugen, dass die Drummond High genau die richtige Schule für mich ist, ja, dass mein Glück davon abhängt, dorthin zu gehen. Allein.
»Boydell«, meldet sich meine Mutter am Telefon. Ich habe meinen Nachnamen abgelegt, als ich wegzog, und benutze jetzt den Mädchennamen meiner Großmutter, Patterson. Es war verblüffend leicht, mich von meinem alten Namen zu trennen. Es ist so leicht, ein neuer Mensch zu werden, zumindest auf dem Papier. Manchmal vermisse ich meinen alten Namen. Aber er gehört zu meinem alten Ich, dem glücklichen, sorglosen, geselligen Ich. Katherine Patterson passt zu der neuen, stilleren Version. Katie Boydell gibt es nicht mehr. Rachel und Katie Boydell, die berüchtigten Boydell-Schwestern. Sie sind beide tot.
»Mum.«
»Schätzchen. Ich wollte dich gerade anrufen. Daddy und ich haben über dein Auto gesprochen.«
»Aha?«
»Ja. Jetzt widersprich nicht gleich, Kleines, bitte. Aber wir haben beschlossen, dir ein neues zu kaufen. Die modernen sind viel sicherer, mit Airbags und so weiter. Wir haben das Geld, und wir finden es einfach albern, dich in dieser alten Klapperkiste rum fahren zu lassen.«
»Der Wagen ist erst acht Jahre alt, Mum.« Ich fahre ihren Volvo, was für jemanden in meinem Alter immerhin schon ein sehr neues und vernünftiges Auto ist.
Sie redet weiter, als hätte sie mich gar nicht gehört. »Und wir haben da so einen hübschen Peugeot gefunden. Der ist schön kompakt, ein richtig süßes Auto, wirklich, aber das Allerbeste ist, er hat bei sämtlichen Sicherheitstests erstaunlich gut abgeschnitten. Er wäre ideal für dich in der Stadt.«
Es hat keinen Sinn, dagegen zu reden, ich will sie nicht aufregen oder unnötig Theater machen. Seit Rachels Tod sind meine Eltern geradezu besessen davon, für meine Sicherheit zu sorgen, alles Menschenmögliche zu tun, damit ich am Leben bleibe, und ich habe keine andere Wahl, als ihre Geschenke und ihre Fürsorge zu akzeptieren.
»Klingt toll, Mum«, sage ich. »Danke.«
»Was macht die Schule? Sind deine Noten etwas besser geworden?«
»Ja«, lüge ich. »Viel besser.«
»Ich hab was über das Medizinstudium an der Uni hier in Newcastle gelesen. Die Fakultät ist ziemlich fortschrittlich, weißt du, und hat genauso einen guten Ruf wie die in Sydney. Ja, ich glaube sogar, sie ist ziemlich angesagt. Und unter den Dozenten sind hervorragende Ärzte. Bitte, denk wenigstens drüber nach, Schätzchen. Mir zuliebe. Wohnen könntest du bei uns. Du weißt, wie sehr Daddy sich darüber freuen würde, und du könntest dich voll und ganz auf dein Studium konzentrieren, ohne dir Gedanken über die Miete oder über Rechnungen oder das Essen machen zu müssen. Wir könnten uns um dich kümmern und dir alles erleichtern.«
»Ich weiß nicht, Mum, ich weiß nicht. Im Augenblick mag ich am liebsten englische Literatur, und auch Geschichte, überhaupt Lesen ... Naturwissenschaften liegen mir nicht so ... jedenfalls, ich dachte, ich studiere vielleicht irgendwas mit Geisteswissenschaften oder so. Und, Mum, ich lebe total gern in Sydney, wirklich.«
»Oh, natürlich, klar. Bei Vivien zu wohnen, ist ja auch ideal, und ich weiß, sie freut sich riesig, wenn du bleibst. Und ein geisteswissenschaftliches Studium ist ein wunderbarer Anfang. Aber eben nur ein Anfang, bis zum Bachelor, Schätzchen. Du wirst wieder nach vorne schauen müssen. Irgendwann. Wenn du so weit bist.«
Nach vorne schauen. Wenn du so weit bist. Konkreter geht Mom nie darauf ein, was mit Rachel passiert ist, was wir verloren haben, welches Leben wir führten, bevor sie starb. Ich war in der Zehnten und sehr gut in der Schule - die Beste meines Jahrgangs. Ich hatte gehofft, zwei Jahre später einen so guten Abschluss zu machen, dass ich Medizin studieren könnte. Ich wollte Gynäkologin werden, ich hatte alles genau geplant. Doch als Rachel starb, lösten sich meine Pläne in Luft auf. Ihr Tod warf mich völlig aus der Bahn. Mir war, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen, als befände ich mich im freien Fall.
Und in dieser furchtbaren Zeit stellte ich fest, dass Naturwissenschaften und Mathematik, das ganze konkrete Zeugs, für das ich mich so begeistert hatte, völlig nutzlos war, wenn es darum ging, Trauer zu begreifen und mit Schuld fertig zu werden.
Jetzt kann ich mir nicht vorstellen, je wieder zu meinem alten Leben und meinen alten Vorlieben zurückzufinden. Ich habe inzwischen einen anderen Kurs eingeschlagen, nehme ganz, ganz langsam wieder Fahrt auf, und ich glaube nicht, ihn noch einmal ändern zu können oder es auch nur zu wollen.
»Ich denke drüber nach.«
»Gut. Ich schicke dir ein paar Broschüren.« Dann lacht sie, doch ich höre das leise Beben in ihrer Stimme. Ein Zeichen dafür, dass ihr durch unser Gespräch zum Weinen zumute ist. »Ich hab inzwischen einen ordentlichen Stapel gesammelt.«
Ich berühre die Sprechmuschel, als könnte ich ihr dadurch etwas Trost spenden. Obwohl sie doch untröstlich ist. Sie lebt ihr Leben nur in graduell unterschiedlichen Schmerzstufen.
»Das kann ich mir vorstellen«, sage ich, so herzlich wie möglich.
»Oh.« Ihre Stimme ist jetzt wieder resolut und geschäftsmäßig, sämtliche Emotionen sind unter Kontrolle. »Entschuldige, du denkst sicher, ich nehme dich hier in Beschlag, wo du doch bestimmt auch noch mit Daddy sprechen willst, nicht? Er ist gerade nicht da, Schätzchen, aber ich sag ihm, er soll dich später anrufen.«
»Schon gut. Ich krieg Besuch von einer Freundin. Ich melde mich dann morgen nochmal.«
»Oh, ich bin so froh, dass du Spaß hast.« Wieder höre ich das Beben, dann ein rasches Husten, um ihre Stimme wieder in den Griff zu bekommen. »Mach dir einen schönen Abend. Ich sag Daddy, er soll dich morgen anrufen. Ruf du nicht an. Wir sind wieder dran mit Zahlen.«
Als ich auflege, fühle ich mich leer, meine ganze Vorfreude auf den Abend ist verflogen. Ich hätte nicht anrufen sollen. Es hat mich nicht froh gemacht, und ich bin sicher, dass Mum sich jetzt nur noch elender fühlt. Es ist in letzter Zeit ständig so mit ihr. Sie redet immerzu, plant immerzu, ist immerzu voller Ideen und pragmatischer Themen. Sie kann es nicht ertragen, still zu sein oder sich einen Augenblick Ruhe zu gönnen. Auf diese
Weise lässt sie sich keinen Platz für Erinnerungen, keinen Raum für Gedanken an das, was sie verloren hat. Und sie macht es auch ihrem Gegenüber unmöglich, zu Wort zu kommen, über etwas zu reden, worüber sie nicht reden will, oder Rachel auch nur zu erwähnen.
Die moderne Art der Trauer, die angeblich richtige Art, ist die, über den Verlust zu reden, zu weinen, zu toben und zu wehklagen. Mein Therapeut hat gesagt, wir müssen reden. Und in jenem endlos langen Jahr, nachdem Rachel getötet worden war, habe ich versucht, über das Geschehene zu reden, meine Traurigkeit zum Ausdruck zu bringen, unseren Verlust in Worte zu fassen, mich meiner Verzweiflung zu stellen. Aber Dad weigerte sich zuzuhören, und Mum fiel mir ins Wort, wechselte das Thema, und wenn ich nicht locker ließ, fing sie an zu weinen und verließ den Raum.
Also gab ich auf. Ich hatte das Gefühl, sie zu quälen, und ich hatte mich irgendwann selbst gründlich satt, mich und meine Bedürftigkeit. Indem ich darüber redete, hatte ich mir Absolution erhofft, die Beruhigung, dass Mum und Dad mir keine Schuld gaben. Aber ich hatte das Unmögliche verlangt, wie ich irgendwann begriff. Natürlich gaben sie mir die Schuld. Weil ich feige gewesen war, weil ich geflohen war, weil ich gelogen hatte. Wenn schon eine ihrer Töchter sterben musste, dann hätte es mich treffen sollen.
Und ich glaube nicht mehr daran, dass es eine sichere Methode gibt, mit dem Verlust eines geliebten Menschen fertig zu werden. Es gibt einfach nur diesen gigantischen Schmerz, eine ständige und furchtbare Last, die man mit sich rumschleppt, und sie verschwindet nicht und wird auch nicht leichter, wenn man darüber redet. Rachel starb auf die grässlichste Weise, die man sich nur vorstellen kann. Gegen diese brutale Wahrheit sind alle Worte machtlos. Rachel ist tot. Sie ist für immer fort, und wir werden nie wieder ihr hübsches Gesicht sehen, nie wieder ihre Musik hören. Sie ist tot.
Wieso wir das Bedürfnis verspüren sollten, uns in dieser Realität zu suhlen, alles wieder und wieder durchzukauen, darin herumzuwühlen und es uns anzusehen, bis uns die Augen bluten, bis das Entsetzen und die unfassbare Traurigkeit uns das Herz zermalmen, ist mir unbegreiflich. Das kann unmöglich helfen. Nichts kann helfen. Wenn Mum es nötig hat, stoisch zu sein, so zu tun, als gehe es ihr gut, ihre Verzweiflung hinter einem durchsichtigen Schleier aus forschem Tatendrang und sachlichem Plauderton zu verbergen, dann soll es mir recht sein. Es ist eine Art, um mit ihrem beschädigten Leben weiterzumachen, nicht besser und nicht schlechter als alle anderen.
Ich drücke den Zeigefinger auf die kleine kreisrunde Narbe über meinem Knie. Sie ist mein einziger greif arer Beweis für die Nacht, in der Rachel getötet wurde, die einzige körperliche Verletzung, die ich erlitten habe. An jenem grauenhaften Tag in Melbourne starb das falsche Mädchen. Und obwohl ich mir nicht wirklich wünschen kann, statt Rachel gestorben zu sein, denn ich habe nun mal nicht das Zeug zur Märtyrerin, ist mir absolut bewusst, dass die bessere Schwester gestorben ist.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
Übersetzung: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
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Autoren-Porträt von Rebecca James
„Wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her." Und wer denkt, so etwas passiert nur im Märchen, der liegt falsch. Denn genau so war es bei Rebecca James, Autorin des Thrillers „Die Wahrheit über Alice" („Beautiful Malice"). Aber der Reihe nach: Die 1970 geborene Australierin schlug sich beruflich lange mehr schlecht als recht durch, studierte, brach das Studium ab, jobbte als Kellnerin, lebte längere Zeit in Japan und Indonesien. In Australien wurde sie sesshaft, heiratete und bekam vier Söhne. Zusammen mit ihrem Mann baute sie in der Nähe von Sydney ein Küchendesigngeschäft auf. Nebenbei, wann immer es ihre Zeit erlaubte, schrieb Rebecca James. Doch dann erkrankte ihr Mann und konnte lange nicht mehr in der Firma mitarbeiten - das Unternehmen stand vor dem Ruin. Familie James musste Konkurs anmelden und es schien alles so, als ob die Zeiten nun hart und beschwerlich werden würden. Doch alles kam ganz anders. Genau am Tag der Konkursanmeldung erhielt Rebecca James das Angebot eines Verlages für die Veröffentlichung ihres ersten Buches. „Beautiful Malice" erschien im Mai 2010 in Australien, und schon ein paar Monate später war der Psychokrimi in fast 40 Sprachen übersetzt worden. Rebecca James spielt in ihrem Debüt mit den Lesern und dem Thema, wie sehr sich Menschen verstellen können, ihr wahres - natürlich böses - Ich verbergen können, um sich Vertrauen zu erschleichen und ins Herz anderer Menschen zu stehlen, damit sie dann umso grausamer zuschlagen können. Für Rebecca James jedenfalls hat sich alles zum Guten gewendet - ganz anders als in ihrem Debütthriller.
Autoren-Interview mit Rebecca James
Interview mit Rebecca James Jeder liebt Thriller. Können Sie uns diese Faszination des Bösen erklären?
Rebecca James: Nun, ich bin keine Psychologin, so kann ich auch nur spekulieren. Aber ich vermute mal, dass uns alle das Böse so fasziniert, weil wir es alle auch in uns tragen. Nur die meisten Menschen leben diese dunkle Seite nicht aus, sondern halten sich an die gesellschaftlichen Regeln. Es ist spannend zu verfolgen, was passiert, wenn jemand diese Regeln des Zusammenlebens bricht.
In Ihrer Geschichte ist die Hauptfigur Alice ein durchtriebener und zerstörerischer Mensch, einfach böse. Wie können wir uns vor solchen „Alices" schützen? Gibt es einen Weg, herauszufinden, ob jemand nur mit uns spielt?
Rebecca James: Ich bin zwar keine Psychologin, aber ich vermute mal, wenn jemand sich mit einem Freund/einer Freundin immer schlecht fühlt, sollte er sich sehr genau ansehen, was da los ist. Der Großteil von uns ist ja wesentlich normaler und vernünftiger als Alice es ist - und so ist es im Normalfall durchaus möglich, eine Freundschaft, die einem nicht gut tut, durch eine ehrliche Aussprache wieder ins Lot zu bringen. Aber auch klar ist, dass jeder das Weite suchen sollte, wenn ein Freund Spaß daran hat, ihn runterzumachen und zu demütigen.
Wie lange haben Sie an Ihrem ersten Buch geschrieben?
Rebecca James: Zwei Jahre.
Sie haben in den verschiedensten Jobs gearbeitet, bevor Sie anfingen, als Autorin zu arbeiten. Welcher hat Ihnen am meisten Spaß gemacht?
Rebecca James: Ich mochte es sehr, als Bedienung zu arbeiten, weil ich das Zusammengehörigkeitsgefühl toll fand, das sich unter den Angestellten des Restaurants entwickelte. Außerdem lernt man als Bedienung
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sehr viel über Menschen.
Rebecca, „Beautiful Malice" wurde von zig Verlagen abgelehnt, bis das Angebot zur Veröffentlichung kam. Können Sie Autoren Tipps geben, die gerade Ähnliches erleben?
Rebecca James: Ahhh, die Verlagsbranche ist eine launische Diva und sehr vom Wettbewerb dominiert - das ist also eine schwer zu beantwortende Frage. Aber ich versuche es. Zuallererst ist es wichtig, ehrlich zu sich selbst zu sein, denn es hängt auch von der Art der Absage ab, die ein Verlag schickt. Wenn Sie als Autor Absagen bekommen, die trotzdem viel positives Feedback enthalten, dann sollten Sie auf jeden Fall dranbleiben. Wenn aber ihr Manuskript nur Absage um Absage bekommt, ganz ohne Lob oder positive Kritik, dann könnte es an der Zeit sein, das Ganze wegzulegen und was Neues anzufangen. Die meisten Autoren haben ja mehr als ein Manuskript anzubieten. Wenn sie ihr abgelehntes Buch trotzdem gut finden, können sie es ja später noch einmal damit versuchen.
Wie gefällt Ihnen der Gedanke, die Geschichte verfilmen zu lassen?
Rebecca James: Ich fände es großartig, wenn „Beautiful Malice" verfilmt werden würde.
Wie fühlt es sich eigentlich für Sie an, dass Ihr Debüt gleich ein Bestseller wurde und bisher in 36 Ländern veröffentlicht wurde?
Rebecca James: Nun, das Buch hat sich innerhalb des letzten Jahres auf der ganzen Welt verkauft. Und ich fange gerade langsam an, mich an den Erfolg zu gewöhnen. Es hat ziemlich lange bei mir gedauert zu realisieren, dass das alles wirklich wahr ist.
Woran arbeiten Sie gerade, Rebecca James?
Rebecca James: Mein neues Buch ist gerade fertig geworden. Und die Geschichte bietet alles, was in einem guten Thriller vorkommen muss: Liebe, Mord und Verrat.
Die Fragen stellte Ulrike Bauer, Literaturtest
Rebecca, „Beautiful Malice" wurde von zig Verlagen abgelehnt, bis das Angebot zur Veröffentlichung kam. Können Sie Autoren Tipps geben, die gerade Ähnliches erleben?
Rebecca James: Ahhh, die Verlagsbranche ist eine launische Diva und sehr vom Wettbewerb dominiert - das ist also eine schwer zu beantwortende Frage. Aber ich versuche es. Zuallererst ist es wichtig, ehrlich zu sich selbst zu sein, denn es hängt auch von der Art der Absage ab, die ein Verlag schickt. Wenn Sie als Autor Absagen bekommen, die trotzdem viel positives Feedback enthalten, dann sollten Sie auf jeden Fall dranbleiben. Wenn aber ihr Manuskript nur Absage um Absage bekommt, ganz ohne Lob oder positive Kritik, dann könnte es an der Zeit sein, das Ganze wegzulegen und was Neues anzufangen. Die meisten Autoren haben ja mehr als ein Manuskript anzubieten. Wenn sie ihr abgelehntes Buch trotzdem gut finden, können sie es ja später noch einmal damit versuchen.
Wie gefällt Ihnen der Gedanke, die Geschichte verfilmen zu lassen?
Rebecca James: Ich fände es großartig, wenn „Beautiful Malice" verfilmt werden würde.
Wie fühlt es sich eigentlich für Sie an, dass Ihr Debüt gleich ein Bestseller wurde und bisher in 36 Ländern veröffentlicht wurde?
Rebecca James: Nun, das Buch hat sich innerhalb des letzten Jahres auf der ganzen Welt verkauft. Und ich fange gerade langsam an, mich an den Erfolg zu gewöhnen. Es hat ziemlich lange bei mir gedauert zu realisieren, dass das alles wirklich wahr ist.
Woran arbeiten Sie gerade, Rebecca James?
Rebecca James: Mein neues Buch ist gerade fertig geworden. Und die Geschichte bietet alles, was in einem guten Thriller vorkommen muss: Liebe, Mord und Verrat.
Die Fragen stellte Ulrike Bauer, Literaturtest
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Bibliographische Angaben
- Autor: Rebecca James
- 320 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008810
- ISBN-13: 9783868008814
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