Schnelles Denken, langsames Denken
Der Psychologe und Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahneman zeigt in seinem Bestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“, wie wir in Zukunft Krisen eher vermeiden können, wenn wir mehr nachdenken und uns weniger auf...
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Produktinformationen zu „Schnelles Denken, langsames Denken “
Der Psychologe und Wirtschafts-Nobelpreisträger Daniel Kahneman zeigt in seinem Bestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“, wie wir in Zukunft Krisen eher vermeiden können, wenn wir mehr nachdenken und uns weniger auf unsere Intuition verlassen.
Die Basis für Kahnemans kluge Analysen und Ratschläge bildet die Unterscheidung zwischen zwei Denk-Systemen: dem schnellen, intuitiven, das häufig zu falschen Entscheidungen führe, und einem analytischeren, das wir leider oft unbewusst umgehen bzw. ausblenden würden.
Ein Beispiel für schnelles Denken ist für den Begründer der Verhaltensökonomie, dass man automatisch und ohne Mühe an Paris denke, wenn die Hauptstadt von Frankreich erwähnt würde. „Das ist das, was ich das schnelle Denken nenne“, so der Autor. „Wahrnehmung, Intuition, freie Assoziationen - das gehört alles dazu. Und dann gibt es das langsame Denken. Das benutzen wir, wenn wir sorgfältig argumentieren, oder ausrechnen wollen, was 17 mal 24 ist, oder unbekannte Zahlen schätzen - also Aufgaben für logisches Denken.“
Die Folgen der Denkfaulheit
Dass Menschen meistens denkfaul seien und welche fatalen Folgen das hat oder haben könnte, zeigt Daniel Kahneman in „Schnelles Denken, langsames Denken“ anhand von zahlreichen Beispielen – „detailreich, anschaulich, mit vielen persönlichen Anekdoten, fast leichtfüßig“, wie die Süddeutsche Zeitung lobte.
Die private Altersvorsorge ist für Daniel Kahneman ein gutes Beispiel für vorherrschende Denk-Faulheit. Wie viel Geld man für das Alter zurücklegt, so der Autor, sollte eigentlich durch langsames, abwägendes Nachdenken entschieden werden, immerhin sei es eine folgenschwere Entscheidung. Stattdessen werde die Entscheidung, wie so häufig, aus dem Bauch heraus gefällt, anfällig für Ablenkungen. Dabei verlasse man sich nur allzu gerne auf die vorgegebene Antwort, mein Kahnemann: „Schließlich erscheint die als die normale.“
Gestörtes Verhältnis zu Statistiken und Wahrscheinlichkeiten
Noch einmal zurück zu den beiden Denk-Systemen des Menschen. Laut Daniel Kahneman gehört zu den größten Schwächen dieser beiden Systeme das gestörte Verhältnis zu Statistik und Wahrscheinlichkeiten. Der Autor empfiehlt daher, bei Entscheidungen möglichst auf Algorithmen zu setzen. „Was so lebensfern klingt“, kommentiert 3sat.de diesen Ratschlag, „beeinflusst heute steigende Abschlüsse von US-Betriebsrenten, bessere Mitarbeiter-Evaluierungen und Organspenden.“
Markus Reiter von Deutschlandradio Kultur wies in seiner Rezension von „Schnelles Denken, langsames Denken“ darauf hin, dass Daniel Kehlman es schaffe, auf sehr anschauliche und leicht lesbare Weise deutlich zu machen, wie wir alle in unserem ökonomischen Alltag Täuschungen unterliegen würden. „Wissenschaftler sprechen von kognitiven Verzerrungen“, so Reiter, „wenn wir ganz fest von etwas überzeugt sind, das empirisch betrachtet nicht der Wirklichkeit entspricht“.
Langsames, bewusstes Denken ist harte Arbeit
So eine kognitive Verzerrung bedeutet ja, dem ersten Denksystem, also dem „schnellen Denken“ den Vorzug gelassen zu haben. Und warum dann nicht lieber langsam gedacht, also System 2 aktiviert? Daniel Kahneman weiß genau warum: System 2 sei faul und springe nur an, wenn es sein müsse, teilt in einem Spiegel-Interview mit. Bewusstes Denken sei aufwendig, und deshalb leisteten wir uns das nur selten. Kahneman: „Das langsame, bewusste Denken ist harte Arbeit, es verbraucht chemische Ressourcen im Gehirn, der Körper gerät in Aufruhr, der Herzschlag beschleunigt sich, die Schweißdrüsen treten in Aktion, die Pupillen weiten sich …“
Das P.M.-Magazin bringt vielleicht am treffendsten zum Ausdruck, warum „Schnelles Denken, langsames Denken“ besonders lesenswert ist: „Kahnemans Buch liefert unzählige überraschende Einsichten in die Funktionsweise unseres Denkens - und das klar und spannend.“
Klappentext zu „Schnelles Denken, langsames Denken “
Der Weltbestseller, der das Denken von Millionen Menschen verändert hatWie treffen wir unsere Entscheidungen? Warum ist Zögern ein überlebensnotwendiger Reflex, und was passiert in unserem Gehirn, wenn wir andere Menschen oder Dinge beurteilen? Daniel Kahneman, Nobelpreisträger und einer der einflussreichsten Wissenschaftler unserer Zeit, zeigt anhand ebenso nachvollziehbarer wie verblüffender Beispiele, welchen mentalen Mustern wir folgen und wie wir uns gegen verhängnisvolle Fehlentscheidungen wappnen können.
Lese-Probe zu „Schnelles Denken, langsames Denken “
Schnelles Denken, langsames Denken von Daniel KahnemanEinleitung
Jedem Autor, vermute ich mal, schwebt eine Situation vor, in der Leser seines Werks von der Lektüre desselben profitieren könnten. Ich denke dabei an den Kaffeeautomaten im Büro, vor dem Mitarbeiter Ansichten und Tratsch miteinander austauschen. Meine Hoffnung ist, dass ich den Wortschatz bereichere, den Menschen benutzen, wenn sie sich über Urteile und Entscheidungen anderer, die neue Geschäftsstrategie ihres Unternehmens oder die Anlageentscheidungen eines Kollegen unterhalten. Weshalb sich mit Tratsch befassen? Weil es viel leichter und auch viel angenehmer ist, die Fehler anderer zu erkennen und zu benennen als seine eigenen. Selbst unter den günstigsten Umständen fällt es uns schwer, unsere Überzeugungen und Wünsche zu hinterfragen, und es fällt uns besonders schwer, wenn es am nötigsten wäre - aber wir können von den sachlich fundierten Meinungen anderer profitieren. Viele von uns nehmen in Gedanken von sich aus vorweg, wie Freunde und Kollegen unsere Entscheidungen beurteilen werden; deshalb kommt es maßgeblich auf Qualität und Inhalt dieser vorweggenommenen Urteile an. Die Erwartung intelligenten Geredes über uns ist ein starkes Motiv für ernsthafte Selbstkritik, stärker als alle an Silvester gefassten guten Vorsätze, die Entscheidungsfindung am Arbeitsplatz und zu Hause zu verbessern.
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Um zuverlässige Diagnosen zu stellen, muss ein Arzt eine Vielzahl von Krankheitsbezeichnungen lernen, und jeder dieser Termini verknüpft ein Konzept der Erkrankung mit ihren Symptomen, möglichen Vorstufen und Ursachen, möglichen Verläufen und Konsequenzen sowie möglichen Eingriffen zur Heilung oder Linderung der Krankheit. Das Erlernen der ärztlichen Heilkunst besteht auch darin, die medizinische Fachsprache zu erlernen. Um Urteile und Entscheidungen besser verstehen zu können, bedarf es eines reichhaltigeren Wortschatzes, als ihn die Alltagssprache zur Verfügung stellt. Die Tatsache, dass unsere Fehler charakteristische Muster aufweisen, begründet die Hoffnung darauf, dass andere in sachlich fundierter Weise über uns reden mögen. Systematische Fehler - auch »Verzerrungen« (biases) genannt - treten in vorhersehbarer Weise unter bestimmten Umständen auf. Wenn ein attraktiver und selbstbewusster Redner dynamisch aufs Podium springt, kann man davon ausgehen, dass das Publikum seine Äußerungen günstiger beurteilt, als er es eigentlich verdient. Die Verfügbarkeit eines diagnostischen Etiketts für diesen systematischen Fehler - der Halo-Effekt - erleichtert es, ihn vorwegzunehmen, zu erkennen und zu verstehen.
Wenn Sie gefragt werden, woran Sie gerade denken, können Sie diese Frage normalerweise beantworten. Sie glauben zu wissen, was in Ihrem Kopf vor sich geht - oftmals führt ein bewusster Gedanke in wohlgeordneter Weise zum nächsten. Aber das ist nicht die einzige Art und Weise, wie unser Denkvermögen (mind) funktioniert, es ist nicht einmal seine typische Funktionsweise. Die meisten Eindrücke und Gedanken tauchen in unserem Bewusstsein auf, ohne dass wir wüssten, wie sie dorthin gelangten. Sie können nicht rekonstruieren, wie Sie zu der Überzeugung gelangten, eine Lampe stehe auf dem Schreibtisch vor Ihnen, wie es kam, dass Sie eine Spur von Verärgerung aus der Stimme Ihres Gatten am Telefon heraushörten, oder wie es Ihnen gelang, einer Gefahr auf der Straße auszuweichen, ehe Sie sich ihrer bewusst wurden. Die mentale Arbeit, die Eindrücke, Intuitionen und viele Entscheidungen hervorbringt, vollzieht sich im Stillen in unserem Geist.
Ein Schwerpunkt dieses Buches sind Fehler in unserem intuitiven Denken. Doch die Konzentration auf diese Fehler bedeutet keine Herabsetzung der menschlichen Intelligenz, ebenso wenig, wie das Interesse an Krankheiten in medizinischen Texten Gesundheit verleugnet. Die meisten von uns sind die meiste Zeit ihres Lebens gesund, und die meisten unserer Urteile und Handlungen sind meistens angemessen. Auf unserem Weg durchs Leben lassen wir uns normalerweise von Eindrücken und Gefühlen leiten, und das Vertrauen, das wir in unsere intuitiven Überzeugungen und Präferenzen setzen, ist in der Regel gerechtfertigt. Aber nicht immer. Wir sind oft selbst dann von ihrer Richtigkeit überzeugt, wenn wir irren, und ein objektiver Beobachter erkennt unsere Fehler mit höherer Wahrscheinlichkeit als wir selbst.
Und so wünsche ich mir, dass dieses Buch die Gespräche am Kaffeeautomaten dadurch verändert, dass es unsere Fähigkeit verbessert, Urteils- und Entscheidungsfehler von anderen und schließlich auch von uns selbst zu erkennen und verstehen, indem es dem Leser eine differenzierte und exakte Sprache an die Hand gibt, in der sich diese Fehler diskutieren lassen. Eine zutreffende Diagnose mag wenigstens in einigen Fällen eine Korrektur ermöglichen, um den Schaden, den Fehlurteile und -entscheidungen verursachen, zu begrenzen.
Entstehung
Dieses Buch stellt mein gegenwärtiges Verständnis von Urteils- und Entscheidungsprozessen dar, das maßgeblich von psychologischen Entdeckungen der letzten Jahrzehnte geprägt wurde. Die zentralen Ideen gehen allerdings auf jenen glücklichen Tag des Jahres 1969 zurück, an dem ich einen Kollegen bat, als Gastredner in einem Seminar zu sprechen, das ich am Fachbereich Psychologie der Hebräischen Universität von Jerusalem hielt. Amos Tversky galt als ein aufstrebender Star auf dem Gebiet der Entscheidungsforschung - ja, auf allen Forschungsfeldern, auf denen er sich tummelte -, sodass ich wusste, dass es eine interessante Veranstaltung werden würde. Viele Menschen, die Amos kannten, hielten ihn für die intelligenteste Person, der sie je begegnet waren. Er war brillant, redegewandt und charismatisch. Er war auch mit einem vollkommenen Gedächtnis für Witze gesegnet und mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit, mit ihrer Hilfe ein Argument zu verdeutlichen. In Amos' Gegenwart war es nie langweilig. Er war damals 32, ich war 35. Amos berichtete den Seminarteilnehmern von einem aktuellen Forschungsprogramm an der Universität Michigan, bei dem es um die Beantwortung der folgenden Frage ging: Sind Menschen gute intuitive Statistiker? Wir wussten bereits, dass Menschen gute intuitive Grammatiker sind: Ein vierjähriges Kind befolgt, wenn es spricht, mühelos die Regeln der Grammatik, obwohl es die Regeln als solche nicht kennt. Haben Menschen ein ähnlich intui tives Gespür für die grundlegenden Prinzipien der Statistik? Amos berichtete, die Antwort darauf sei ein bedingtes Ja. Wir hatten im Seminar eine lebhafte Diskussion, und wir verständigten uns schließlich darauf, dass ein bedingtes Nein eine bessere Antwort sei. Amos und mir machte dieser Meinungsaustausch großen Spaß, und wir gelangten zu dem Schluss, dass intuitive Statistik ein interessantes Forschungsgebiet sei und dass es uns reizen würde, dieses Feld gemeinsam zu erforschen. An jenem Freitag trafen wir uns zum Mittagessen im Café Rimon, dem Stammlokal von Künstlern und Professoren in Jerusalem, und planten eine Studie über die statistischen Intuitionen von Wissenschaftlern. Wir waren in diesem Seminar zu dem Schluss gelangt, dass unsere eigene Intuition unzureichend war. Obwohl wir beide schon jahrelang Statistik lehrten und anwandten, hatten wir kein intuitives Gespür für die Zuverlässigkeit statistischer Ergebnisse bei kleinen Stichproben entwickelt. Unsere subjektiven Urteile waren verzerrt: Wir schenkten allzu bereitwillig Forschungsergebnissen Glauben, die auf unzureichender Datengrundlage basierten, und neigten dazu, bei unseren eigenen Forschungsarbeiten zu wenig Beobachtungsdaten zu erheben. 1 Mit unserer Studie wollten wir herausfinden, ob andere Forscher an der gleichen Schwäche litten.
Wir bereiteten eine Umfrage vor, die realistische Szenarien statistischer Probleme beinhaltete, die in der Forschung auftreten. Amos trug die Antworten einer Gruppe von Experten zusammen, die an einer Tagung der Society of Mathematical Psychology teilnahmen, darunter waren auch die Verfasser zweier Statistik-Lehrbücher. Wie erwartet fanden wir heraus, dass unsere Fachkollegen, genauso wie wir, die Wahrscheinlichkeit, dass das ursprüngliche Ergebnis eines Experiments auch bei einer kleinen Stichprobe erfolgreich reproduziert werden würde, enorm überschätzten. Auch gaben sie einer fiktiven Studentin sehr ungenaue Auskünfte über die Anzahl der Beobachtungsdaten, die sie erheben müsse, um zu einer gültigen Schlussfolgerung zu gelangen. Selbst Statistiker waren also keine guten intuitiven Statistiker. Als wir den Artikel schrieben, in dem wir diese Ergebnisse darlegten, stellten Amos und ich fest, dass uns die Zusammenarbeit großen Spaß machte. Amos war immer sehr witzig, und in seiner Gegenwart wurde auch ich witzig, sodass wir Stunden gewissenhafter Arbeit in fortwährender Erheiterung verbrachten. Die Freude, die wir aus unserer Zusammenarbeit zogen, machte uns ungewöhnlich geduldig; man strebt viel eher nach Perfektion, wenn man sich nicht langweilt. Am wichtigsten war vielleicht, dass wir unsere kritischen Waffen an der Tür abgaben. Sowohl Amos als auch ich waren kritisch und streitlustig - er noch mehr als ich, aber in den Jahren unserer Zusammenarbeit hat keiner von uns beiden irgendetwas, was der andere sagte, rundweg abgelehnt. Eine der größten Freuden, die mir die Zusammenarbeit mit Amos schenkte, bestand gerade darin, dass er viel deutlicher als ich selbst sah, worauf ich mit meinen vagen Gedanken hinauswollte. Amos war der bessere Logiker von uns beiden, er war theoretisch versierter und hatte einen untrüglichen Orientierungssinn. Ich hatte einen intuitiveren Zugang und war stärker in der Wahrnehmungspsychologie verwurzelt, aus der wir viele Ideen übernahmen. Wir waren einander hinreichend ähnlich, um uns mühelos zu verständigen, und wir waren hinreichend unterschiedlich, um uns gegenseitig zu überraschen. Wir verbrachten routinemäßig einen Großteil unserer Arbeitstage zusammen, oftmals auf langen Spaziergängen. Während der kommenden 14 Jahre bildete diese Zusammenarbeit den Mittelpunkt unserer Leben, und unsere gemeinsamen Arbeiten aus dieser Zeit waren das Beste, was jeder von uns überhaupt an wissenschaftlichen Beiträgen lieferte.
Wir entwickelten schon bald eine bestimmte Vorgehensweise, die wir viele Jahre lang beibehielten. Unsere Forschung bestand in einem Gespräch, in dem wir Fragen erfanden und gemeinsam unsere intuitiven Antworten überprüften. Jede Frage war ein kleines Experiment, und wir führten an jedem Tag viele Experimente durch. Wir suchten nicht ernsthaft nach der richtigen Antwort auf die statistischen Fragen, die wir stellten. Wir wollten die intuitive Antwort herausfinden und analysieren, die erste, die uns einfiel, diejenige, die wir spontan geben wollten, auch wenn wir wussten, dass sie falsch war. Wir glaubten - richtigerweise, wie sich zeigte -, dass jede Intuition, die wir beide teilten, auch von vielen anderen geteilt würde und dass es leicht wäre, ihre Auswirkungen auf Urteile nachzuweisen. Einmal entdeckten wir zu unserer großen Freude, dass wir die gleichen verrückten Ideen über die zukünftigen Berufe mehrerer Kleinkinder hatten, die wir beide kannten. Wir identifizierten den streitlustigen dreijährigen Anwalt, den schrulligen Professor, den empathischen und leicht zudringlichen Psychotherapeuten. Natürlich waren diese Vorhersagen absurd, aber wir fanden sie trotzdem reizvoll. Es war auch klar, dass unsere Intui tionen von der Ähnlichkeit beeinflusst wurden, die das jeweilige Kind mit dem kulturellen Stereotyp eines bestimmten Berufs aufwies. Diese lustige Übung half uns dabei, eine Theorie zu entwickeln, die damals in unseren Köpfen im Entstehen begriffen war, und zwar über die Bedeutung der Ähnlichkeit bei Vorhersagen. Wir überprüften und verfeinerten diese Theorie in Dutzenden von Experimenten, wie etwa dem folgenden.
Wenn Sie über die nächste Frage nachdenken, sollten Sie davon ausgehen, dass Steve zufällig aus einer repräsentativen Stichprobe ausgewählt wurde:
Eine Person wurde von einem Nachbarn wie folgt beschrieben: »Steve ist sehr scheu und verschlossen, immer hilfsbereit, aber kaum an anderen oder an der Wirklichkeit interessiert. Als sanftmütiger und ordentlicher Mensch hat er ein Bedürfnis nach Ordnung und Struktur und eine Passion für Details.« Ist Steve eher Bibliothekar oder eher Landwirt?
Die Ähnlichkeit von Steves Persönlichkeit mit dem Stereotyp eines Bibliothekars fällt jedem sofort ins Auge, aber dabei werden sachdienliche statistische Erwägungen fast immer außer Betracht gelassen. Wussten Sie, dass in den Vereinigten Staaten auf jeden männlichen Bibliothekar zwanzig Landwirte kommen? Weil es so viel mehr Landwirte gibt, wird man höchstwahrscheinlich auch mehr »sanftmütige und ordentliche« Menschen auf Traktoren als hinter den Informationsschaltern von Bibliotheken finden. Wir stellten jedoch fest, dass diejenigen, die an unseren Experimenten teilnahmen, die relevanten statistischen Fakten außer Acht ließen und sich ausschließlich auf die Ähnlichkeit stützten. Wir nahmen an, dass sie die Ähnlichkeit als eine vereinfachende Heuristik (grob gesagt: eine Faustregel) benutzten, um ein schwieriges Urteil zu fällen. Das Vertrauen auf die Heuristik verursachte vorhersehbare Verzerrungen in ihren Vorhersagen.
Ein anderes Mal fragten Amos und ich uns nach der Scheidungsrate bei Professoren an unserer Universität. Wir bemerkten, dass die Frage eine Gedächtnissuche nach geschiedenen Professoren, die wir kannten oder von denen wir gehört hatten, auslöste und dass wir die Größe der Kategorien nach der Leichtigkeit beurteilten, mit denen uns die Beispiele einfielen. Wir nannten diese Orientierung an der Leichtigkeit der Gedächtnissuche »Verfügbarkeitsheuristik « (availability heuristic). In einer unserer Studien forderten wir die Teilnehmer auf, eine einfache Frage über Wörter in einem typischen englischen Text zu beantworten:
Betrachten Sie den Buchstaben K.
Taucht K eher als erster oder als dritter Buchstabe in einem Wort auf?
Wie jeder Scrabble-Spieler weiß, ist es viel leichter, Wörter zu finden, die mit einem bestimmten Buchstaben anfangen, als Wörter, die denselben Buchstaben an der dritten Stelle aufweisen. Dies gilt für alle Buchstaben des Alphabets. Aus diesem Grund erwarteten wir, dass die Versuchsteilnehmer die Häufigkeit von Buchstaben an der ersten Stelle überschätzen würden - selbst der Buchstaben (wie K, L, N, R, V), die im Englischen tatsächlich häufiger an der dritten Stelle vorkommen. Hier führt der Rückgriff auf eine Heuristik erneut zu einem vorhersagbaren Urteilsfehler. So bezweifle ich beispielsweise mittlerweile meinen lange gehegten Eindruck, Ehebruch komme bei Politikern häufiger vor als bei Ärzten oder Anwälten. Ich hatte mir sogar Erklärungen für die »Tatsache« einfallen lassen, wie etwa die aphrodisierende Wirkung von Macht und die Verlockungen des Lebens fern von zu Hause. Ich erkannte schließlich, dass über die Fehltritte von Politikern mit viel höherer Wahrscheinlichkeit berichtet wird als über die von Anwälten und Ärzten. Mein intuitiver Eindruck war womöglich ausschließlich auf die Themenwahl von Journalisten und meine Anwendung der Verfügbarkeitsheuristik zurückzuführen.
Amos und ich verbrachten mehrere Jahre damit, Verzerrungen des intuitiven Denkens bei verschiedenen Aufgaben zu erforschen und zu dokumentieren: bei der Zuschreibung von Eintrittswahrscheinlichkeiten zu Ereignissen, bei Vorhersagen über zukünftige Ereignisse, bei der Beurteilung von Hypothesen und der Abschätzung von Häufigkeiten. Im fünften Jahr unserer Zusammenarbeit stellten wir unsere wichtigsten Ergebnisse im Wissenschaftsmagazin Science vor, das von Wissenschaftlern vieler Disziplinen gelesen wird. Der Artikel (der in ganzer Länge am Ende dieses Buches abgedruckt ist) trug den Titel »Judgement under Uncertainty: Heuristics and Biases« (»Urteile unter Unsicherheit: Heuristiken und kognitive Verzerrungen«). Er beschrieb die vereinfachenden Abkürzungen des intuitiven Denkens und erläuterte etwa zwanzig kognitive Verzerrungen als Beispiele dieser Heuristiken - und auch, um die Rolle dieser Heuristiken bei der Urteilsbildung zu verdeutlichen.
Wissenschaftshistoriker haben oft darauf hingewiesen, dass bei den Wissenschaftlern eines Fachgebiets zu jedem beliebigen Zeitpunkt Einigkeit über die Grundannahmen ihrer Disziplin besteht. Sozialwissenschaftler bilden da keine Ausnahme; sie gehen von einem Bild der menschlichen Natur aus, das den Hintergrund der meisten Diskussionen über bestimmte Verhaltensweisen bildet und nur selten infrage gestellt wird. In den 1970er-Jahren erachteten die meisten Sozialwissenschaftler zwei Annahmen über die menschliche Natur als erwiesen. Zum einen, dass Menschen sich im Allgemeinen rational verhalten und normalerweise klar denken. Zum anderen, dass Emotionen wie Furcht, Zuneigung und Hass die meisten Fälle erklären, in denen Menschen von der Rationalität abweichen.
Unser Artikel stellte beide Annahmen infrage, ohne sie direkt zu diskutieren. Wir dokumentierten systematische Fehler im Denken gewöhnlicher Menschen und führten diese Fehler auf die Konstruktion des Kognitionsmechanismus zurück und nicht auf die Verfälschung des Denkens durch Emotionen.
Unser Artikel stieß auf viel mehr Beachtung, als wir erwartet hatten, und er ist noch immer einer der meistzitierten Beiträge in den Sozialwissenschaften (im Jahr 2010 bezogen sich über 300 wissenschaftliche Aufsätze darauf ). Wissenschaftler in anderen Disziplinen fanden ihn nützlich, und das Konzept der Heuristiken und kognitiven Verzerrungen wurde in vielen Bereichen, wie etwa bei der medizinischen Diagnose, der Rechtsprechung, der Auswertung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse, der Philosophie, der Finanzwissenschaft, der Statistik und der Militärstrategie, gewinnbringend angewendet.
So haben beispielsweise Politikwissenschaftler herausgefunden, dass die Verfügbarkeitsheuristik zu erklären hilft, weshalb einige Probleme in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit finden, während andere vernachlässigt werden. Menschen neigen dazu, die relative Bedeutung von Problemen danach zu beurteilen, wie leicht sie sich aus dem Gedächtnis abrufen lassen - und diese Abrufleichtigkeit wird weitgehend von dem Ausmaß der Medienberichterstattung bestimmt. Häufig erwähnte Themen ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich, während andere aus dem Bewusstsein verschwinden. Andererseits entspricht das, worüber die Medien berichten, ihrer Einschätzung dessen, was die Öffentlichkeit gegenwärtig bewegt. Es ist kein Zufall, dass autoritäre Regime unabhängige Medien unter erheblichen Druck setzen. Da das Interesse der Öffentlichkeit am leichtesten durch dramatische Ereignisse und Stars geweckt wird, sind mediale »Fressorgien« weitverbreitet. So war es beispielsweise nach Michael Jacksons Tod mehrere Wochen lang praktisch unmöglich, einen Fernsehsender zu finden, der über ein anderes Thema berichtete. Über höchst wichtige, aber langweilige Themen, die weniger herzergreifend sind, wie etwa sinkende Bildungsstandards oder die Überinvestition medizinischer Ressourcen im letzten Lebensjahr, wird dagegen kaum berichtet. (Während ich dies schreibe, fällt mir auf, dass meine Auswahl von Beispielen mit »geringer Medienpräsenz« von der Verfügbarkeit bestimmt wurde. Die Themen, die ich als Beispiele auswähle, werden häufig erwähnt; genauso wichtige Anliegen, die weniger verfügbar sind, fielen mir nicht ein.)
Damals war es uns nicht völlig klar, aber ein wesentlicher Grund für den breiten Anklang, den Heuristiken und kognitive Verzerrungen außerhalb der Psychologie finden, war ein zufälliges Merkmal unserer Arbeit: Wir nahmen fast immer den vollständigen Wortlaut der Fragen, die wir uns selbst und unseren Versuchspersonen stellten, in unsere Artikel auf. Diese Fragen dienten als Demonstrationen für den Leser; sie sollten ihm verdeutlichen, wie er selbst durch kognitive Verzerrungen zu Fehlurteilen gelangt. Ich hoffe, Sie hatten eine solche Erfahrung, als Sie die Frage über Steve, den Bibliothekar, lasen, die Ihnen helfen sollte, zu erkennen, wie stark Ähnlichkeit (mit Stereo typen) Wahrscheinlichkeitsaussagen beeinflusst und wie leicht relevante statistische Tatsachen ignoriert werden.
Die Fallbeispiele boten Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen - insbesondere aber Philosophen und Ökonomen - eine ungewöhnliche Gelegenheit, mögliche Fehler in ihrem eigenen Denken zu beobachten. Nachdem sie sich bei ihren eigenen Fehlern ertappt hatten, waren sie eher bereit, die damals vorherrschende dogmatische Annahme, jeder Mensch denke rational und logisch, infrage zu stellen. Die Wahl der Methode war entscheidend: Wenn wir nur über Ergebnisse konventioneller Experimente berichtet hätten, hätte der Artikel viel weniger Beachtung gefunden. Außerdem hätten sich skeptische Leser von den Ergebnissen distanziert, indem sie Urteilsfehler auf die bekannte Schludrigkeit von Studenten, die typischen Probanden psychologischer Studien, zurückgeführt hätten. Selbstverständlich haben wir Demonstrationsbeispiele nicht deshalb Standardexperimenten vorgezogen, weil wir Philosophen und Ökonomen beeinflussen wollten. Wir zogen Demonstrationen vor, weil sie unterhaltsamer waren, und wir hatten Glück bei der Wahl unserer Methode sowie in vielerlei anderer Hinsicht. Ein wiederkehrendes Thema dieses Buches ist, dass Glück in jeder Erfolgsgeschichte eine große Rolle spielt; wenn die Geschichte einen nur etwas anderen Verlauf genommen hätte, dann wäre statt einer bemerkenswerten eine mittelmäßige Leistung herausgekommen. Unsere Geschichte bildete da keine Ausnahme.
Die Reaktion auf unsere Arbeit fiel nicht einhellig positiv aus. Insbesondere wurde an unserer Fokussierung auf kognitive Verzerrungen kritisiert, dass sie eine unangemessen negative Sichtweise des menschlichen Denkens nahelege. Wie in der Wissenschaft üblich, haben einige Forscher unsere Ideen weiterentwickelt, und andere legten plausible Alternativen vor. Im Großen und Ganzen aber ist die Idee, dass unser Denken anfällig ist für systematische Fehler, heute allgemein anerkannt. Unsere Forschungsarbeiten über Urteilsprozesse hatten einen viel stärkeren Einfluss auf die Sozialwissenschaften, als wir es ursprünglich für möglich hielten.
Unmittelbar nachdem wir unsere neue Theorie über Urteilsprozesse vollständig ausgearbeitet hatten, wandten wir unsere Aufmerksamkeit der Entscheidungsfindung unter Ungewissheit zu. Wir wollten eine psychologische Theorie über die Entscheidungsfindung bei einfachen Glücksspielen erstellen. Zum Beispiel: Würden Sie eine Wette auf einen Münzwurf eingehen, bei der Sie 130 Dollar gewinnen, wenn die Münze mit Kopf nach oben liegt, und 100 Dollar verlieren, wenn die Zahl zu sehen ist? Diese elementaren Entscheidungen wurden schon seit Langem dazu benutzt, allgemeine Fragen der Entscheidungsfindung zu untersuchen, wie zum Beispiel das relative Gewicht, das Menschen sicheren Sachverhalten und ungewissen Ergebnissen zumessen. Unsere Methode änderte sich nicht: Wir verbrachten viele Tage damit, uns Entscheidungsprobleme auszudenken und zu untersuchen, ob unsere intuitiven Präferenzen der Logik der Entscheidung entsprachen. Wie bei Urteilsprozessen beobachteten wir auch in unseren eigenen Entscheidungen systematische Verzerrungen - intuitive Präferenzen, die ständig gegen die Regeln rationaler Entscheidungsfindung verstießen. Fünf Jahre nach dem Science-Artikel veröffentlichten wir den Beitrag »Prospect Theory: An Analysis of Decision Under Risk« (»Neue Erwartungstheorie: Eine Analyse der Entscheidungsfindung unter Unsicherheit«), eine Theorie der Entscheidungsfindung, die aus einigen Gründen einflussreicher ist als unsere Arbeit über Urteils Prozesse und eine der Grundlagen der Verhaltensökonomik darstellt.
Bis die geografische Trennung unsere weitere Zusammenarbeit vereitelte, genossen Amos und ich das außerordentliche Glück, dass wir unsere intellektuellen Fähigkeiten kombinieren konnten und so zu Leistungen in der Lage waren, die jeder von uns für sich allein nicht hätte erbringen können, und dass wir eine Beziehung hatten, die unsere Arbeit kurzweilig und produktiv machte. Unsere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Urteils- und Entscheidungstheorie war der Grund dafür, dass mir 2002 der Nobelpreis zuerkannt wurde, den sich Amos mit mir geteilt hätte, wäre er nicht 1996 im Alter von 59 Jahren gestorben.
Wo wir heute stehen
In diesem Buch will ich nicht die Ergebnisse der frühen Forschungsarbeiten, die Amos und ich gemeinsam durchführten, darlegen, denn dies haben viele Autoren im Lauf der Jahre bereits mit großer Sachkunde getan. Mir geht es hier vor allem darum, auf der Grundlage der neuesten Entwicklungen in der kognitiven und der Sozialpsychologie einen Überblick über die Funktionsmechanismen des menschlichen Denkens zu geben. Zu den wichtigsten Entwicklungen gehört, dass wir heute die Stärken und die Schwächen des intuitiven Denkens verstehen.
Abgesehen von der beiläufigen Feststellung, dass Urteilsheuristiken »recht nützlich sind, aber manchmal zu schwerwiegenden, systematischen Fehlern führen«, haben Amos und ich uns nicht mit richtigen Intuitionen beschäftigt. Wir konzentrierten uns auf kognitive Verzerrungen, weil wir sie an sich interessant fanden, aber auch, weil sie Beweise für die Urteilsheuristiken lieferten. Wir fragten uns nicht, ob alle intuitiven Urteile unter Ungewissheit von den von uns erforschten Heuristiken hervorgebracht werden; mittlerweile wissen wir, dass dies nicht der Fall ist. Insbesondere die richtigen Intuitionen von Experten lassen sich besser mit den Folgen langjähriger Übung als mit Heuristiken erklären. Wir können heute ein differenzierteres und ausgewogeneres Bild zeichnen, in dem Kompetenzen und Heuristiken alternative Quellen intuitiver Urteile und Entscheidungen sind.
Der Psychologe Gary Klein erzählt die Geschichte eines Teams von Feuerwehrmännern, die in ein Haus eindrangen, in dem die Küche in Flammen stand. Kaum dass sie mit den Löscharbeiten begonnen hatten, hörte sich ihr Anführer selbst »Raus hier!« schreien, ohne zu wissen, warum. Die Decke stürzte ein, just als der letzte Feuerwehrmann den Raum verlassen hatte. Erst im Anschluss wurde dem Zugführer bewusst, dass das Feuer ungewöhnlich leise und seine Ohren ungewöhnlich heiß gewesen waren. Zusammen lösten diese Eindrücke das aus, was er einen »sechsten Sinn für Gefahren« nannte. Er hatte keine Ahnung, was nicht stimmte, aber er wusste, dass etwas nicht stimmte. Es zeigte sich, dass der Brandherd nicht in der Küche gewesen war, sondern im Kellergeschoss, unterhalb der Stelle, wo die Männer gestanden hatten.
Wir alle haben schon solche Geschichten über das sichere Gespür von Experten gehört: Der Schachgroßmeister, der an einer Schachpartie unter freiem Himmel vorbeigeht und, ohne stehen zu bleiben, verkündet: »Weiß setzt in drei Zügen matt.« Oder der Arzt, der nach einem einzigen Blick auf einen Patienten eine komplexe Diagnose stellt. Die Intuition von Experten kommt uns wie ein Wunder vor, aber das ist nicht der Fall. Tatsächlich vollbringt jeder von uns viele Male pro Tag intuitive Meisterleistungen. Die meisten von uns können mit absoluter Sicherheit schon im ersten Wort eines Anrufers seine Wut spüren, beim Betreten eines Raumes erkennen, dass sie der Gegenstand der Unterhaltung sind, und rasch auf subtile Anzeichen dafür reagieren, dass der Fahrer des Autos auf der Nebenspur gefährlich ist. Unsere alltäglichen intuitiven Fähigkeiten sind nicht weniger wunderbar als die verblüffenden Ahnungen eines erfahrenen Feuerwehrmannes oder Arztes - nur weiter verbreitet.
Die Psychologie richtiger Intuitionen hat nichts Magisches an sich. Die vielleicht beste prägnante Beschreibung stammt von dem großen Herbert Simon, der Schachgroßmeister psychologischen Tests unterzog und feststellte, dass sie nach vielen Tausend Stunden Übung die Figuren auf dem Brett anders sehen als wir. Man spürt deutlich Simons Unverständnis für die Mythologisierung der Experten-Intuition, wenn er schreibt: »Die Situation liefert einen Hinweisreiz; dieser Hinweisreiz gibt dem Experten Zugang zu Informationen, die im Gedächtnis gespeichert sind, und diese Informationen geben ihm die Antwort. Intuition ist nicht mehr und nicht weniger als Wiedererkennen.«
Wir sind nicht überrascht, wenn ein zweijähriges Kleinkind einen Hund betrachtet und »Wauwau!« sagt, weil wir an das Wunder gewöhnt sind, dass Kinder lernen, Gegenstände wiederzuerkennen und zu benennen. Simon will darauf hinaus, dass die intuitiven Meisterleistungen von Experten den gleichen Charakter haben. Zu richtigen Intuitionen kommt es dann, wenn Experten gelernt haben, vertraute Elemente in einer neuen Situation wiederzuerkennen und in einer Weise zu handeln, die ihr angemessen ist. Gute intuitive Urteile tauchen mit der gleichen Unmittelbarkeit im Bewusstsein auf wie »Wauwau!«.
Leider entspringen nicht alle Intuitionen von Fachleuten echtem Sachverstand. Vor vielen Jahren besuchte ich den Leiter der Vermögensverwaltung eines großen Finanzdienstleisters, der mir sagte, er habe gerade einige zehn Millionen Dollar in Aktien der Ford Motor Company investiert. Als ich ihn fragte, wie er zu diesem Entschluss gelangt sei, antwortete er, er sei kürzlich auf einer Automesse gewesen und das, was er gesehen habe, habe ihn beeindruckt. »Mann, die wissen, wie man ein Auto baut!«, war seine Erklärung. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er seinem Bauchgefühl vertraute, und war zufrieden mit sich und mit seiner Entscheidung. Ich fand es bemerkenswert, dass er anscheinend die eine Frage, die ein Ökonom als relevant erachten würde, nicht in Betracht gezogen hatte: Sind Ford-Aktien gegenwärtig unterbewertet? Stattdessen hörte er auf seine Intuition; er mochte Autos, er mochte das Unternehmen, und er mochte die Vorstellung, Ford-Aktien zu besitzen. Nach allem, was wir über die Treffgenauigkeit beim Stock-Picking - der gezielten Suche nach unterbewerteten Einzeltiteln - wissen, kann man vernünftigerweise davon ausgehen, dass er nicht wusste, was er tat.
Die spezifischen Heuristiken, die Amos und ich erforschten, helfen uns kaum, zu verstehen, was den Manager dazu veranlasste, in Ford-Aktien zu investieren, aber heute verfügen wir über eine umfassendere Konzeption von Heuristiken, die uns eine gute Erklärung liefert. Ein wichtiger Fortschritt besteht darin, dass Emotionen heute beim Verständnis intuitiver Urteile und Entscheidungen eine viel größere Rolle spielen als in der Vergangenheit. Die Entscheidung des Managers würde heute als Beispiel der Affektheuristik beschrieben werden; dabei handelt es sich um Urteile und Entscheidungen, die unmittelbar und ohne gründliche Überlegung von Gefühlen der Vorliebe und Abneigung bestimmt werden. Wenn die Maschinerie des intuitiven Denkens mit einem Problem konfrontiert ist - der Auswahl eines Schachzugs oder der Entscheidung, in eine bestimmte Aktie zu investieren -, tut sie ihr Bestes. Wenn die Person über sachdienliches Fachwissen verfügt, erkennt sie die Situation, und die intuitive Lösung, die ihr einfällt, wird wahrscheinlich richtig sein. Dies geschieht, wenn ein Schachgroßmeister eine komplexe Position betrachtet: Die wenigen Züge, die ihm sofort einfallen, sind durchweg starke Züge. Wenn die Frage schwierig und eine sachkundige Lösung nicht verfügbar ist, hat die Intuition trotzdem eine Chance: Dem Betreffenden mag schnell eine Antwort einfallen - aber es ist keine Antwort auf die ursprüngliche Frage. Die Frage, vor der der Manager stand (Soll ich in Ford-Aktien investieren?), war schwierig, aber die Antwort auf eine leichtere und damit zusammenhängende Frage (Mag ich Autos von Ford?) fiel ihm spontan ein und bestimmte seine Entscheidung. Das ist das Wesen intuitiver Heuristiken: Wenn wir mit einer schwierigen Frage konfrontiert sind, beantworten wir stattdessen oftmals eine leichtere, ohne dass wir die Ersetzung bemerken.
Die spontane Suche nach einer intuitiven Lösung scheitert manchmal - es fällt einem weder eine Expertenlösung noch eine heuristische Antwort ein. In solchen Fällen wechseln wir oftmals zu einer langsameren, wohlüberlegten und anstrengenden Form des Denkens. Dies ist das »langsame Denken«, das im Titel erwähnt wird. Schnelles Denken umfasst beide Varianten des intuitiven Denkens - das sachkundige und das heuristische Denken - sowie die vollkommen automatisierten mentalen Wahrnehmungs- und Gedächtnisprozesse, also jene Operationen, die uns in die Lage versetzen, das Objekt auf unserem Schreibtisch als Lampe zu erkennen oder den Namen der russischen Hauptstadt aus dem Gedächtnis abzurufen.
Zahlreiche Psychologen haben in den letzten 25 Jahren die Unterschiede zwischen schnellem und langsamem Denken erforscht. Aus Gründen, die ich im nächsten Kapitel ausführlicher darlege, beschreibe ich mentale Prozesse mit der Metapher von zwei Agenten, System 1 und System 2 genannt, die jeweils schnelles und langsames Denken erzeugen. Ich spreche von den Merkmalen intuitiven und bewussten Denkens, als handele es sich um Merkmale und Dispositionen von zwei Figuren in unserem Geist. Die jüngsten Forschungen deuten darauf hin, dass das intuitive System 1 einflussreicher ist, als dies nach unserem subjektiven Erleben der Fall zu sein scheint, und es ist der geheime Urheber vieler Entscheidungen und Urteile, die wir treffen. Den Schwerpunkt dieses Buches bilden die Funktionsmechanismen von System 1 und die wechselseitigen Einflüsse zwischen System 1 und System 2.
Was als Nächstes kommt
Dieses Buch besteht aus fünf Teilen. Teil I stellt die Grundelemente einer Urteils- und Entscheidungstheorie auf der Basis zweier Systeme vor. Der Unterschied zwischen den unwillkürlichen Operationen von System 1 und den bewusst gesteuerten Operationen von System 2 wird ausführlich dargelegt, und es wird gezeigt, wie das assoziative Gedächtnis, der Kern von System 1, fortwährend eine kohärente Interpretation dessen konstruiert, was zu jedem beliebigen Zeitpunkt in unserer Welt geschieht. Ich versuche, dem Leser eine Vorstellung von der Komplexität und Reichhaltigkeit der automatischen und oftmals unbewussten Prozesse zu vermitteln, die dem intuitiven Denken zugrunde liegen, und darzustellen, wie man die Urteilsheuristiken auf der Grundlage dieser automatischen Prozesse erklären kann. Ein Ziel ist es, eine Sprache einzuführen, die es erlaubt, präziser über kognitive Prozesse nachzudenken und zu sprechen.
Teil II stellt den aktuellen Wissensstand bei Urteilsheuristiken dar und geht einer wichtigen Frage nach: Weshalb ist es für uns so schwierig, statistisch zu denken? Es fällt uns leicht, assoziativ oder metaphorisch zu denken, wir denken kausal, aber eine statistische Betrachtungsweise erfordert, dass wir an viele Dinge gleichzeitig denken, worauf System 1 nicht ausgelegt ist.
Die Schwierigkeiten, die uns statistisches Denken bereitet, leiten über zu dem Hauptthema von Teil III, der eine rätselhafte Beschränkung unseres Denkens beschreibt: unser übermäßiges Vertrauen in das, was wir zu wissen glauben, und unsere scheinbare Unfähigkeit, das ganze Ausmaß unseres Unwissens und der Unbestimmtheit der Welt zuzugeben. Wir überschätzen tendenziell unser Wissen über die Welt, und wir unterschätzen die Rolle, die der Zufall bei Ereignissen spielt. Überzogenes Vertrauen in die Vorhersagbarkeit der Welt wird durch die illusorische Gewissheit retrospektiver Einsichten gestützt. Nassim Taleb, der Autor des Buches Der Schwarze Schwan, hat meine Ansichten zu diesem Thema maßgeblich beeinflusst. Ich hoffe auf Gespräche am Kaffeeautomaten, die die Lektionen, die wir aus der Vergangenheit lernen können, auf intelligente Weise erkunden, während sie der Verlockung rückblickender Verzerrung und der Illusion der Gewissheit widerstehen.
Der Schwerpunkt von Teil IV ist ein Gespräch mit den Wirtschaftswissenschaften über die Natur der Entscheidungsfindung und die Annahme, dass ökonomische Agenten rational handeln. In diesem Abschnitt des Buches stelle ich eine aktualisierte Version der Schlüsselkonzepte der Neuen Erwartungstheorie (Prospect Theory) auf der Basis des Zwei-System-Modells vor, jener Entscheidungstheorie, die Amos und ich 1979 publizierten. Daran anschließende Kapitel befassen sich mit verschiedenen Weisen, wie menschliche Entscheidungen von den Regeln der Rationalität abweichen können. Ich befasse mich mit der bedauerlichen Neigung, Probleme isoliert zu behandeln, und mit sogenannten Framing-Effekten (»Einrahmungseffekten«), bei denen Entscheidungen maßgeblich von unwesentlichen Merkmalen der Entscheidungsprobleme beeinflusst werden. Diese Beobachtungen, die sich ohne Weiteres mit den Eigenschaften von System 1 erklären lassen, stellen eine große Herausforderung für die Rationalitätsannahme dar, wie sie in der herrschenden volkswirtschaftlichen Lehre vertreten wird.
Teil V beschreibt neueste Forschungen, die eine Unterscheidung zwischen zwei Formen des Selbst eingeführt haben - dem erlebenden Selbst und dem sich erinnernden Selbst -, die nicht die gleichen Interessen verfolgen. So können wir beispielsweise Menschen zwei schmerzhaften Erfahrungen aussetzen. Eine dieser Erfahrungen ist deutlich unangenehmer als die andere, weil sie länger dauert. Aber die automatische Bildung von Erinnerungen - ein Merkmal von System 1 - folgt bestimmten Regeln, die wir uns zunutze machen können, sodass uns die unangenehmere Episode in besserer Erinnerung bleibt. Wenn Menschen vor der Entscheidung stehen, welche Episode sie wiederholen sollen, werden sie unwillkürlich von ihrem erinnernden Selbst geleitet und setzen sich (ihr erlebendes Selbst) unnötigen Schmerzen aus. Die Differenzierung zwischen zwei Formen des Selbst wird auf die Messung des Wohlbefindens angewandt, wo wir erneut feststellen, dass das, was das erlebende Selbst glücklich macht, nicht das Gleiche ist, was das erinnernde Selbst befriedigt. Die Frage, wie beide Selbste in einem Körper Befriedigung finden können, wirft eine Reihe von Schwierigkeiten auf, sowohl für Individuen als auch für Gesellschaften, die in der Verwirklichung des Gemeinwohls eine politische Zielsetzung sehen.
In einem abschließenden Kapitel betrachten wir, in umgekehrter Reihenfolge, die Tragweite der drei in diesem Buch vorgenommenen Unterscheidungen: zwischen dem erlebenden und dem erinnernden Selbst, zwischen den Konzeptionen des Agenten in der klassischen Nationalökonomie und in der Verhaltensökonomik (die Anleihen bei der Psychologie macht) sowie zwischen dem unwillkürlichen System 1 und dem mühevollen System 2. Ich kehre zurück zu den Vorteilen eines »aufgeklärten« Bürotratschs und zu der Frage, was Organisationen tun können, um die Qualität von Urteilen und Entscheidungen, die Bedienstete in ihrem Auftrag treffen, zu verbessern. Zwei Aufsätze, die ich zusammen mit Amos geschrieben habe, sind im Anhang abgedruckt. Der zweite Aufsatz, der 1984 veröffentlicht wurde, resümiert die Neue Erwartungstheorie und unsere Studien über Framing-Effekte. Diese Artikel stellen jene wissenschaftlichen Beiträge dar, auf die das Nobelpreiskomitee Bezug genommen hat - und es wird Sie vielleicht überraschen, wie einfach sie sind. Ihre Lektüre wird Ihnen eine Vorstellung davon vermitteln, wie viel wir schon seit langer Zeit wissen, aber auch davon, was wir in den letzten Jahrzehnten dazugelernt haben.
Teil I
Zwei Systeme
Ihr Erleben beim Betrachten des Gesichts der Frau verknüpft nahtlos das, was wir normalerweise Sehen und intuitives Denken nennen. So sicher und so schnell, wie Sie sehen, dass die Frau dunkles Haar hat, erkennen Sie, dass sie wütend ist. Außerdem weist das, was Sie sehen, in die Zukunft. Sie spüren, dass diese Frau kurz davor ist, einige sehr unfreundliche Worte zu äußern, vermutlich mit lauter, schriller Stimme. Eine Vorahnung dessen, was sie als Nächstes tun wird, stellt sich automatisch und mühelos in Ihrem Bewusstsein ein. Sie hatten nicht die Absicht, ihren Gemütszustand einzuschätzen oder das, was sie als Nächstes tun würde, zu antizipieren, und Ihre Reaktion auf das Bild fühlte sich für Sie nicht wie etwas an, das Sie bewusst taten. Es widerfuhr Ihnen einfach. Es war ein Fall von schnellem Denken.
Betrachten Sie jetzt das folgende Problem:
17 × 24
Ihnen ist sofort klar, dass dies eine Multiplikationsaufgabe ist, und vermutlich wissen Sie, dass Sie sie mit Bleistift und Papier - wenn nicht sogar ohne - lösen können. Sie besitzen auch ein vages intuitives Wissen über die Spannweite möglicher Ergebnisse. Sie erkennen rasch, dass sowohl 12 609 als auch 123 unplausibel sind. Doch ohne eine gewisse Zeit auf das Problem zu verwenden, wären Sie nicht sicher, dass die Antwort nicht 568 ist. Eine exakte Lösung fällt Ihnen nicht sofort ein, und Sie haben den Eindruck, dass Sie entscheiden können, ob Sie die Berechnung durchführen wollen oder nicht. Wenn Sie es noch nicht getan haben, sollten Sie das Multiplikationsproblem jetzt zu lösen versuchen und wenigstens einen Teil davon abschließen.
Während Sie eine Reihe von Rechenschritten absolvieren, erleben Sie langsames Denken. Als Erstes haben Sie das kognitive Multiplikationsprogramm, das Sie in der Schule lernten, aus Ihrem Gedächtnis abgerufen - anschließend haben Sie dieses umgesetzt. Die Berechnung ist mühsam. Sie spüren, wie belastend es ist, viel Stoff im Gedächtnis zu behalten, weil Sie nicht den Überblick darüber verlieren dürfen, wo Sie gerade waren und wohin Sie wollen, während Sie das Zwischen ergebnis im Geist festhalten. Dieser Prozess ist geistige Arbeit: er erfordert zielgerichtete Anstrengung und Strukturierung, und er ist daher ein Prototyp langsamen Denkens. Die Berechnung ist nicht nur ein mentaler Vorgang; auch Ihr Körper ist daran beteiligt. Ihre Muskeln spannen sich an, Ihr Blutdruck steigt und Ihr Herzschlag ebenfalls. Jemand, der Ihre Augen genau beobachten würde, während Sie mit dem Problem beschäftigt sind, würde sehen, wie sich Ihre Pupillen weiten. Sobald Sie mit der Arbeit fertig sind - wenn Sie die Antwort gefunden haben (die übrigens 408 lautet) oder wenn Sie aufgegeben haben -, schrumpfen Ihre Pupillen wieder auf normale Größe.
Wenn wir an uns selbst denken, identifizieren wir uns mit System 2, dem bewussten, logisch denkenden Selbst, das Überzeugungen hat, Entscheidungen trifft und sein Denken und Handeln bewusst kontrolliert. Obwohl System 2 von sich selbst glaubt, im Zentrum des Geschehens zu stehen, ist das unwillkürliche System 1 der Held dieses Buches. In System 1 entstehen spontan die Eindrücke und Gefühle, die die Hauptquellen der expliziten Überzeugungen und bewussten Entscheidungen von System 2 sind. Die automatischen Operationen von System 1 erzeugen erstaunlich komplexe Muster von Vorstellungen, aber nur das langsamere System 2 kann in einer geordneten Folge von Schritten Gedanken konstruieren. Ich beschreibe auch Umstände, unter denen System 2 die Kontrolle übernimmt, indem es die ungezügelten Impulse und Assoziationen von System 1 verwirft. Man kann die beiden Systeme mit Akteuren vergleichen, die jeweils individuelle Fähigkeiten, Beschränkungen und Funktionen aufweisen. In näherungsweiser Reihenfolge der Komplexität sind hier einige Beispiele für die automatischen Aktivitäten aufgelistet, die System 1 zugeschrieben werden:
- Erkennen Sie, dass ein Gegenstand weiter entfernt ist als ein anderer. - Wenden Sie sich der Quelle eines plötzlichen Geräuschs zu. - Vervollständigen Sie den Ausdruck »Brot und ...« - Ziehen Sie ein »angewidertes Gesicht«, wenn man Ihnen ein grauenvolles Bild zeigt. - Hören Sie die Feindseligkeit aus einer Stimme heraus.
- Beantworten Sie: 2 + 2 = ? - Lesen Sie Wörter auf großen Reklameflächen. - Fahren Sie mit einem Auto über eine leere Straße. - Finden Sie einen starken Schachzug (wenn Sie Schachmeister sind). - Verstehen Sie einfache Sätze. - Erkennen Sie, dass eine »sanftmütige und ordentliche Person mit großer Liebe zum Detail« einem beruflichen Stereotyp entspricht. All diese mentalen Ereignisse gehören zur gleichen Kategorie wie die wütende Frau - sie geschehen automatisch und weitgehend mühelos. Zu den Funktionen von System 1 gehören angeborene Fähigkeiten, die wir mit anderen Tieren gemeinsam haben. Wir werden mit der Fähigkeit geboren, unsere Umwelt wahrzunehmen, Gegenstände zu erkennen, unsere Aufmerksamkeit zu steuern, Verluste zu vermeiden und uns vor Spinnen zu fürchten. Andere mentale Aktivitäten werden durch lange Übung zu schnellen, automatisierten Routinen. System 1 hat Assoziationen zwischen Vorstellungen gelernt (die Hauptstadt Frankreichs?); es hat auch Fähigkeiten gelernt, wie etwa das Lesen und Verstehen von Nuancen sozialer Situationen. Einige Fähigkeiten, wie etwa das Finden starker Schachzüge, werden nur von spezialisierten Experten erworben. Andere sind weitverbreitet. Um die Ähnlichkeit eines Persönlichkeitsprofils mit einem beruflichen Stereotyp zu erkennen, benötigt man ein umfassendes Wissen um Sprache und Kultur, das die meisten von uns besitzen. Das Wissen ist im Gedächtnis gespeichert und wird ohne Intention und ohne Anstrengung abgerufen.
Etliche der mentalen Aktivitäten in der Liste erfolgen vollkommen unwillkürlich. Man kann sich nicht davon abhalten, einfache Sätze in seiner Muttersprache zu verstehen oder sich zu einem unerwarteten lauten Geräusch umzudrehen, noch kann man sich daran hindern, zu wissen, dass 2 + 2 = 4 ist, oder an Paris zu denken, wenn von der Hauptstadt Frankreichs die Rede ist. Andere Aktivitäten, wie das Kauen, sind der willentlichen Kontrolle zugänglich, werden für gewöhnlich aber von einem Autopiloten gesteuert. Beide Systeme sind an der Aufmerksamkeitssteuerung beteiligt. Die Hinwendung zu einem lauten Geräusch ist normalerweise eine unwillkürliche Operation von System 1, das sofort die willkürliche Aufmerksamkeit von System 2 mobilisiert. Vielleicht können Sie dem Impuls widerstehen, sich der Quelle einer lauten und unverschämten Bemerkung bei einer übervollen Party zuzuwenden, aber selbst wenn sich Ihr Kopf nicht bewegt, ist Ihre Aufmerksamkeit zunächst auf die Quelle gerichtet, zumindest eine Zeit lang. Allerdings kann die Aufmerksamkeit von einem ungewollten Fokus abgezogen werden, hauptsächlich dadurch, dass man sich gezielt auf etwas anderes konzentriert. Die höchst vielfältigen Aktivitäten von System 2 haben ein Merkmal gemeinsam: Sie erfordern Aufmerksamkeit, und sie werden gestört, wenn die Aufmerksamkeit abgezogen wird.
Hier sind einige Beispiele:
- Sich bei einem Wettlauf auf den Startschuss einstellen. - Die Aufmerksamkeit auf die Clowns in einem Zirkus richten. - Sich auf die Stimme einer bestimmten Person in einem überfüllten und sehr lauten Raum konzentrieren. - Nach einer Frau mit weißem Haar Ausschau halten. - Das Gedächtnis durchsuchen, um ein ungewohntes Geräusch zu identifizieren. - Schneller gehen, als Sie es normalerweise tun. - Die Angemessenheit Ihres Verhaltens in einer sozialen Situation überwachen. - Zählen, wie oft der Buchstabe a auf einer Textseite vorkommt. - Jemandem seine Telefonnummer mitteilen. - In eine schmale Lücke einparken (für die meisten Leute, bis auf die Mitarbeiter von Kfz-Werkstätten). - Zwei Waschmaschinen auf das bessere Preis-Leistungs-Verhältnis hin vergleichen. - Eine Steuererklärung anfertigen. - Die Gültigkeit einer komplexen logischen Beweisführung überprüfen. In all diesen Situationen muss man sich konzentrieren, und die Leistung, die man erbringt, fällt schlechter aus, wenn man nicht dazu bereit ist oder wenn die Aufmerksamkeit in unangemessener Weise fokussiert wird. System 2 besitzt die Fähigkeit, die Funktionsweise von System 1 in gewissem Umfang zu verändern, indem es die normalerweise automatischen Funktionen von Aufmerksamkeit und Gedächtnis programmiert. Wenn man zum Beispiel auf einem belebten Bahnhof auf einen Verwandten wartet, kann man sich willentlich darauf konzentrieren, nach einer weißhaarigen Frau oder einem bärtigen Mann Ausschau zu halten, und dadurch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass man den Verwandten schon von fern bemerkt. Man kann in seinem Gedächtnis gezielt nach Hauptstädten, die mit dem Buchstaben N beginnen, oder nach den Titeln existenzialistischer französischer Romane suchen. Und wenn man ein Auto am Londoner Heathrow Airport mietet, wird einen der Mitarbeiter vermutlich daran erinnern, dass »wir hier links fahren«. In all diesen Fällen wird man aufgefordert, etwas zu tun, was nicht spontan geschieht, und man stellt fest, dass die Aufrechterhaltung einer bestimmten Einstellung zumindest ein gewisses Maß an andauernder Anstrengung erfordert. Der im Englischen häufig verwendete Ausdruck to pay attention (wörtlich: »Aufmerksamkeit zahlen«, also schenken) ist passend: Man verfügt über ein begrenztes Aufmerksamkeitsbudget, das man auf verschiedene Aktivitäten verteilen kann; wenn man versucht, sein Budget zu überschreiten, misslingt dies. Es ist das Kennzeichen anstrengender Aktivitäten, dass sie einander überlagern, und aus diesem Grund ist es schwer oder unmöglich, mehrere gleichzeitig auszuführen. Wir können nicht das Produkt von 17 × 24 berechnen, während wir bei dichtem Verkehr links abbiegen, und man sollte es mit Sicherheit gar nicht erst versuchen. Man kann mehrere Dinge gleichzeitig tun, aber nur wenn sie einfach und anspruchslos sind. Es ist wahrscheinlich ungefährlich, wenn Sie mit Ihrem Beifahrer plaudern, während Sie auf einer leeren Fernstraße fahren, und viele Eltern haben entdeckt - vielleicht mit einem leicht schlechten Gewissen -, dass sie einem Kind eine Geschichte vorlesen können, während sie an etwas anderes denken.
Jeder Mensch ist sich seiner begrenzten Aufmerksamkeitskapazität irgendwie bewusst, und unser soziales Verhalten berücksichtigt diese Beschränkungen. Wenn der Fahrer eines Autos auf einer schmalen Straße einen Laster überholt, verstummen die erwachsenen Mitfahrer aus nachvollziehbaren Gründen jäh. Sie wissen, dass es keine gute Idee ist, den Fahrer abzulenken, und sie nehmen auch an, dass er vorübergehend taub ist und nicht hören würde, was sie sagen.
Die intensive Konzentration auf eine Aufgabe kann Menschen tatsächlich blind für Stimuli machen, die normalerweise ihre Aufmerksamkeit erregen würden. Die spektakulärste Demonstration dafür lieferten Christopher Chabris und Daniel Simons in ihrem Buch Der unsichtbare Gorilla. Sie produzierten einen kurzen Film über zwei Mannschaften, die sich Basketbälle zuspielten, wobei ein Team weiße Hemden trug und das andere schwarze. Die Betrachter des Films werden aufgefordert, die Zahl der Ballwechsel der weißen Mannschaft zu zählen und die schwarzen Spieler zu ignorieren. Das ist eine schwierige Aufgabe, die volle Konzentration verlangt. Ungefähr in der Mitte des Videos taucht eine Frau auf, die als Gorilla verkleidet ist, überquert das Spielfeld und verschwindet wieder. Der Gorilla ist neun Sekunden lang zu sehen. Tausende von Menschen haben sich das Video angeschaut, und etwa der Hälfte von ihnen fällt nichts Ungewöhnliches auf. Ursache dieser Blindheit ist die Zählaufgabe - und insbesondere die Anweisung, eines der Teams zu ignorieren. Niemand, der das Video ohne diese Aufgabe betrachtet, würde den Gorilla übersehen. Sehen und Sich-orientieren sind automatische Funktionen von System 1, aber sie sind darauf angewiesen, dass dem relevanten Stimulus eine gewisse Aufmerksamkeit zugewendet wird. Die Autoren weisen darauf hin, dass die bemerkenswerteste Beobachtung ihrer Studie darin besteht, dass Menschen deren Ergebnisse sehr überraschend finden. Tatsächlich sind die Filmbetrachter, die den Gorilla nicht gesehen haben, zunächst fest davon überzeugt, dass er nicht da war - sie können sich nicht vorstellen, dass ihnen ein so auffallendes Ereignis entgangen ist. Die Gorilla-Studie verdeutlicht zwei wichtigen Tatsachen über mentale Prozesse: Wir können gegenüber dem Offensichtlichen blind sein, und wir sind darüber hinaus blind für unsere Blindheit.
Der Gang der Handlung - ein kurzer Überblick
Die Wechselwirkung zwischen den beiden Systemen ist ein ständig wiederkehrendes Thema dieses Buches, und es dürfte hilfreich sein, den Handlungsverlauf kurz zusammenzufassen. In der Geschichte, die ich erzählen werde, sind sowohl System 1 als auch System 2 immer aktiv, wenn wir wach sind. System 1 läuft automatisch, und System 2 befindet sich normalerweise in einem angenehmen Modus geringer Anstrengung, in dem nur ein Teil seiner Kapazität in Anspruch genommen wird. System 1 generiert fortwährend Vorschläge für System 2: Eindrücke, Intuitionen, Absichten und Gefühle. Wenn Eindrücke und Intuitionen von System 2 unterstützt werden, werden sie zu Überzeugungen, und Impulse werden zu willentlich gesteuerten Handlungen. Wenn alles glattläuft, was meistens der Fall ist, macht sich System 2 die Vorschläge von System 1 ohne größere Modifikationen zu eigen. Im Allgemeinen vertraut man seinen Eindrücken und gibt seinen Wünschen nach, und das ist in Ordnung so - für gewöhnlich.
Wenn System 1 in Schwierigkeiten gerät, fordert es von System 2 eine detailliertere und spezifischere Verarbeitung an, die das anstehende Problem möglicherweise lösen wird. System 2 wird mobilisiert, wenn eine Frage auftaucht, für die System 1 keine Antwort bereitstellt, wie es vermutlich der Fall war, als Sie mit dem Multiplikationsproblem 17 × 24 konfrontiert waren. Auch wenn etwas Überraschendes geschieht, kommt es zu einem jähen Anstieg der bewussten Aufmerksamkeit. System 2 wird aktiviert, wenn ein Ereignis registriert wird, das gegen das Weltmodell von System 1 verstößt. In dieser Welt gibt es keine hüpfenden Lampen, bellenden Katzen und keine Gorillas, die über Basketballfelder laufen. Das Gorilla-Experiment zeigt, dass der unerwartete Reiz nur dann wahrgenommen wird, wenn eine gewisse Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt wird. Die Überraschung aktiviert und orientiert dann die Aufmerksamkeit: Man heftet den Blick auf den Reiz, und man durchsucht sein Gedächtnis nach einer Geschichte, die dem unerwarteten Ereignis einen Sinn gibt. System 2 ist auch für die fortwährende Überwachung des Verhaltens zuständig - die Kontrolle, die gewährleistet, dass man höflich bleibt, wenn man wütend ist, und dass man hellwach bleibt, wenn man nachts Auto fährt. System 2 wird hochgefahren, sobald es einen drohenden Fehler bemerkt. Erinnern Sie sich an eine Gelegenheit, bei der Ihnen beinahe eine unverschämte Bemerkung über die Lippen gekommen wäre, und erinnern Sie sich, wie hart Sie darum ringen mussten, die Kontrolle wiederzuerlangen. Kurz und gut, der größte Teil dessen, was Sie (Ihr System 2) denken und tun, geht aus System 1 hervor, aber System 2 übernimmt, sobald es schwierig wird, und es hat normalerweise das letzte Wort.
Die Arbeitsteilung zwischen System 1 und System 2 ist höchst effizient: Sie minimiert den Aufwand und optimiert die Leistung. Diese Regelung funktioniert meistens gut, weil System 1 im Allgemeinen höchst zuverlässig arbeitet: seine Modelle vertrauter Situationen sind richtig, seine kurzfristigen Vorhersagen sind in der Regel ebenfalls zutreffend, und seine anfänglichen Reaktionen auf Herausforderungen sind prompt und im Allgemeinen angemessen. Die Leistungsfähigkeit von System 1 wird jedoch durch kognitive Verzerrungen beeinträchtigt, systematische Fehler, für die es unter spezifischen Umständen in hohem Maße anfällig ist. Wie wir sehen werden, beantwortet es manchmal Fragen, die leichter sind als jene, die ihm gestellt wurden, und es versteht kaum etwas von Logik und Statistik. Eine weitere Beschränkung von System 1 besteht darin, dass es nicht abgeschaltet werden kann. Wenn Sie auf einem Bildschirm ein Wort in einer Sprache sehen, die Sie kennen, lesen Sie es - es sei denn, Ihre Aufmerksamkeit wird von etwas anderem vollkommen in Beschlag genommen.
Konflikt
Als Erstes lesen Sie die beiden Spalten von oben nach unten durch, wobei Sie laut aussprechen, ob das jeweilige Wort in Klein- oder Großbuchstaben geschrieben ist. Wenn Sie die erste Aufgabe erledigt haben, gehen Sie die beiden Spalten abermals durch und erklären bei jedem Wort, ob es links oder rechts der Mitte abgedruckt ist, indem sie »links« oder »rechts« sagen (oder sich selbst zuflüstern).
Wahrscheinlich haben Sie in beiden Aufgaben die richtigen Wörter gesagt, und Sie haben vermutlich bemerkt, dass einige Teile jeder Aufgabe viel leichter als andere waren. Als Sie Groß- und Kleinschreibung benannten, war die linke Spalte leicht, während Sie in der rechten Spalte langsamer wurden und vielleicht ins Stottern und Stocken kamen. Als Sie die Stellung der Wörter angeben sollten, war die linke Spalte schwierig und die rechte Spalte war viel einfacher.
Diese Aufgaben beanspruchen System 2, weil Sie beim Betrachten einer Spalte von Wörtern für gewöhnlich nicht »groß«, »klein« oder »rechts«, »links« sagen. Um sich auf die Aufgabe vorzubereiten, haben Sie unter anderem Ihr Gedächtnis so programmiert, dass Ihnen die relevanten Wörter (»groß« und »klein« für die erste Aufgabe) »auf der Zunge« lagen. Die Priorisierung der gewählten Wörter ist effektiv, und der schwachen Versuchung, andere Wörter zu lesen, konnten Sie recht leicht widerstehen, als Sie die erste Spalte durchgingen. Aber bei der zweiten Spalte war es anders, weil sie Wörter enthielt, auf die Sie eingestellt waren und die Sie nicht ignorieren konnten. Sie konnten größtenteils richtig antworten, aber es kostete Sie Mühe, die konkurrierende Antwort zu überwinden, und es bremste Sie aus. Sie erlebten einen Konflikt zwischen einer Aufgabe, die Sie erledigen wollten, und einer automatischen Antwort, die damit interferierte.
Konflikte zwischen einer automatischen Reaktion und dem Willen, die Kontrolle zu behalten, kommen in unserem Leben häufig vor. Wir alle haben schon erlebt, wie wir gegen den Impuls ankämpften, das seltsam angezogene Pärchen am Nachbartisch in einem Restaurant anzugaffen. Wir wissen auch alle, wie es ist, wenn man sich dazu zwingen muss, seine Aufmerksamkeit auf ein langweiliges Buch zu richten, und man immer wieder an die Stelle zurückkehrt, wo man den Faden verloren hat. In Gegenden mit harten Wintern erinnern sich viele Fahrer daran, wie ihr Wagen auf dem Eis ins Rutschen kam, sich nicht mehr kontrollieren ließ und sie darum rangen, die gründlich einstudierten Regeln zu befolgen, die das genaue Gegenteil dessen waren, was sie intuitiv tun würden: »In die Richtung lenken, in die der Wagen schleudert, und auf keinen Fall bremsen!« Und jeder Mensch hat schon erlebt, dass er jemandem nicht gesagt hat, er solle sich zum Teufel scheren. Eine der Aufgaben von System 2 besteht darin, die Impulse von System 1 zu überwinden. Anders gesagt, System 2 ist für die Selbstbeherrschung zuständig.
Illusionen
Um die Autonomie von System 1 und den Unterschied zwischen Eindrücken und Überzeugungen zu verstehen, sollten Sie sich Abbildung 3 genau ansehen. Das Bild ist nicht weiter bemerkenswert: zwei horizontale Linien unterschiedlicher Länge, die mit Pfeilspitzen oder »Schwanzflossen« versehen sind, die in unterschiedliche Richtungen zeigen. Die untere Linie ist scheinbar länger als die darüber. Das sehen wir alle, und wir glauben spontan, was wir sehen. Aber wenn Sie dieses Bild schon einmal gesehen haben, wissen Sie, dass es sich um die berühmte Müller-Lyer-Illusion handelt. Wie Sie leicht selbst überprüfen können, indem Sie die horizontalen Linien mit einem Lineal nachmessen, sind beide tatsächlich genau gleich lang.
Jetzt, nachdem Sie die Linien gemessen haben, haben Sie - Ihr System 2, das mit Bewusstsein begabte Wesen, das Sie »ich« nennen - eine neue Überzeugung: Sie wissen, dass die Linien gleich lang sind. Wenn Sie nach ihrer Länge gefragt werden, sagen Sie, was Sie wissen. Aber die untere Linie erscheint nach wie vor als die längere. Sie haben sich entschieden, der Messung zu glauben, aber Sie können System 1 nicht von seiner gewohnten Aktivität abhalten; Sie können nicht durch einen Willensentschluss Ihre Wahrnehmung so verändern, dass Sie die Linien als gleich lang sehen, obwohl Sie wissen, dass sie gleich lang sind. Um nicht der Illusion zu erliegen, können Sie nur eines tun: Sie müssen lernen, Ihren Wahrnehmungen der Länge von Linien zu misstrauen, wenn sie mit »Pfeilspitzen« oder »Schwanzflossen« versehen sind. Um diese Regeln zu befolgen, müssen Sie das illusorische Muster erkennen und sich an das erinnern, was Sie darüber wissen. Wenn Sie dies tun können, werden Sie sich nie mehr von der Müller-Lyer-Illusion hinters Licht führen lassen. Aber die eine Linie wird Ihnen nach wie vor länger erscheinen als die andere.
Es gibt nicht nur optische Täuschungen. Es gibt auch Illusionen des Denkens, die wir »kognitive Täuschungen« nennen. Als Student besuchte ich auch einige Lehrveranstaltungen über die Kunst und die Wissenschaft der Psychotherapie. In einer dieser Vorlesungen teilte uns der Dozent eine Lektion aus seiner langjährigen klinischen Erfahrung mit: »Hin und wieder werden Sie einem Patienten begegnen, der Sie mit der Äußerung verstören wird, dass in seinen zurückliegenden Therapien zahlreiche Fehler gemacht wurden. Er suchte mehrere klinische Therapeuten auf, und alle enttäuschten ihn. Der Patient kann in nachvollziehbarer Weise schildern, wie ihn seine Therapeuten
© der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Siedler Verlag, München
Um zuverlässige Diagnosen zu stellen, muss ein Arzt eine Vielzahl von Krankheitsbezeichnungen lernen, und jeder dieser Termini verknüpft ein Konzept der Erkrankung mit ihren Symptomen, möglichen Vorstufen und Ursachen, möglichen Verläufen und Konsequenzen sowie möglichen Eingriffen zur Heilung oder Linderung der Krankheit. Das Erlernen der ärztlichen Heilkunst besteht auch darin, die medizinische Fachsprache zu erlernen. Um Urteile und Entscheidungen besser verstehen zu können, bedarf es eines reichhaltigeren Wortschatzes, als ihn die Alltagssprache zur Verfügung stellt. Die Tatsache, dass unsere Fehler charakteristische Muster aufweisen, begründet die Hoffnung darauf, dass andere in sachlich fundierter Weise über uns reden mögen. Systematische Fehler - auch »Verzerrungen« (biases) genannt - treten in vorhersehbarer Weise unter bestimmten Umständen auf. Wenn ein attraktiver und selbstbewusster Redner dynamisch aufs Podium springt, kann man davon ausgehen, dass das Publikum seine Äußerungen günstiger beurteilt, als er es eigentlich verdient. Die Verfügbarkeit eines diagnostischen Etiketts für diesen systematischen Fehler - der Halo-Effekt - erleichtert es, ihn vorwegzunehmen, zu erkennen und zu verstehen.
Wenn Sie gefragt werden, woran Sie gerade denken, können Sie diese Frage normalerweise beantworten. Sie glauben zu wissen, was in Ihrem Kopf vor sich geht - oftmals führt ein bewusster Gedanke in wohlgeordneter Weise zum nächsten. Aber das ist nicht die einzige Art und Weise, wie unser Denkvermögen (mind) funktioniert, es ist nicht einmal seine typische Funktionsweise. Die meisten Eindrücke und Gedanken tauchen in unserem Bewusstsein auf, ohne dass wir wüssten, wie sie dorthin gelangten. Sie können nicht rekonstruieren, wie Sie zu der Überzeugung gelangten, eine Lampe stehe auf dem Schreibtisch vor Ihnen, wie es kam, dass Sie eine Spur von Verärgerung aus der Stimme Ihres Gatten am Telefon heraushörten, oder wie es Ihnen gelang, einer Gefahr auf der Straße auszuweichen, ehe Sie sich ihrer bewusst wurden. Die mentale Arbeit, die Eindrücke, Intuitionen und viele Entscheidungen hervorbringt, vollzieht sich im Stillen in unserem Geist.
Ein Schwerpunkt dieses Buches sind Fehler in unserem intuitiven Denken. Doch die Konzentration auf diese Fehler bedeutet keine Herabsetzung der menschlichen Intelligenz, ebenso wenig, wie das Interesse an Krankheiten in medizinischen Texten Gesundheit verleugnet. Die meisten von uns sind die meiste Zeit ihres Lebens gesund, und die meisten unserer Urteile und Handlungen sind meistens angemessen. Auf unserem Weg durchs Leben lassen wir uns normalerweise von Eindrücken und Gefühlen leiten, und das Vertrauen, das wir in unsere intuitiven Überzeugungen und Präferenzen setzen, ist in der Regel gerechtfertigt. Aber nicht immer. Wir sind oft selbst dann von ihrer Richtigkeit überzeugt, wenn wir irren, und ein objektiver Beobachter erkennt unsere Fehler mit höherer Wahrscheinlichkeit als wir selbst.
Und so wünsche ich mir, dass dieses Buch die Gespräche am Kaffeeautomaten dadurch verändert, dass es unsere Fähigkeit verbessert, Urteils- und Entscheidungsfehler von anderen und schließlich auch von uns selbst zu erkennen und verstehen, indem es dem Leser eine differenzierte und exakte Sprache an die Hand gibt, in der sich diese Fehler diskutieren lassen. Eine zutreffende Diagnose mag wenigstens in einigen Fällen eine Korrektur ermöglichen, um den Schaden, den Fehlurteile und -entscheidungen verursachen, zu begrenzen.
Entstehung
Dieses Buch stellt mein gegenwärtiges Verständnis von Urteils- und Entscheidungsprozessen dar, das maßgeblich von psychologischen Entdeckungen der letzten Jahrzehnte geprägt wurde. Die zentralen Ideen gehen allerdings auf jenen glücklichen Tag des Jahres 1969 zurück, an dem ich einen Kollegen bat, als Gastredner in einem Seminar zu sprechen, das ich am Fachbereich Psychologie der Hebräischen Universität von Jerusalem hielt. Amos Tversky galt als ein aufstrebender Star auf dem Gebiet der Entscheidungsforschung - ja, auf allen Forschungsfeldern, auf denen er sich tummelte -, sodass ich wusste, dass es eine interessante Veranstaltung werden würde. Viele Menschen, die Amos kannten, hielten ihn für die intelligenteste Person, der sie je begegnet waren. Er war brillant, redegewandt und charismatisch. Er war auch mit einem vollkommenen Gedächtnis für Witze gesegnet und mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit, mit ihrer Hilfe ein Argument zu verdeutlichen. In Amos' Gegenwart war es nie langweilig. Er war damals 32, ich war 35. Amos berichtete den Seminarteilnehmern von einem aktuellen Forschungsprogramm an der Universität Michigan, bei dem es um die Beantwortung der folgenden Frage ging: Sind Menschen gute intuitive Statistiker? Wir wussten bereits, dass Menschen gute intuitive Grammatiker sind: Ein vierjähriges Kind befolgt, wenn es spricht, mühelos die Regeln der Grammatik, obwohl es die Regeln als solche nicht kennt. Haben Menschen ein ähnlich intui tives Gespür für die grundlegenden Prinzipien der Statistik? Amos berichtete, die Antwort darauf sei ein bedingtes Ja. Wir hatten im Seminar eine lebhafte Diskussion, und wir verständigten uns schließlich darauf, dass ein bedingtes Nein eine bessere Antwort sei. Amos und mir machte dieser Meinungsaustausch großen Spaß, und wir gelangten zu dem Schluss, dass intuitive Statistik ein interessantes Forschungsgebiet sei und dass es uns reizen würde, dieses Feld gemeinsam zu erforschen. An jenem Freitag trafen wir uns zum Mittagessen im Café Rimon, dem Stammlokal von Künstlern und Professoren in Jerusalem, und planten eine Studie über die statistischen Intuitionen von Wissenschaftlern. Wir waren in diesem Seminar zu dem Schluss gelangt, dass unsere eigene Intuition unzureichend war. Obwohl wir beide schon jahrelang Statistik lehrten und anwandten, hatten wir kein intuitives Gespür für die Zuverlässigkeit statistischer Ergebnisse bei kleinen Stichproben entwickelt. Unsere subjektiven Urteile waren verzerrt: Wir schenkten allzu bereitwillig Forschungsergebnissen Glauben, die auf unzureichender Datengrundlage basierten, und neigten dazu, bei unseren eigenen Forschungsarbeiten zu wenig Beobachtungsdaten zu erheben. 1 Mit unserer Studie wollten wir herausfinden, ob andere Forscher an der gleichen Schwäche litten.
Wir bereiteten eine Umfrage vor, die realistische Szenarien statistischer Probleme beinhaltete, die in der Forschung auftreten. Amos trug die Antworten einer Gruppe von Experten zusammen, die an einer Tagung der Society of Mathematical Psychology teilnahmen, darunter waren auch die Verfasser zweier Statistik-Lehrbücher. Wie erwartet fanden wir heraus, dass unsere Fachkollegen, genauso wie wir, die Wahrscheinlichkeit, dass das ursprüngliche Ergebnis eines Experiments auch bei einer kleinen Stichprobe erfolgreich reproduziert werden würde, enorm überschätzten. Auch gaben sie einer fiktiven Studentin sehr ungenaue Auskünfte über die Anzahl der Beobachtungsdaten, die sie erheben müsse, um zu einer gültigen Schlussfolgerung zu gelangen. Selbst Statistiker waren also keine guten intuitiven Statistiker. Als wir den Artikel schrieben, in dem wir diese Ergebnisse darlegten, stellten Amos und ich fest, dass uns die Zusammenarbeit großen Spaß machte. Amos war immer sehr witzig, und in seiner Gegenwart wurde auch ich witzig, sodass wir Stunden gewissenhafter Arbeit in fortwährender Erheiterung verbrachten. Die Freude, die wir aus unserer Zusammenarbeit zogen, machte uns ungewöhnlich geduldig; man strebt viel eher nach Perfektion, wenn man sich nicht langweilt. Am wichtigsten war vielleicht, dass wir unsere kritischen Waffen an der Tür abgaben. Sowohl Amos als auch ich waren kritisch und streitlustig - er noch mehr als ich, aber in den Jahren unserer Zusammenarbeit hat keiner von uns beiden irgendetwas, was der andere sagte, rundweg abgelehnt. Eine der größten Freuden, die mir die Zusammenarbeit mit Amos schenkte, bestand gerade darin, dass er viel deutlicher als ich selbst sah, worauf ich mit meinen vagen Gedanken hinauswollte. Amos war der bessere Logiker von uns beiden, er war theoretisch versierter und hatte einen untrüglichen Orientierungssinn. Ich hatte einen intuitiveren Zugang und war stärker in der Wahrnehmungspsychologie verwurzelt, aus der wir viele Ideen übernahmen. Wir waren einander hinreichend ähnlich, um uns mühelos zu verständigen, und wir waren hinreichend unterschiedlich, um uns gegenseitig zu überraschen. Wir verbrachten routinemäßig einen Großteil unserer Arbeitstage zusammen, oftmals auf langen Spaziergängen. Während der kommenden 14 Jahre bildete diese Zusammenarbeit den Mittelpunkt unserer Leben, und unsere gemeinsamen Arbeiten aus dieser Zeit waren das Beste, was jeder von uns überhaupt an wissenschaftlichen Beiträgen lieferte.
Wir entwickelten schon bald eine bestimmte Vorgehensweise, die wir viele Jahre lang beibehielten. Unsere Forschung bestand in einem Gespräch, in dem wir Fragen erfanden und gemeinsam unsere intuitiven Antworten überprüften. Jede Frage war ein kleines Experiment, und wir führten an jedem Tag viele Experimente durch. Wir suchten nicht ernsthaft nach der richtigen Antwort auf die statistischen Fragen, die wir stellten. Wir wollten die intuitive Antwort herausfinden und analysieren, die erste, die uns einfiel, diejenige, die wir spontan geben wollten, auch wenn wir wussten, dass sie falsch war. Wir glaubten - richtigerweise, wie sich zeigte -, dass jede Intuition, die wir beide teilten, auch von vielen anderen geteilt würde und dass es leicht wäre, ihre Auswirkungen auf Urteile nachzuweisen. Einmal entdeckten wir zu unserer großen Freude, dass wir die gleichen verrückten Ideen über die zukünftigen Berufe mehrerer Kleinkinder hatten, die wir beide kannten. Wir identifizierten den streitlustigen dreijährigen Anwalt, den schrulligen Professor, den empathischen und leicht zudringlichen Psychotherapeuten. Natürlich waren diese Vorhersagen absurd, aber wir fanden sie trotzdem reizvoll. Es war auch klar, dass unsere Intui tionen von der Ähnlichkeit beeinflusst wurden, die das jeweilige Kind mit dem kulturellen Stereotyp eines bestimmten Berufs aufwies. Diese lustige Übung half uns dabei, eine Theorie zu entwickeln, die damals in unseren Köpfen im Entstehen begriffen war, und zwar über die Bedeutung der Ähnlichkeit bei Vorhersagen. Wir überprüften und verfeinerten diese Theorie in Dutzenden von Experimenten, wie etwa dem folgenden.
Wenn Sie über die nächste Frage nachdenken, sollten Sie davon ausgehen, dass Steve zufällig aus einer repräsentativen Stichprobe ausgewählt wurde:
Eine Person wurde von einem Nachbarn wie folgt beschrieben: »Steve ist sehr scheu und verschlossen, immer hilfsbereit, aber kaum an anderen oder an der Wirklichkeit interessiert. Als sanftmütiger und ordentlicher Mensch hat er ein Bedürfnis nach Ordnung und Struktur und eine Passion für Details.« Ist Steve eher Bibliothekar oder eher Landwirt?
Die Ähnlichkeit von Steves Persönlichkeit mit dem Stereotyp eines Bibliothekars fällt jedem sofort ins Auge, aber dabei werden sachdienliche statistische Erwägungen fast immer außer Betracht gelassen. Wussten Sie, dass in den Vereinigten Staaten auf jeden männlichen Bibliothekar zwanzig Landwirte kommen? Weil es so viel mehr Landwirte gibt, wird man höchstwahrscheinlich auch mehr »sanftmütige und ordentliche« Menschen auf Traktoren als hinter den Informationsschaltern von Bibliotheken finden. Wir stellten jedoch fest, dass diejenigen, die an unseren Experimenten teilnahmen, die relevanten statistischen Fakten außer Acht ließen und sich ausschließlich auf die Ähnlichkeit stützten. Wir nahmen an, dass sie die Ähnlichkeit als eine vereinfachende Heuristik (grob gesagt: eine Faustregel) benutzten, um ein schwieriges Urteil zu fällen. Das Vertrauen auf die Heuristik verursachte vorhersehbare Verzerrungen in ihren Vorhersagen.
Ein anderes Mal fragten Amos und ich uns nach der Scheidungsrate bei Professoren an unserer Universität. Wir bemerkten, dass die Frage eine Gedächtnissuche nach geschiedenen Professoren, die wir kannten oder von denen wir gehört hatten, auslöste und dass wir die Größe der Kategorien nach der Leichtigkeit beurteilten, mit denen uns die Beispiele einfielen. Wir nannten diese Orientierung an der Leichtigkeit der Gedächtnissuche »Verfügbarkeitsheuristik « (availability heuristic). In einer unserer Studien forderten wir die Teilnehmer auf, eine einfache Frage über Wörter in einem typischen englischen Text zu beantworten:
Betrachten Sie den Buchstaben K.
Taucht K eher als erster oder als dritter Buchstabe in einem Wort auf?
Wie jeder Scrabble-Spieler weiß, ist es viel leichter, Wörter zu finden, die mit einem bestimmten Buchstaben anfangen, als Wörter, die denselben Buchstaben an der dritten Stelle aufweisen. Dies gilt für alle Buchstaben des Alphabets. Aus diesem Grund erwarteten wir, dass die Versuchsteilnehmer die Häufigkeit von Buchstaben an der ersten Stelle überschätzen würden - selbst der Buchstaben (wie K, L, N, R, V), die im Englischen tatsächlich häufiger an der dritten Stelle vorkommen. Hier führt der Rückgriff auf eine Heuristik erneut zu einem vorhersagbaren Urteilsfehler. So bezweifle ich beispielsweise mittlerweile meinen lange gehegten Eindruck, Ehebruch komme bei Politikern häufiger vor als bei Ärzten oder Anwälten. Ich hatte mir sogar Erklärungen für die »Tatsache« einfallen lassen, wie etwa die aphrodisierende Wirkung von Macht und die Verlockungen des Lebens fern von zu Hause. Ich erkannte schließlich, dass über die Fehltritte von Politikern mit viel höherer Wahrscheinlichkeit berichtet wird als über die von Anwälten und Ärzten. Mein intuitiver Eindruck war womöglich ausschließlich auf die Themenwahl von Journalisten und meine Anwendung der Verfügbarkeitsheuristik zurückzuführen.
Amos und ich verbrachten mehrere Jahre damit, Verzerrungen des intuitiven Denkens bei verschiedenen Aufgaben zu erforschen und zu dokumentieren: bei der Zuschreibung von Eintrittswahrscheinlichkeiten zu Ereignissen, bei Vorhersagen über zukünftige Ereignisse, bei der Beurteilung von Hypothesen und der Abschätzung von Häufigkeiten. Im fünften Jahr unserer Zusammenarbeit stellten wir unsere wichtigsten Ergebnisse im Wissenschaftsmagazin Science vor, das von Wissenschaftlern vieler Disziplinen gelesen wird. Der Artikel (der in ganzer Länge am Ende dieses Buches abgedruckt ist) trug den Titel »Judgement under Uncertainty: Heuristics and Biases« (»Urteile unter Unsicherheit: Heuristiken und kognitive Verzerrungen«). Er beschrieb die vereinfachenden Abkürzungen des intuitiven Denkens und erläuterte etwa zwanzig kognitive Verzerrungen als Beispiele dieser Heuristiken - und auch, um die Rolle dieser Heuristiken bei der Urteilsbildung zu verdeutlichen.
Wissenschaftshistoriker haben oft darauf hingewiesen, dass bei den Wissenschaftlern eines Fachgebiets zu jedem beliebigen Zeitpunkt Einigkeit über die Grundannahmen ihrer Disziplin besteht. Sozialwissenschaftler bilden da keine Ausnahme; sie gehen von einem Bild der menschlichen Natur aus, das den Hintergrund der meisten Diskussionen über bestimmte Verhaltensweisen bildet und nur selten infrage gestellt wird. In den 1970er-Jahren erachteten die meisten Sozialwissenschaftler zwei Annahmen über die menschliche Natur als erwiesen. Zum einen, dass Menschen sich im Allgemeinen rational verhalten und normalerweise klar denken. Zum anderen, dass Emotionen wie Furcht, Zuneigung und Hass die meisten Fälle erklären, in denen Menschen von der Rationalität abweichen.
Unser Artikel stellte beide Annahmen infrage, ohne sie direkt zu diskutieren. Wir dokumentierten systematische Fehler im Denken gewöhnlicher Menschen und führten diese Fehler auf die Konstruktion des Kognitionsmechanismus zurück und nicht auf die Verfälschung des Denkens durch Emotionen.
Unser Artikel stieß auf viel mehr Beachtung, als wir erwartet hatten, und er ist noch immer einer der meistzitierten Beiträge in den Sozialwissenschaften (im Jahr 2010 bezogen sich über 300 wissenschaftliche Aufsätze darauf ). Wissenschaftler in anderen Disziplinen fanden ihn nützlich, und das Konzept der Heuristiken und kognitiven Verzerrungen wurde in vielen Bereichen, wie etwa bei der medizinischen Diagnose, der Rechtsprechung, der Auswertung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse, der Philosophie, der Finanzwissenschaft, der Statistik und der Militärstrategie, gewinnbringend angewendet.
So haben beispielsweise Politikwissenschaftler herausgefunden, dass die Verfügbarkeitsheuristik zu erklären hilft, weshalb einige Probleme in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit finden, während andere vernachlässigt werden. Menschen neigen dazu, die relative Bedeutung von Problemen danach zu beurteilen, wie leicht sie sich aus dem Gedächtnis abrufen lassen - und diese Abrufleichtigkeit wird weitgehend von dem Ausmaß der Medienberichterstattung bestimmt. Häufig erwähnte Themen ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich, während andere aus dem Bewusstsein verschwinden. Andererseits entspricht das, worüber die Medien berichten, ihrer Einschätzung dessen, was die Öffentlichkeit gegenwärtig bewegt. Es ist kein Zufall, dass autoritäre Regime unabhängige Medien unter erheblichen Druck setzen. Da das Interesse der Öffentlichkeit am leichtesten durch dramatische Ereignisse und Stars geweckt wird, sind mediale »Fressorgien« weitverbreitet. So war es beispielsweise nach Michael Jacksons Tod mehrere Wochen lang praktisch unmöglich, einen Fernsehsender zu finden, der über ein anderes Thema berichtete. Über höchst wichtige, aber langweilige Themen, die weniger herzergreifend sind, wie etwa sinkende Bildungsstandards oder die Überinvestition medizinischer Ressourcen im letzten Lebensjahr, wird dagegen kaum berichtet. (Während ich dies schreibe, fällt mir auf, dass meine Auswahl von Beispielen mit »geringer Medienpräsenz« von der Verfügbarkeit bestimmt wurde. Die Themen, die ich als Beispiele auswähle, werden häufig erwähnt; genauso wichtige Anliegen, die weniger verfügbar sind, fielen mir nicht ein.)
Damals war es uns nicht völlig klar, aber ein wesentlicher Grund für den breiten Anklang, den Heuristiken und kognitive Verzerrungen außerhalb der Psychologie finden, war ein zufälliges Merkmal unserer Arbeit: Wir nahmen fast immer den vollständigen Wortlaut der Fragen, die wir uns selbst und unseren Versuchspersonen stellten, in unsere Artikel auf. Diese Fragen dienten als Demonstrationen für den Leser; sie sollten ihm verdeutlichen, wie er selbst durch kognitive Verzerrungen zu Fehlurteilen gelangt. Ich hoffe, Sie hatten eine solche Erfahrung, als Sie die Frage über Steve, den Bibliothekar, lasen, die Ihnen helfen sollte, zu erkennen, wie stark Ähnlichkeit (mit Stereo typen) Wahrscheinlichkeitsaussagen beeinflusst und wie leicht relevante statistische Tatsachen ignoriert werden.
Die Fallbeispiele boten Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen - insbesondere aber Philosophen und Ökonomen - eine ungewöhnliche Gelegenheit, mögliche Fehler in ihrem eigenen Denken zu beobachten. Nachdem sie sich bei ihren eigenen Fehlern ertappt hatten, waren sie eher bereit, die damals vorherrschende dogmatische Annahme, jeder Mensch denke rational und logisch, infrage zu stellen. Die Wahl der Methode war entscheidend: Wenn wir nur über Ergebnisse konventioneller Experimente berichtet hätten, hätte der Artikel viel weniger Beachtung gefunden. Außerdem hätten sich skeptische Leser von den Ergebnissen distanziert, indem sie Urteilsfehler auf die bekannte Schludrigkeit von Studenten, die typischen Probanden psychologischer Studien, zurückgeführt hätten. Selbstverständlich haben wir Demonstrationsbeispiele nicht deshalb Standardexperimenten vorgezogen, weil wir Philosophen und Ökonomen beeinflussen wollten. Wir zogen Demonstrationen vor, weil sie unterhaltsamer waren, und wir hatten Glück bei der Wahl unserer Methode sowie in vielerlei anderer Hinsicht. Ein wiederkehrendes Thema dieses Buches ist, dass Glück in jeder Erfolgsgeschichte eine große Rolle spielt; wenn die Geschichte einen nur etwas anderen Verlauf genommen hätte, dann wäre statt einer bemerkenswerten eine mittelmäßige Leistung herausgekommen. Unsere Geschichte bildete da keine Ausnahme.
Die Reaktion auf unsere Arbeit fiel nicht einhellig positiv aus. Insbesondere wurde an unserer Fokussierung auf kognitive Verzerrungen kritisiert, dass sie eine unangemessen negative Sichtweise des menschlichen Denkens nahelege. Wie in der Wissenschaft üblich, haben einige Forscher unsere Ideen weiterentwickelt, und andere legten plausible Alternativen vor. Im Großen und Ganzen aber ist die Idee, dass unser Denken anfällig ist für systematische Fehler, heute allgemein anerkannt. Unsere Forschungsarbeiten über Urteilsprozesse hatten einen viel stärkeren Einfluss auf die Sozialwissenschaften, als wir es ursprünglich für möglich hielten.
Unmittelbar nachdem wir unsere neue Theorie über Urteilsprozesse vollständig ausgearbeitet hatten, wandten wir unsere Aufmerksamkeit der Entscheidungsfindung unter Ungewissheit zu. Wir wollten eine psychologische Theorie über die Entscheidungsfindung bei einfachen Glücksspielen erstellen. Zum Beispiel: Würden Sie eine Wette auf einen Münzwurf eingehen, bei der Sie 130 Dollar gewinnen, wenn die Münze mit Kopf nach oben liegt, und 100 Dollar verlieren, wenn die Zahl zu sehen ist? Diese elementaren Entscheidungen wurden schon seit Langem dazu benutzt, allgemeine Fragen der Entscheidungsfindung zu untersuchen, wie zum Beispiel das relative Gewicht, das Menschen sicheren Sachverhalten und ungewissen Ergebnissen zumessen. Unsere Methode änderte sich nicht: Wir verbrachten viele Tage damit, uns Entscheidungsprobleme auszudenken und zu untersuchen, ob unsere intuitiven Präferenzen der Logik der Entscheidung entsprachen. Wie bei Urteilsprozessen beobachteten wir auch in unseren eigenen Entscheidungen systematische Verzerrungen - intuitive Präferenzen, die ständig gegen die Regeln rationaler Entscheidungsfindung verstießen. Fünf Jahre nach dem Science-Artikel veröffentlichten wir den Beitrag »Prospect Theory: An Analysis of Decision Under Risk« (»Neue Erwartungstheorie: Eine Analyse der Entscheidungsfindung unter Unsicherheit«), eine Theorie der Entscheidungsfindung, die aus einigen Gründen einflussreicher ist als unsere Arbeit über Urteils Prozesse und eine der Grundlagen der Verhaltensökonomik darstellt.
Bis die geografische Trennung unsere weitere Zusammenarbeit vereitelte, genossen Amos und ich das außerordentliche Glück, dass wir unsere intellektuellen Fähigkeiten kombinieren konnten und so zu Leistungen in der Lage waren, die jeder von uns für sich allein nicht hätte erbringen können, und dass wir eine Beziehung hatten, die unsere Arbeit kurzweilig und produktiv machte. Unsere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Urteils- und Entscheidungstheorie war der Grund dafür, dass mir 2002 der Nobelpreis zuerkannt wurde, den sich Amos mit mir geteilt hätte, wäre er nicht 1996 im Alter von 59 Jahren gestorben.
Wo wir heute stehen
In diesem Buch will ich nicht die Ergebnisse der frühen Forschungsarbeiten, die Amos und ich gemeinsam durchführten, darlegen, denn dies haben viele Autoren im Lauf der Jahre bereits mit großer Sachkunde getan. Mir geht es hier vor allem darum, auf der Grundlage der neuesten Entwicklungen in der kognitiven und der Sozialpsychologie einen Überblick über die Funktionsmechanismen des menschlichen Denkens zu geben. Zu den wichtigsten Entwicklungen gehört, dass wir heute die Stärken und die Schwächen des intuitiven Denkens verstehen.
Abgesehen von der beiläufigen Feststellung, dass Urteilsheuristiken »recht nützlich sind, aber manchmal zu schwerwiegenden, systematischen Fehlern führen«, haben Amos und ich uns nicht mit richtigen Intuitionen beschäftigt. Wir konzentrierten uns auf kognitive Verzerrungen, weil wir sie an sich interessant fanden, aber auch, weil sie Beweise für die Urteilsheuristiken lieferten. Wir fragten uns nicht, ob alle intuitiven Urteile unter Ungewissheit von den von uns erforschten Heuristiken hervorgebracht werden; mittlerweile wissen wir, dass dies nicht der Fall ist. Insbesondere die richtigen Intuitionen von Experten lassen sich besser mit den Folgen langjähriger Übung als mit Heuristiken erklären. Wir können heute ein differenzierteres und ausgewogeneres Bild zeichnen, in dem Kompetenzen und Heuristiken alternative Quellen intuitiver Urteile und Entscheidungen sind.
Der Psychologe Gary Klein erzählt die Geschichte eines Teams von Feuerwehrmännern, die in ein Haus eindrangen, in dem die Küche in Flammen stand. Kaum dass sie mit den Löscharbeiten begonnen hatten, hörte sich ihr Anführer selbst »Raus hier!« schreien, ohne zu wissen, warum. Die Decke stürzte ein, just als der letzte Feuerwehrmann den Raum verlassen hatte. Erst im Anschluss wurde dem Zugführer bewusst, dass das Feuer ungewöhnlich leise und seine Ohren ungewöhnlich heiß gewesen waren. Zusammen lösten diese Eindrücke das aus, was er einen »sechsten Sinn für Gefahren« nannte. Er hatte keine Ahnung, was nicht stimmte, aber er wusste, dass etwas nicht stimmte. Es zeigte sich, dass der Brandherd nicht in der Küche gewesen war, sondern im Kellergeschoss, unterhalb der Stelle, wo die Männer gestanden hatten.
Wir alle haben schon solche Geschichten über das sichere Gespür von Experten gehört: Der Schachgroßmeister, der an einer Schachpartie unter freiem Himmel vorbeigeht und, ohne stehen zu bleiben, verkündet: »Weiß setzt in drei Zügen matt.« Oder der Arzt, der nach einem einzigen Blick auf einen Patienten eine komplexe Diagnose stellt. Die Intuition von Experten kommt uns wie ein Wunder vor, aber das ist nicht der Fall. Tatsächlich vollbringt jeder von uns viele Male pro Tag intuitive Meisterleistungen. Die meisten von uns können mit absoluter Sicherheit schon im ersten Wort eines Anrufers seine Wut spüren, beim Betreten eines Raumes erkennen, dass sie der Gegenstand der Unterhaltung sind, und rasch auf subtile Anzeichen dafür reagieren, dass der Fahrer des Autos auf der Nebenspur gefährlich ist. Unsere alltäglichen intuitiven Fähigkeiten sind nicht weniger wunderbar als die verblüffenden Ahnungen eines erfahrenen Feuerwehrmannes oder Arztes - nur weiter verbreitet.
Die Psychologie richtiger Intuitionen hat nichts Magisches an sich. Die vielleicht beste prägnante Beschreibung stammt von dem großen Herbert Simon, der Schachgroßmeister psychologischen Tests unterzog und feststellte, dass sie nach vielen Tausend Stunden Übung die Figuren auf dem Brett anders sehen als wir. Man spürt deutlich Simons Unverständnis für die Mythologisierung der Experten-Intuition, wenn er schreibt: »Die Situation liefert einen Hinweisreiz; dieser Hinweisreiz gibt dem Experten Zugang zu Informationen, die im Gedächtnis gespeichert sind, und diese Informationen geben ihm die Antwort. Intuition ist nicht mehr und nicht weniger als Wiedererkennen.«
Wir sind nicht überrascht, wenn ein zweijähriges Kleinkind einen Hund betrachtet und »Wauwau!« sagt, weil wir an das Wunder gewöhnt sind, dass Kinder lernen, Gegenstände wiederzuerkennen und zu benennen. Simon will darauf hinaus, dass die intuitiven Meisterleistungen von Experten den gleichen Charakter haben. Zu richtigen Intuitionen kommt es dann, wenn Experten gelernt haben, vertraute Elemente in einer neuen Situation wiederzuerkennen und in einer Weise zu handeln, die ihr angemessen ist. Gute intuitive Urteile tauchen mit der gleichen Unmittelbarkeit im Bewusstsein auf wie »Wauwau!«.
Leider entspringen nicht alle Intuitionen von Fachleuten echtem Sachverstand. Vor vielen Jahren besuchte ich den Leiter der Vermögensverwaltung eines großen Finanzdienstleisters, der mir sagte, er habe gerade einige zehn Millionen Dollar in Aktien der Ford Motor Company investiert. Als ich ihn fragte, wie er zu diesem Entschluss gelangt sei, antwortete er, er sei kürzlich auf einer Automesse gewesen und das, was er gesehen habe, habe ihn beeindruckt. »Mann, die wissen, wie man ein Auto baut!«, war seine Erklärung. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er seinem Bauchgefühl vertraute, und war zufrieden mit sich und mit seiner Entscheidung. Ich fand es bemerkenswert, dass er anscheinend die eine Frage, die ein Ökonom als relevant erachten würde, nicht in Betracht gezogen hatte: Sind Ford-Aktien gegenwärtig unterbewertet? Stattdessen hörte er auf seine Intuition; er mochte Autos, er mochte das Unternehmen, und er mochte die Vorstellung, Ford-Aktien zu besitzen. Nach allem, was wir über die Treffgenauigkeit beim Stock-Picking - der gezielten Suche nach unterbewerteten Einzeltiteln - wissen, kann man vernünftigerweise davon ausgehen, dass er nicht wusste, was er tat.
Die spezifischen Heuristiken, die Amos und ich erforschten, helfen uns kaum, zu verstehen, was den Manager dazu veranlasste, in Ford-Aktien zu investieren, aber heute verfügen wir über eine umfassendere Konzeption von Heuristiken, die uns eine gute Erklärung liefert. Ein wichtiger Fortschritt besteht darin, dass Emotionen heute beim Verständnis intuitiver Urteile und Entscheidungen eine viel größere Rolle spielen als in der Vergangenheit. Die Entscheidung des Managers würde heute als Beispiel der Affektheuristik beschrieben werden; dabei handelt es sich um Urteile und Entscheidungen, die unmittelbar und ohne gründliche Überlegung von Gefühlen der Vorliebe und Abneigung bestimmt werden. Wenn die Maschinerie des intuitiven Denkens mit einem Problem konfrontiert ist - der Auswahl eines Schachzugs oder der Entscheidung, in eine bestimmte Aktie zu investieren -, tut sie ihr Bestes. Wenn die Person über sachdienliches Fachwissen verfügt, erkennt sie die Situation, und die intuitive Lösung, die ihr einfällt, wird wahrscheinlich richtig sein. Dies geschieht, wenn ein Schachgroßmeister eine komplexe Position betrachtet: Die wenigen Züge, die ihm sofort einfallen, sind durchweg starke Züge. Wenn die Frage schwierig und eine sachkundige Lösung nicht verfügbar ist, hat die Intuition trotzdem eine Chance: Dem Betreffenden mag schnell eine Antwort einfallen - aber es ist keine Antwort auf die ursprüngliche Frage. Die Frage, vor der der Manager stand (Soll ich in Ford-Aktien investieren?), war schwierig, aber die Antwort auf eine leichtere und damit zusammenhängende Frage (Mag ich Autos von Ford?) fiel ihm spontan ein und bestimmte seine Entscheidung. Das ist das Wesen intuitiver Heuristiken: Wenn wir mit einer schwierigen Frage konfrontiert sind, beantworten wir stattdessen oftmals eine leichtere, ohne dass wir die Ersetzung bemerken.
Die spontane Suche nach einer intuitiven Lösung scheitert manchmal - es fällt einem weder eine Expertenlösung noch eine heuristische Antwort ein. In solchen Fällen wechseln wir oftmals zu einer langsameren, wohlüberlegten und anstrengenden Form des Denkens. Dies ist das »langsame Denken«, das im Titel erwähnt wird. Schnelles Denken umfasst beide Varianten des intuitiven Denkens - das sachkundige und das heuristische Denken - sowie die vollkommen automatisierten mentalen Wahrnehmungs- und Gedächtnisprozesse, also jene Operationen, die uns in die Lage versetzen, das Objekt auf unserem Schreibtisch als Lampe zu erkennen oder den Namen der russischen Hauptstadt aus dem Gedächtnis abzurufen.
Zahlreiche Psychologen haben in den letzten 25 Jahren die Unterschiede zwischen schnellem und langsamem Denken erforscht. Aus Gründen, die ich im nächsten Kapitel ausführlicher darlege, beschreibe ich mentale Prozesse mit der Metapher von zwei Agenten, System 1 und System 2 genannt, die jeweils schnelles und langsames Denken erzeugen. Ich spreche von den Merkmalen intuitiven und bewussten Denkens, als handele es sich um Merkmale und Dispositionen von zwei Figuren in unserem Geist. Die jüngsten Forschungen deuten darauf hin, dass das intuitive System 1 einflussreicher ist, als dies nach unserem subjektiven Erleben der Fall zu sein scheint, und es ist der geheime Urheber vieler Entscheidungen und Urteile, die wir treffen. Den Schwerpunkt dieses Buches bilden die Funktionsmechanismen von System 1 und die wechselseitigen Einflüsse zwischen System 1 und System 2.
Was als Nächstes kommt
Dieses Buch besteht aus fünf Teilen. Teil I stellt die Grundelemente einer Urteils- und Entscheidungstheorie auf der Basis zweier Systeme vor. Der Unterschied zwischen den unwillkürlichen Operationen von System 1 und den bewusst gesteuerten Operationen von System 2 wird ausführlich dargelegt, und es wird gezeigt, wie das assoziative Gedächtnis, der Kern von System 1, fortwährend eine kohärente Interpretation dessen konstruiert, was zu jedem beliebigen Zeitpunkt in unserer Welt geschieht. Ich versuche, dem Leser eine Vorstellung von der Komplexität und Reichhaltigkeit der automatischen und oftmals unbewussten Prozesse zu vermitteln, die dem intuitiven Denken zugrunde liegen, und darzustellen, wie man die Urteilsheuristiken auf der Grundlage dieser automatischen Prozesse erklären kann. Ein Ziel ist es, eine Sprache einzuführen, die es erlaubt, präziser über kognitive Prozesse nachzudenken und zu sprechen.
Teil II stellt den aktuellen Wissensstand bei Urteilsheuristiken dar und geht einer wichtigen Frage nach: Weshalb ist es für uns so schwierig, statistisch zu denken? Es fällt uns leicht, assoziativ oder metaphorisch zu denken, wir denken kausal, aber eine statistische Betrachtungsweise erfordert, dass wir an viele Dinge gleichzeitig denken, worauf System 1 nicht ausgelegt ist.
Die Schwierigkeiten, die uns statistisches Denken bereitet, leiten über zu dem Hauptthema von Teil III, der eine rätselhafte Beschränkung unseres Denkens beschreibt: unser übermäßiges Vertrauen in das, was wir zu wissen glauben, und unsere scheinbare Unfähigkeit, das ganze Ausmaß unseres Unwissens und der Unbestimmtheit der Welt zuzugeben. Wir überschätzen tendenziell unser Wissen über die Welt, und wir unterschätzen die Rolle, die der Zufall bei Ereignissen spielt. Überzogenes Vertrauen in die Vorhersagbarkeit der Welt wird durch die illusorische Gewissheit retrospektiver Einsichten gestützt. Nassim Taleb, der Autor des Buches Der Schwarze Schwan, hat meine Ansichten zu diesem Thema maßgeblich beeinflusst. Ich hoffe auf Gespräche am Kaffeeautomaten, die die Lektionen, die wir aus der Vergangenheit lernen können, auf intelligente Weise erkunden, während sie der Verlockung rückblickender Verzerrung und der Illusion der Gewissheit widerstehen.
Der Schwerpunkt von Teil IV ist ein Gespräch mit den Wirtschaftswissenschaften über die Natur der Entscheidungsfindung und die Annahme, dass ökonomische Agenten rational handeln. In diesem Abschnitt des Buches stelle ich eine aktualisierte Version der Schlüsselkonzepte der Neuen Erwartungstheorie (Prospect Theory) auf der Basis des Zwei-System-Modells vor, jener Entscheidungstheorie, die Amos und ich 1979 publizierten. Daran anschließende Kapitel befassen sich mit verschiedenen Weisen, wie menschliche Entscheidungen von den Regeln der Rationalität abweichen können. Ich befasse mich mit der bedauerlichen Neigung, Probleme isoliert zu behandeln, und mit sogenannten Framing-Effekten (»Einrahmungseffekten«), bei denen Entscheidungen maßgeblich von unwesentlichen Merkmalen der Entscheidungsprobleme beeinflusst werden. Diese Beobachtungen, die sich ohne Weiteres mit den Eigenschaften von System 1 erklären lassen, stellen eine große Herausforderung für die Rationalitätsannahme dar, wie sie in der herrschenden volkswirtschaftlichen Lehre vertreten wird.
Teil V beschreibt neueste Forschungen, die eine Unterscheidung zwischen zwei Formen des Selbst eingeführt haben - dem erlebenden Selbst und dem sich erinnernden Selbst -, die nicht die gleichen Interessen verfolgen. So können wir beispielsweise Menschen zwei schmerzhaften Erfahrungen aussetzen. Eine dieser Erfahrungen ist deutlich unangenehmer als die andere, weil sie länger dauert. Aber die automatische Bildung von Erinnerungen - ein Merkmal von System 1 - folgt bestimmten Regeln, die wir uns zunutze machen können, sodass uns die unangenehmere Episode in besserer Erinnerung bleibt. Wenn Menschen vor der Entscheidung stehen, welche Episode sie wiederholen sollen, werden sie unwillkürlich von ihrem erinnernden Selbst geleitet und setzen sich (ihr erlebendes Selbst) unnötigen Schmerzen aus. Die Differenzierung zwischen zwei Formen des Selbst wird auf die Messung des Wohlbefindens angewandt, wo wir erneut feststellen, dass das, was das erlebende Selbst glücklich macht, nicht das Gleiche ist, was das erinnernde Selbst befriedigt. Die Frage, wie beide Selbste in einem Körper Befriedigung finden können, wirft eine Reihe von Schwierigkeiten auf, sowohl für Individuen als auch für Gesellschaften, die in der Verwirklichung des Gemeinwohls eine politische Zielsetzung sehen.
In einem abschließenden Kapitel betrachten wir, in umgekehrter Reihenfolge, die Tragweite der drei in diesem Buch vorgenommenen Unterscheidungen: zwischen dem erlebenden und dem erinnernden Selbst, zwischen den Konzeptionen des Agenten in der klassischen Nationalökonomie und in der Verhaltensökonomik (die Anleihen bei der Psychologie macht) sowie zwischen dem unwillkürlichen System 1 und dem mühevollen System 2. Ich kehre zurück zu den Vorteilen eines »aufgeklärten« Bürotratschs und zu der Frage, was Organisationen tun können, um die Qualität von Urteilen und Entscheidungen, die Bedienstete in ihrem Auftrag treffen, zu verbessern. Zwei Aufsätze, die ich zusammen mit Amos geschrieben habe, sind im Anhang abgedruckt. Der zweite Aufsatz, der 1984 veröffentlicht wurde, resümiert die Neue Erwartungstheorie und unsere Studien über Framing-Effekte. Diese Artikel stellen jene wissenschaftlichen Beiträge dar, auf die das Nobelpreiskomitee Bezug genommen hat - und es wird Sie vielleicht überraschen, wie einfach sie sind. Ihre Lektüre wird Ihnen eine Vorstellung davon vermitteln, wie viel wir schon seit langer Zeit wissen, aber auch davon, was wir in den letzten Jahrzehnten dazugelernt haben.
Teil I
Zwei Systeme
Ihr Erleben beim Betrachten des Gesichts der Frau verknüpft nahtlos das, was wir normalerweise Sehen und intuitives Denken nennen. So sicher und so schnell, wie Sie sehen, dass die Frau dunkles Haar hat, erkennen Sie, dass sie wütend ist. Außerdem weist das, was Sie sehen, in die Zukunft. Sie spüren, dass diese Frau kurz davor ist, einige sehr unfreundliche Worte zu äußern, vermutlich mit lauter, schriller Stimme. Eine Vorahnung dessen, was sie als Nächstes tun wird, stellt sich automatisch und mühelos in Ihrem Bewusstsein ein. Sie hatten nicht die Absicht, ihren Gemütszustand einzuschätzen oder das, was sie als Nächstes tun würde, zu antizipieren, und Ihre Reaktion auf das Bild fühlte sich für Sie nicht wie etwas an, das Sie bewusst taten. Es widerfuhr Ihnen einfach. Es war ein Fall von schnellem Denken.
Betrachten Sie jetzt das folgende Problem:
17 × 24
Ihnen ist sofort klar, dass dies eine Multiplikationsaufgabe ist, und vermutlich wissen Sie, dass Sie sie mit Bleistift und Papier - wenn nicht sogar ohne - lösen können. Sie besitzen auch ein vages intuitives Wissen über die Spannweite möglicher Ergebnisse. Sie erkennen rasch, dass sowohl 12 609 als auch 123 unplausibel sind. Doch ohne eine gewisse Zeit auf das Problem zu verwenden, wären Sie nicht sicher, dass die Antwort nicht 568 ist. Eine exakte Lösung fällt Ihnen nicht sofort ein, und Sie haben den Eindruck, dass Sie entscheiden können, ob Sie die Berechnung durchführen wollen oder nicht. Wenn Sie es noch nicht getan haben, sollten Sie das Multiplikationsproblem jetzt zu lösen versuchen und wenigstens einen Teil davon abschließen.
Während Sie eine Reihe von Rechenschritten absolvieren, erleben Sie langsames Denken. Als Erstes haben Sie das kognitive Multiplikationsprogramm, das Sie in der Schule lernten, aus Ihrem Gedächtnis abgerufen - anschließend haben Sie dieses umgesetzt. Die Berechnung ist mühsam. Sie spüren, wie belastend es ist, viel Stoff im Gedächtnis zu behalten, weil Sie nicht den Überblick darüber verlieren dürfen, wo Sie gerade waren und wohin Sie wollen, während Sie das Zwischen ergebnis im Geist festhalten. Dieser Prozess ist geistige Arbeit: er erfordert zielgerichtete Anstrengung und Strukturierung, und er ist daher ein Prototyp langsamen Denkens. Die Berechnung ist nicht nur ein mentaler Vorgang; auch Ihr Körper ist daran beteiligt. Ihre Muskeln spannen sich an, Ihr Blutdruck steigt und Ihr Herzschlag ebenfalls. Jemand, der Ihre Augen genau beobachten würde, während Sie mit dem Problem beschäftigt sind, würde sehen, wie sich Ihre Pupillen weiten. Sobald Sie mit der Arbeit fertig sind - wenn Sie die Antwort gefunden haben (die übrigens 408 lautet) oder wenn Sie aufgegeben haben -, schrumpfen Ihre Pupillen wieder auf normale Größe.
Wenn wir an uns selbst denken, identifizieren wir uns mit System 2, dem bewussten, logisch denkenden Selbst, das Überzeugungen hat, Entscheidungen trifft und sein Denken und Handeln bewusst kontrolliert. Obwohl System 2 von sich selbst glaubt, im Zentrum des Geschehens zu stehen, ist das unwillkürliche System 1 der Held dieses Buches. In System 1 entstehen spontan die Eindrücke und Gefühle, die die Hauptquellen der expliziten Überzeugungen und bewussten Entscheidungen von System 2 sind. Die automatischen Operationen von System 1 erzeugen erstaunlich komplexe Muster von Vorstellungen, aber nur das langsamere System 2 kann in einer geordneten Folge von Schritten Gedanken konstruieren. Ich beschreibe auch Umstände, unter denen System 2 die Kontrolle übernimmt, indem es die ungezügelten Impulse und Assoziationen von System 1 verwirft. Man kann die beiden Systeme mit Akteuren vergleichen, die jeweils individuelle Fähigkeiten, Beschränkungen und Funktionen aufweisen. In näherungsweiser Reihenfolge der Komplexität sind hier einige Beispiele für die automatischen Aktivitäten aufgelistet, die System 1 zugeschrieben werden:
- Erkennen Sie, dass ein Gegenstand weiter entfernt ist als ein anderer. - Wenden Sie sich der Quelle eines plötzlichen Geräuschs zu. - Vervollständigen Sie den Ausdruck »Brot und ...« - Ziehen Sie ein »angewidertes Gesicht«, wenn man Ihnen ein grauenvolles Bild zeigt. - Hören Sie die Feindseligkeit aus einer Stimme heraus.
- Beantworten Sie: 2 + 2 = ? - Lesen Sie Wörter auf großen Reklameflächen. - Fahren Sie mit einem Auto über eine leere Straße. - Finden Sie einen starken Schachzug (wenn Sie Schachmeister sind). - Verstehen Sie einfache Sätze. - Erkennen Sie, dass eine »sanftmütige und ordentliche Person mit großer Liebe zum Detail« einem beruflichen Stereotyp entspricht. All diese mentalen Ereignisse gehören zur gleichen Kategorie wie die wütende Frau - sie geschehen automatisch und weitgehend mühelos. Zu den Funktionen von System 1 gehören angeborene Fähigkeiten, die wir mit anderen Tieren gemeinsam haben. Wir werden mit der Fähigkeit geboren, unsere Umwelt wahrzunehmen, Gegenstände zu erkennen, unsere Aufmerksamkeit zu steuern, Verluste zu vermeiden und uns vor Spinnen zu fürchten. Andere mentale Aktivitäten werden durch lange Übung zu schnellen, automatisierten Routinen. System 1 hat Assoziationen zwischen Vorstellungen gelernt (die Hauptstadt Frankreichs?); es hat auch Fähigkeiten gelernt, wie etwa das Lesen und Verstehen von Nuancen sozialer Situationen. Einige Fähigkeiten, wie etwa das Finden starker Schachzüge, werden nur von spezialisierten Experten erworben. Andere sind weitverbreitet. Um die Ähnlichkeit eines Persönlichkeitsprofils mit einem beruflichen Stereotyp zu erkennen, benötigt man ein umfassendes Wissen um Sprache und Kultur, das die meisten von uns besitzen. Das Wissen ist im Gedächtnis gespeichert und wird ohne Intention und ohne Anstrengung abgerufen.
Etliche der mentalen Aktivitäten in der Liste erfolgen vollkommen unwillkürlich. Man kann sich nicht davon abhalten, einfache Sätze in seiner Muttersprache zu verstehen oder sich zu einem unerwarteten lauten Geräusch umzudrehen, noch kann man sich daran hindern, zu wissen, dass 2 + 2 = 4 ist, oder an Paris zu denken, wenn von der Hauptstadt Frankreichs die Rede ist. Andere Aktivitäten, wie das Kauen, sind der willentlichen Kontrolle zugänglich, werden für gewöhnlich aber von einem Autopiloten gesteuert. Beide Systeme sind an der Aufmerksamkeitssteuerung beteiligt. Die Hinwendung zu einem lauten Geräusch ist normalerweise eine unwillkürliche Operation von System 1, das sofort die willkürliche Aufmerksamkeit von System 2 mobilisiert. Vielleicht können Sie dem Impuls widerstehen, sich der Quelle einer lauten und unverschämten Bemerkung bei einer übervollen Party zuzuwenden, aber selbst wenn sich Ihr Kopf nicht bewegt, ist Ihre Aufmerksamkeit zunächst auf die Quelle gerichtet, zumindest eine Zeit lang. Allerdings kann die Aufmerksamkeit von einem ungewollten Fokus abgezogen werden, hauptsächlich dadurch, dass man sich gezielt auf etwas anderes konzentriert. Die höchst vielfältigen Aktivitäten von System 2 haben ein Merkmal gemeinsam: Sie erfordern Aufmerksamkeit, und sie werden gestört, wenn die Aufmerksamkeit abgezogen wird.
Hier sind einige Beispiele:
- Sich bei einem Wettlauf auf den Startschuss einstellen. - Die Aufmerksamkeit auf die Clowns in einem Zirkus richten. - Sich auf die Stimme einer bestimmten Person in einem überfüllten und sehr lauten Raum konzentrieren. - Nach einer Frau mit weißem Haar Ausschau halten. - Das Gedächtnis durchsuchen, um ein ungewohntes Geräusch zu identifizieren. - Schneller gehen, als Sie es normalerweise tun. - Die Angemessenheit Ihres Verhaltens in einer sozialen Situation überwachen. - Zählen, wie oft der Buchstabe a auf einer Textseite vorkommt. - Jemandem seine Telefonnummer mitteilen. - In eine schmale Lücke einparken (für die meisten Leute, bis auf die Mitarbeiter von Kfz-Werkstätten). - Zwei Waschmaschinen auf das bessere Preis-Leistungs-Verhältnis hin vergleichen. - Eine Steuererklärung anfertigen. - Die Gültigkeit einer komplexen logischen Beweisführung überprüfen. In all diesen Situationen muss man sich konzentrieren, und die Leistung, die man erbringt, fällt schlechter aus, wenn man nicht dazu bereit ist oder wenn die Aufmerksamkeit in unangemessener Weise fokussiert wird. System 2 besitzt die Fähigkeit, die Funktionsweise von System 1 in gewissem Umfang zu verändern, indem es die normalerweise automatischen Funktionen von Aufmerksamkeit und Gedächtnis programmiert. Wenn man zum Beispiel auf einem belebten Bahnhof auf einen Verwandten wartet, kann man sich willentlich darauf konzentrieren, nach einer weißhaarigen Frau oder einem bärtigen Mann Ausschau zu halten, und dadurch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass man den Verwandten schon von fern bemerkt. Man kann in seinem Gedächtnis gezielt nach Hauptstädten, die mit dem Buchstaben N beginnen, oder nach den Titeln existenzialistischer französischer Romane suchen. Und wenn man ein Auto am Londoner Heathrow Airport mietet, wird einen der Mitarbeiter vermutlich daran erinnern, dass »wir hier links fahren«. In all diesen Fällen wird man aufgefordert, etwas zu tun, was nicht spontan geschieht, und man stellt fest, dass die Aufrechterhaltung einer bestimmten Einstellung zumindest ein gewisses Maß an andauernder Anstrengung erfordert. Der im Englischen häufig verwendete Ausdruck to pay attention (wörtlich: »Aufmerksamkeit zahlen«, also schenken) ist passend: Man verfügt über ein begrenztes Aufmerksamkeitsbudget, das man auf verschiedene Aktivitäten verteilen kann; wenn man versucht, sein Budget zu überschreiten, misslingt dies. Es ist das Kennzeichen anstrengender Aktivitäten, dass sie einander überlagern, und aus diesem Grund ist es schwer oder unmöglich, mehrere gleichzeitig auszuführen. Wir können nicht das Produkt von 17 × 24 berechnen, während wir bei dichtem Verkehr links abbiegen, und man sollte es mit Sicherheit gar nicht erst versuchen. Man kann mehrere Dinge gleichzeitig tun, aber nur wenn sie einfach und anspruchslos sind. Es ist wahrscheinlich ungefährlich, wenn Sie mit Ihrem Beifahrer plaudern, während Sie auf einer leeren Fernstraße fahren, und viele Eltern haben entdeckt - vielleicht mit einem leicht schlechten Gewissen -, dass sie einem Kind eine Geschichte vorlesen können, während sie an etwas anderes denken.
Jeder Mensch ist sich seiner begrenzten Aufmerksamkeitskapazität irgendwie bewusst, und unser soziales Verhalten berücksichtigt diese Beschränkungen. Wenn der Fahrer eines Autos auf einer schmalen Straße einen Laster überholt, verstummen die erwachsenen Mitfahrer aus nachvollziehbaren Gründen jäh. Sie wissen, dass es keine gute Idee ist, den Fahrer abzulenken, und sie nehmen auch an, dass er vorübergehend taub ist und nicht hören würde, was sie sagen.
Die intensive Konzentration auf eine Aufgabe kann Menschen tatsächlich blind für Stimuli machen, die normalerweise ihre Aufmerksamkeit erregen würden. Die spektakulärste Demonstration dafür lieferten Christopher Chabris und Daniel Simons in ihrem Buch Der unsichtbare Gorilla. Sie produzierten einen kurzen Film über zwei Mannschaften, die sich Basketbälle zuspielten, wobei ein Team weiße Hemden trug und das andere schwarze. Die Betrachter des Films werden aufgefordert, die Zahl der Ballwechsel der weißen Mannschaft zu zählen und die schwarzen Spieler zu ignorieren. Das ist eine schwierige Aufgabe, die volle Konzentration verlangt. Ungefähr in der Mitte des Videos taucht eine Frau auf, die als Gorilla verkleidet ist, überquert das Spielfeld und verschwindet wieder. Der Gorilla ist neun Sekunden lang zu sehen. Tausende von Menschen haben sich das Video angeschaut, und etwa der Hälfte von ihnen fällt nichts Ungewöhnliches auf. Ursache dieser Blindheit ist die Zählaufgabe - und insbesondere die Anweisung, eines der Teams zu ignorieren. Niemand, der das Video ohne diese Aufgabe betrachtet, würde den Gorilla übersehen. Sehen und Sich-orientieren sind automatische Funktionen von System 1, aber sie sind darauf angewiesen, dass dem relevanten Stimulus eine gewisse Aufmerksamkeit zugewendet wird. Die Autoren weisen darauf hin, dass die bemerkenswerteste Beobachtung ihrer Studie darin besteht, dass Menschen deren Ergebnisse sehr überraschend finden. Tatsächlich sind die Filmbetrachter, die den Gorilla nicht gesehen haben, zunächst fest davon überzeugt, dass er nicht da war - sie können sich nicht vorstellen, dass ihnen ein so auffallendes Ereignis entgangen ist. Die Gorilla-Studie verdeutlicht zwei wichtigen Tatsachen über mentale Prozesse: Wir können gegenüber dem Offensichtlichen blind sein, und wir sind darüber hinaus blind für unsere Blindheit.
Der Gang der Handlung - ein kurzer Überblick
Die Wechselwirkung zwischen den beiden Systemen ist ein ständig wiederkehrendes Thema dieses Buches, und es dürfte hilfreich sein, den Handlungsverlauf kurz zusammenzufassen. In der Geschichte, die ich erzählen werde, sind sowohl System 1 als auch System 2 immer aktiv, wenn wir wach sind. System 1 läuft automatisch, und System 2 befindet sich normalerweise in einem angenehmen Modus geringer Anstrengung, in dem nur ein Teil seiner Kapazität in Anspruch genommen wird. System 1 generiert fortwährend Vorschläge für System 2: Eindrücke, Intuitionen, Absichten und Gefühle. Wenn Eindrücke und Intuitionen von System 2 unterstützt werden, werden sie zu Überzeugungen, und Impulse werden zu willentlich gesteuerten Handlungen. Wenn alles glattläuft, was meistens der Fall ist, macht sich System 2 die Vorschläge von System 1 ohne größere Modifikationen zu eigen. Im Allgemeinen vertraut man seinen Eindrücken und gibt seinen Wünschen nach, und das ist in Ordnung so - für gewöhnlich.
Wenn System 1 in Schwierigkeiten gerät, fordert es von System 2 eine detailliertere und spezifischere Verarbeitung an, die das anstehende Problem möglicherweise lösen wird. System 2 wird mobilisiert, wenn eine Frage auftaucht, für die System 1 keine Antwort bereitstellt, wie es vermutlich der Fall war, als Sie mit dem Multiplikationsproblem 17 × 24 konfrontiert waren. Auch wenn etwas Überraschendes geschieht, kommt es zu einem jähen Anstieg der bewussten Aufmerksamkeit. System 2 wird aktiviert, wenn ein Ereignis registriert wird, das gegen das Weltmodell von System 1 verstößt. In dieser Welt gibt es keine hüpfenden Lampen, bellenden Katzen und keine Gorillas, die über Basketballfelder laufen. Das Gorilla-Experiment zeigt, dass der unerwartete Reiz nur dann wahrgenommen wird, wenn eine gewisse Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt wird. Die Überraschung aktiviert und orientiert dann die Aufmerksamkeit: Man heftet den Blick auf den Reiz, und man durchsucht sein Gedächtnis nach einer Geschichte, die dem unerwarteten Ereignis einen Sinn gibt. System 2 ist auch für die fortwährende Überwachung des Verhaltens zuständig - die Kontrolle, die gewährleistet, dass man höflich bleibt, wenn man wütend ist, und dass man hellwach bleibt, wenn man nachts Auto fährt. System 2 wird hochgefahren, sobald es einen drohenden Fehler bemerkt. Erinnern Sie sich an eine Gelegenheit, bei der Ihnen beinahe eine unverschämte Bemerkung über die Lippen gekommen wäre, und erinnern Sie sich, wie hart Sie darum ringen mussten, die Kontrolle wiederzuerlangen. Kurz und gut, der größte Teil dessen, was Sie (Ihr System 2) denken und tun, geht aus System 1 hervor, aber System 2 übernimmt, sobald es schwierig wird, und es hat normalerweise das letzte Wort.
Die Arbeitsteilung zwischen System 1 und System 2 ist höchst effizient: Sie minimiert den Aufwand und optimiert die Leistung. Diese Regelung funktioniert meistens gut, weil System 1 im Allgemeinen höchst zuverlässig arbeitet: seine Modelle vertrauter Situationen sind richtig, seine kurzfristigen Vorhersagen sind in der Regel ebenfalls zutreffend, und seine anfänglichen Reaktionen auf Herausforderungen sind prompt und im Allgemeinen angemessen. Die Leistungsfähigkeit von System 1 wird jedoch durch kognitive Verzerrungen beeinträchtigt, systematische Fehler, für die es unter spezifischen Umständen in hohem Maße anfällig ist. Wie wir sehen werden, beantwortet es manchmal Fragen, die leichter sind als jene, die ihm gestellt wurden, und es versteht kaum etwas von Logik und Statistik. Eine weitere Beschränkung von System 1 besteht darin, dass es nicht abgeschaltet werden kann. Wenn Sie auf einem Bildschirm ein Wort in einer Sprache sehen, die Sie kennen, lesen Sie es - es sei denn, Ihre Aufmerksamkeit wird von etwas anderem vollkommen in Beschlag genommen.
Konflikt
Als Erstes lesen Sie die beiden Spalten von oben nach unten durch, wobei Sie laut aussprechen, ob das jeweilige Wort in Klein- oder Großbuchstaben geschrieben ist. Wenn Sie die erste Aufgabe erledigt haben, gehen Sie die beiden Spalten abermals durch und erklären bei jedem Wort, ob es links oder rechts der Mitte abgedruckt ist, indem sie »links« oder »rechts« sagen (oder sich selbst zuflüstern).
Wahrscheinlich haben Sie in beiden Aufgaben die richtigen Wörter gesagt, und Sie haben vermutlich bemerkt, dass einige Teile jeder Aufgabe viel leichter als andere waren. Als Sie Groß- und Kleinschreibung benannten, war die linke Spalte leicht, während Sie in der rechten Spalte langsamer wurden und vielleicht ins Stottern und Stocken kamen. Als Sie die Stellung der Wörter angeben sollten, war die linke Spalte schwierig und die rechte Spalte war viel einfacher.
Diese Aufgaben beanspruchen System 2, weil Sie beim Betrachten einer Spalte von Wörtern für gewöhnlich nicht »groß«, »klein« oder »rechts«, »links« sagen. Um sich auf die Aufgabe vorzubereiten, haben Sie unter anderem Ihr Gedächtnis so programmiert, dass Ihnen die relevanten Wörter (»groß« und »klein« für die erste Aufgabe) »auf der Zunge« lagen. Die Priorisierung der gewählten Wörter ist effektiv, und der schwachen Versuchung, andere Wörter zu lesen, konnten Sie recht leicht widerstehen, als Sie die erste Spalte durchgingen. Aber bei der zweiten Spalte war es anders, weil sie Wörter enthielt, auf die Sie eingestellt waren und die Sie nicht ignorieren konnten. Sie konnten größtenteils richtig antworten, aber es kostete Sie Mühe, die konkurrierende Antwort zu überwinden, und es bremste Sie aus. Sie erlebten einen Konflikt zwischen einer Aufgabe, die Sie erledigen wollten, und einer automatischen Antwort, die damit interferierte.
Konflikte zwischen einer automatischen Reaktion und dem Willen, die Kontrolle zu behalten, kommen in unserem Leben häufig vor. Wir alle haben schon erlebt, wie wir gegen den Impuls ankämpften, das seltsam angezogene Pärchen am Nachbartisch in einem Restaurant anzugaffen. Wir wissen auch alle, wie es ist, wenn man sich dazu zwingen muss, seine Aufmerksamkeit auf ein langweiliges Buch zu richten, und man immer wieder an die Stelle zurückkehrt, wo man den Faden verloren hat. In Gegenden mit harten Wintern erinnern sich viele Fahrer daran, wie ihr Wagen auf dem Eis ins Rutschen kam, sich nicht mehr kontrollieren ließ und sie darum rangen, die gründlich einstudierten Regeln zu befolgen, die das genaue Gegenteil dessen waren, was sie intuitiv tun würden: »In die Richtung lenken, in die der Wagen schleudert, und auf keinen Fall bremsen!« Und jeder Mensch hat schon erlebt, dass er jemandem nicht gesagt hat, er solle sich zum Teufel scheren. Eine der Aufgaben von System 2 besteht darin, die Impulse von System 1 zu überwinden. Anders gesagt, System 2 ist für die Selbstbeherrschung zuständig.
Illusionen
Um die Autonomie von System 1 und den Unterschied zwischen Eindrücken und Überzeugungen zu verstehen, sollten Sie sich Abbildung 3 genau ansehen. Das Bild ist nicht weiter bemerkenswert: zwei horizontale Linien unterschiedlicher Länge, die mit Pfeilspitzen oder »Schwanzflossen« versehen sind, die in unterschiedliche Richtungen zeigen. Die untere Linie ist scheinbar länger als die darüber. Das sehen wir alle, und wir glauben spontan, was wir sehen. Aber wenn Sie dieses Bild schon einmal gesehen haben, wissen Sie, dass es sich um die berühmte Müller-Lyer-Illusion handelt. Wie Sie leicht selbst überprüfen können, indem Sie die horizontalen Linien mit einem Lineal nachmessen, sind beide tatsächlich genau gleich lang.
Jetzt, nachdem Sie die Linien gemessen haben, haben Sie - Ihr System 2, das mit Bewusstsein begabte Wesen, das Sie »ich« nennen - eine neue Überzeugung: Sie wissen, dass die Linien gleich lang sind. Wenn Sie nach ihrer Länge gefragt werden, sagen Sie, was Sie wissen. Aber die untere Linie erscheint nach wie vor als die längere. Sie haben sich entschieden, der Messung zu glauben, aber Sie können System 1 nicht von seiner gewohnten Aktivität abhalten; Sie können nicht durch einen Willensentschluss Ihre Wahrnehmung so verändern, dass Sie die Linien als gleich lang sehen, obwohl Sie wissen, dass sie gleich lang sind. Um nicht der Illusion zu erliegen, können Sie nur eines tun: Sie müssen lernen, Ihren Wahrnehmungen der Länge von Linien zu misstrauen, wenn sie mit »Pfeilspitzen« oder »Schwanzflossen« versehen sind. Um diese Regeln zu befolgen, müssen Sie das illusorische Muster erkennen und sich an das erinnern, was Sie darüber wissen. Wenn Sie dies tun können, werden Sie sich nie mehr von der Müller-Lyer-Illusion hinters Licht führen lassen. Aber die eine Linie wird Ihnen nach wie vor länger erscheinen als die andere.
Es gibt nicht nur optische Täuschungen. Es gibt auch Illusionen des Denkens, die wir »kognitive Täuschungen« nennen. Als Student besuchte ich auch einige Lehrveranstaltungen über die Kunst und die Wissenschaft der Psychotherapie. In einer dieser Vorlesungen teilte uns der Dozent eine Lektion aus seiner langjährigen klinischen Erfahrung mit: »Hin und wieder werden Sie einem Patienten begegnen, der Sie mit der Äußerung verstören wird, dass in seinen zurückliegenden Therapien zahlreiche Fehler gemacht wurden. Er suchte mehrere klinische Therapeuten auf, und alle enttäuschten ihn. Der Patient kann in nachvollziehbarer Weise schildern, wie ihn seine Therapeuten
© der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Siedler Verlag, München
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Autoren-Porträt von Daniel Kahneman
Daniel Kahneman, geboren 1934 in Tel Aviv, war Professor für Psychologie an der Princeton University und einer der weltweit einflussreichsten Kognitionspsychologen. Für seine Arbeit erhielt Kahneman zahlreiche Auszeichnungen namhafter Universitäten und wurde 2002 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. "Schnelles Denken, langsames Denken" wurde zum Weltbestseller. 2021 erschien sein Buch "Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt - und wie wir sie verbessern können" (gemeinsam mit Olivier Sibony und Cass R. Sunstein). Thorsten Schmidt, geboren 1960 in Saarbrücken, lebt z. Zt. in Regensburg und übersetzt Sachbücher aus dem Englischen und Französischen. Er hat u.a. Werke von E. O. Wilson, Joseph E. Stiglitz, Paul Collier, Daniel Kahnemann und Lewis Dartnell ins Deutsche übertragen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Daniel Kahneman
- 2014, 27. Aufl., 624 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Thorsten Schmidt
- Verlag: Pantheon
- ISBN-10: 3570552152
- ISBN-13: 9783570552155
- Erscheinungsdatum: 19.02.2014
Rezension zu „Schnelles Denken, langsames Denken “
»Er ist der große Entzauberer, der einem staunenden Publikum eindringlich vor Augen führt, wie tief das Reich der Illusionen alle Lebensbereiche durchdringt.« NZZ Bücher am Sonntag
Pressezitat
»Er ist der große Entzauberer, der einem staunenden Publikum eindringlich vor Augen führt, wie tief das Reich der Illusionen alle Lebensbereiche durchdringt.« NZZ Bücher am Sonntag
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