Zeugin der Toten
Kriminalroman. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimi-Preis, Kategorie National 2012 (3. Platz)
Judith Kepler hat viel gesehen. Sie ist "Cleanerin", macht aus Tatorten wieder Wohnungen.
Doch diesmal ist irgendetwas anders. In der Wohnung einer grausam ermordeten Frau gibt es Spuren, die in Judiths eigene Vergangenheit...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Zeugin der Toten “
Judith Kepler hat viel gesehen. Sie ist "Cleanerin", macht aus Tatorten wieder Wohnungen.
Doch diesmal ist irgendetwas anders. In der Wohnung einer grausam ermordeten Frau gibt es Spuren, die in Judiths eigene Vergangenheit führen. Die Tote kannte ihr Geheimnis: Als Kind wurde Judith unter mysteriösen Umständen in ein Heim gebracht. Im Schatten dabei - die Staatssicherheit.
Klappentext zu „Zeugin der Toten “
Spuren eines quälend langsamen Todes, Blutlachen wie Seen, Hände, die verzweifelt Halt suchen. Judith Kepler hat viel gesehen. Sie wird gerufen, wenn die Spurensicherung geht. Sie macht aus Tatorten wieder bewohnbare Räume. Sie ist ein Cleaner. In der Wohnung einer grausam ermordeten Frau begegnet sie ihrer eigenen Vergangenheit. Die Tote kannte Judiths Geheimnis. Unter mysteriösen Umständen war Judith als Kind in ein Heim gebracht worden. Herkunft unbekannt. Immer im Schatten dabei, die Staatssicherheit. Als Judith Fragen zu stellen beginnt, gerät sie in das Visier mächtiger Gegner.
Lese-Probe zu „Zeugin der Toten “
Zeugin der Toten von Elisabeth Herrmann1
Es war kein guter Ort zum Sterben.
Judith Kepler zog die Handbremse an und stellte den Motor
ab. Sie betrachtete das graue Mietshaus durch die Frontscheibe
des Transporters und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
Ihre Handflächen, die das Lenkrad umklammerten, wurden
feucht. Und ausgerechnet an diesem Morgen hatte sie einen absoluten
Anfänger dabei.
Entlang der dichtbefahrenen Straße reihten sich Discountkleiderketten,
Puffs und dubiose Gebrauchtwagenhändler aneinander.
Eine Ecke für alles, was billig zu haben war: Frauen,
Autos, auch Wohnungen. Einige Fenster des Hauses waren
blind. Vor anderen hingen anstelle der Gardinen ausgeblichene
Decken und Handtücher.
Ihr Beifahrer schaute begehrlich auf einen heruntergerittenen
Ford Fiesta, der für die monatliche Rate von neunundneunzig
Euro gleich mitgenommen werden konnte. Vorausgesetzt, man
hatte einen festen Arbeitsplatz. Kai hatte weder das eine noch
das andere. Keine neunundneunzig Euro und auch keinen Job.
Er war ein breitschultriger, großgewachsener Junge mit einer
dieser neumodischen, ins Gesicht gekämmten Pilzkopffrisuren.
Sie verlieh seinen kräftigen Zügen etwas ungewollt Poetisches,
von dem er selbst wahrscheinlich keine Ahnung hatte.
... mehr
Sie klappte die Sonnenblende herunter und sah in den Spiegel.
Was hielten Einundzwanzigjährige von Frauen über dreißig?
Jenseits von Gut und Böse wahrscheinlich. Sie strich sich
eine Haarsträhne zurück und merkte im gleichen Moment, wie
eitel das in seinen Augen wirken musste. Dabei machte sie das
jedes Mal, bevor sie an einen Einsatzort kam. Hände gewaschen,
Haare gekämmt. Der erste Eindruck war entscheidend.
Das galt für Wohnungen, für Jobs, für Männer und für alles andere,
das korrekt erledigt werden sollte.
Judith verkniff sich die Frage, wann sie das letzte Mal einen
Mann korrekt erledigt hatte. Ein seltsamer, absurder Gedanke.
Sie sollte in Zukunft weniger Selbstgespräche führen.
Kai riss sich los von dem Auto, hob die dichten Augenbrauen
bis unter den Ansatz seines Ponys und fragte mürrisch: »Geht
es jetzt da rauf oder was?«
Du bist korrekt erledigt nach der ersten Schicht, dachte sie
und versuchte ihrem Lächeln das Hinterhältige zu nehmen.
Sie stieg aus. Hinter ihrem Rücken hörte sie, dass er den Wagen
ebenfalls verließ. Er folgte ihr wie ein Welpe. Wahrscheinlich
würde er auf dem Absatz kehrtmachen, sobald er mitbekam,
auf was er sich eingelassen hatte, also konnte sie ihn auch
gleich mit vorauseilender Rücksichtslosigkeit behandeln.
Am Hauseingang stieg ihr der stechende Geruch von Urin in
die Nase - ein untrügliches Zeichen, dass die Schattengewächse
der Metropole diese Ecke erobert und ihr Revier markiert hatten.
Die Tür war eine Fünfziger-Jahre-Scheußlichkeit mit Aluminium-
rahmen und mehrfach gebrochenem Sicherheitsglas. Sie wurde
von innen geöffnet. Ein Mitarbeiter des Bestattungsinstituts trat
heraus und arretierte den Flügel. Er nickte Judith kurz zu.
»Mensch, Mädchen.« Er griff in die Jackentasche und hielt
Judith eine kleine Metalldose hin. Die Geste war die wortlose
Zusammenfassung dessen, was sie oben erwartete.
»Danke.«
Judith rieb sich die Mentholpaste unter die Nase. Dann
reichte sie die Dose an Kai weiter, der ratlos daran schnupperte
und sie ihr zurückgab. Er hatte keinen Schulabschluss, und die
Arbeitsagentur hatte ihm dieses Praktikum als letzte Chance verkauft.
Statt um sieben war er um halb neun zur Arbeit erschienen
und hatte eine vage Entschuldigung gemurmelt, in der ein
kaputter Wecker und einige Lebensjahre vorkamen, in denen
Wecker überhaupt keine Rolle gespielt hatten. Dass er trotzdem
mit von der Partie war, lag daran, dass der Arzt noch einen Notfall
gehabt hatte und sie auf die Leichenschau und die Freigabe
hatten warten müssen. Und daran, dass Judith vielleicht die Einzige
bei Dombrowski Facility Management war, die die Sache
mit dem Wecker verstand. Sie hatte vier. Verteilt an strategisch
wichtigen, weil schwer zu erreichenden Punkten in ihrer Wohnung
und so programmiert, dass sie im Abstand von jeweils einer
Minute klingelten. Der letzte stand im Bad.
»Nimm es.«
Aber Kai begriff entweder nicht, oder er hielt Mentholpaste
für Kinderkram. Seine Entscheidung. Judith gab dem Bestattungshelfer
die Dose zurück. Er schenkte ihr ein knappes Nicken
und zündete sich eine Zigarette an, während er mit einem Blick
den Himmel dieses Sommertages prüfte, der sich gerade von seinem
dunstigen Morgen löste.
»Sechs Wochen unterm Dach, und das bei dem Wetter. Wir
sind froh, dass wir sie in einem Stück in die Kiste bekommen haben.«
Sie kannten sich. Nicht gut genug, um zu wissen, wie der andere
hieß. Aber so, wie man alle irgendwann kennenlernte, die
in diesem merkwürdigen Gewerbe arbeiteten: der Verwaltung
des Todes. Jeder war an seinem Platz. Der Arzt, der den Totenschein
ausstellte. Die Bestatter, die die Leiche abholten und herrichteten.
Die Cleaner, die ein Haus wieder bewohnbar machten.
Man redete in einer zweckorientierten Sprache miteinander,
die auf alle falschen Zwischentöne des Jammers verzichtete und
sich aufs Wesentliche konzentrierte: den Job.
Kai wurde noch blasser, als er es schon war. Darauf hatte ihn
die nette Sachbearbeiterin auf dem Amt wohl nicht vorbereitet.
Gebäudereinigung. Putzen. Kann doch jeder. Geh mal hin und
schau es dir an. Und dann das, gleich am ersten Tag. Polternde
Schritte näherten sich. Der Arzt, erkennbar an der beflissenen
Eile und einer ausgebeulten Ledertasche, kam die Treppe herunter.
Ihm folgten zwei Bereitschaftspolizisten.
»Wir sind fertig da oben.« Wie so viele seiner Zunft redete er
von sich in der Mehrzahl. »Natürliche Todesursache, sanft entschlafen.
Mein Gott.«
Zwei LKW donnerten vorbei. Der Arzt trat auf den breiten
Bürgersteig und zog die Melange aus Ammoniak und Diesel tief
in seine Lungen. Dann schüttelte er den Kopf und eilte zu seinem
Wagen. Die beiden Beamten folgten ihm. Der Bestatter
rauchte.
»Dann mal los.« Judith machte eine Kopfbewegung, mit der
man Hunde bei Regen ins Haus trieb. Kai trottete hinterher.
Sie stiegen die Treppen hoch. Kinderwagen standen im Flur,
Schuhe, Gerümpel. Mit jedem Stockwerk entfernten sie sich
mehr vom Straßenlärm und kamen dem Vergessen näher. Ganz
oben waren es nur noch zwei Türen. Eine stand offen. Trotz
Menthol roch Judith die schwere, süßliche Ahnung des Todes.
Sechs Wochen, hatte der Mann gesagt. Und das Einzige, was
den Nachbarn irgendwann aufgefallen war, war der Gestank.
Kai keuchte.
»Was riecht hier so?«, fragte er und ahnte die Antwort bereits.
Judith hatte nicht vor, ihn zu schonen. Wer mit ihr unterwegs
war, musste sich darauf gefasst machen, mehr über seine ei genen
Grenzen zu erfahren, als ihm lieb war. Das Gesundheitsamt
hatte Dombrowski angerufen. Und Dombrowski schickte
Judith. Und Judith nahm eben keine Rücksicht auf Anfänger.
»Hier lang.«
Ein enger Flur mit abgetretenem Läufer, alter Tapete, trotz
Hochsommer Wintermäntel an der Garderobe. Vier offene
Türen. Links das Wohnzimmer. Der erste Eindruck Enge und
Armut. Sie hatten das Leben von Gerlinde Wachsmuth bestimmt.
Und die Einsamkeit, dachte Judith, als sie das Schlafzimmer
betrat. Über dem schmalen Bett hing ein schlichtes Holzkreuz.
Der zweite Bestattungshelfer verschloss gerade den Zinksarg
und tat das mit ganz besonderer Sorgfalt. Auch das Treppen-
haus war eng, sie würden die Leiche an manchen Stellen hochkant
transportieren müssen. Sein Kollege kam vom Rauchen zurück.
Beide stellten sich neben den Sarg, falteten die Hände und
murmelten ein leises Gebet.
Judith fragte sich, ob sie das auch taten, wenn keine Zeugen
in der Nähe waren. Sie wollte Kai gerade ein Zeichen geben,
dass auch er sich der Situation gemäß pietätvoll zu verhalten
hatte, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. Er starrte an
ihr vorbei auf das Bett. Seine Unterlippe begann zu zittern. Er
schluckte krampfhaft, der Adamsapfel hüpfte seinen kräftigen
Hals entlang wie ein Gummiball. Er schlug die Hand vor den
Mund, drehte sich um und taumelte aus dem Zimmer.
»Sein erstes Mal?«
Die beiden hatten ihr Gebet beendet. Judith nickte. Sie sah
auf ihre Armbanduhr und hoffte, Kai würde sich mit dem Kotzen
beeilen. Sie hatten schon zu viel Zeit verloren. Aber die Geräusche,
die aus dem Badezimmer drangen, hörten sich mehr
nach einem ausgiebigen Hustenanfall an, waren also eher Vermeidungstaktik
als echte Not. Am liebsten hätte sie den Jungen
sofort nach Hause geschickt. Vor der Toilettentür trennte sich
die Spreu vom Weizen.
»Ich fang schon mal an«, rief sie. »Geht alles von deiner Pause
ab.«
Ein Argument, das bei Leuten wie Kai oft Erstaunliches bewirkte.
Vielleicht hätte ihm jemand raten sollen, vor diesem Einsatz
nichts zu essen.
Als Erstes prüfte sie das Bett und den Zustand der Matratze. Es
stand mit dem Kopfende mittig an der Wand. Kissen und Decke
lagen links auf dem Boden, rechts stand der Sarg. Von Gerlinde
Wachsmuth war nur der Abdruck ihres Körpers auf dem Laken
geblieben. Sie musste eine kleine Person gewesen sein, die sich
zum Schlafen hingelegt hatte und nicht wieder aufgestanden
war. Ein ruhiger Tod. Ein sanfter, erwarteter Abschied. Ein stiller
Gang. Judith spürte den Frieden und die Abwesenheit von
Angst. Manchmal war der Tod der einzige Freund, von dem
man nicht vergessen wurde.
Und dann hatte Gerlinde Wachsmuths Leiche sechs Wochen
Zeit gehabt, sich im Hochsommer im fünften Stock einer schlecht
isolierten Wohnung aufzulösen. Die Silhouette ihres Körpers war
aus einem zarten Gelb, dort, wo Arme, Beine und Kopf gelegen
hatten. Doch zur Körpermitte hin verdunkelte sich der Ton, bis
er in der Mitte eine tiefviolette, fast schwarze Färbung erreichte.
In dieser dunklen Mulde bewegten sich weiße Punkte.
Judith musste nicht unter das Bett schauen, um zu wissen, dass
sich darunter die Flüssigkeit gesammelt hatte, die die Luft verpestete.
Obwohl die Bestattungshelfer das Fenster geöffnet hatten
und die Mentholpaste auf ihrer Oberlippe brannte, bohrte
sich dieser Geruch wie mit einem Sandstrahler in alle Poren.
Die beiden Männer hoben den Sarg hoch und trugen ihn, so
vorsichtig es ging, aus der Wohnung. Judith wartete, bis sie die
Toilettenspülung hörte.
»Alles okay?«, rief sie in den Flur.
Die Tür öffnete sich. Kai kam herüber und sah sie mit diesem
Ich-will-nach-Hause-Blick an, den alle hatten, die zum ersten
Mal hinter die schöne Fassade vom Ende aller Dinge geblickt
hatten.
»Ich brauche Schutzbrille, Vollanzug. Desinfektions- und
Reinigungsmittel. Plastikfolie. Sprühkanister, Formaldehydverdampfer,
Thermal- und Kaltnebelgerät. Die abgeschlossene
Giftkiste - Larvizide und Akarizide, Monophosphan und Blausäure.
Und natürlich die Kästen mit Scheuersand, Kernseife,
Bürsten und Schrubbern. Verstanden?«
Kai schüttelte den Kopf.
»Es liegt alles griffbereit auf der Pritsche.«
Statt einer Antwort stolperte er wieder ins Bad und schlug die
Tür hinter sich zu. Judith zählte von zehn bis eins und wartete.
Das Würgen ließ nach. Natürlich hätte sie selbst hinuntergehen
können. Doch das wollte sie nicht.
»Sind wir jetzt langsam so weit?« Sie sah auf ihre Armband-
uhr. »Ich gebe dir noch genau eine Minute. Dann rufe ich Dombrowski
an und sage ihm, er soll dich abziehen.«
Die Klospülung rauschte. Kurz darauf plätscherte der Wasserhahn.
Als Kai ein zweites Mal die Tür öffnete, drehte sie sich
um und erwartete seinen Abschied.
»Gibt's was für die Nase?«, fragte er.
»Atemschutzmasken.«
»Doppelt, wenn's geht.«
Judith grinste und zog zwei aus ihrer Hosentasche.
»Na also. Nie ohne.«
© Weltbild
Sie klappte die Sonnenblende herunter und sah in den Spiegel.
Was hielten Einundzwanzigjährige von Frauen über dreißig?
Jenseits von Gut und Böse wahrscheinlich. Sie strich sich
eine Haarsträhne zurück und merkte im gleichen Moment, wie
eitel das in seinen Augen wirken musste. Dabei machte sie das
jedes Mal, bevor sie an einen Einsatzort kam. Hände gewaschen,
Haare gekämmt. Der erste Eindruck war entscheidend.
Das galt für Wohnungen, für Jobs, für Männer und für alles andere,
das korrekt erledigt werden sollte.
Judith verkniff sich die Frage, wann sie das letzte Mal einen
Mann korrekt erledigt hatte. Ein seltsamer, absurder Gedanke.
Sie sollte in Zukunft weniger Selbstgespräche führen.
Kai riss sich los von dem Auto, hob die dichten Augenbrauen
bis unter den Ansatz seines Ponys und fragte mürrisch: »Geht
es jetzt da rauf oder was?«
Du bist korrekt erledigt nach der ersten Schicht, dachte sie
und versuchte ihrem Lächeln das Hinterhältige zu nehmen.
Sie stieg aus. Hinter ihrem Rücken hörte sie, dass er den Wagen
ebenfalls verließ. Er folgte ihr wie ein Welpe. Wahrscheinlich
würde er auf dem Absatz kehrtmachen, sobald er mitbekam,
auf was er sich eingelassen hatte, also konnte sie ihn auch
gleich mit vorauseilender Rücksichtslosigkeit behandeln.
Am Hauseingang stieg ihr der stechende Geruch von Urin in
die Nase - ein untrügliches Zeichen, dass die Schattengewächse
der Metropole diese Ecke erobert und ihr Revier markiert hatten.
Die Tür war eine Fünfziger-Jahre-Scheußlichkeit mit Aluminium-
rahmen und mehrfach gebrochenem Sicherheitsglas. Sie wurde
von innen geöffnet. Ein Mitarbeiter des Bestattungsinstituts trat
heraus und arretierte den Flügel. Er nickte Judith kurz zu.
»Mensch, Mädchen.« Er griff in die Jackentasche und hielt
Judith eine kleine Metalldose hin. Die Geste war die wortlose
Zusammenfassung dessen, was sie oben erwartete.
»Danke.«
Judith rieb sich die Mentholpaste unter die Nase. Dann
reichte sie die Dose an Kai weiter, der ratlos daran schnupperte
und sie ihr zurückgab. Er hatte keinen Schulabschluss, und die
Arbeitsagentur hatte ihm dieses Praktikum als letzte Chance verkauft.
Statt um sieben war er um halb neun zur Arbeit erschienen
und hatte eine vage Entschuldigung gemurmelt, in der ein
kaputter Wecker und einige Lebensjahre vorkamen, in denen
Wecker überhaupt keine Rolle gespielt hatten. Dass er trotzdem
mit von der Partie war, lag daran, dass der Arzt noch einen Notfall
gehabt hatte und sie auf die Leichenschau und die Freigabe
hatten warten müssen. Und daran, dass Judith vielleicht die Einzige
bei Dombrowski Facility Management war, die die Sache
mit dem Wecker verstand. Sie hatte vier. Verteilt an strategisch
wichtigen, weil schwer zu erreichenden Punkten in ihrer Wohnung
und so programmiert, dass sie im Abstand von jeweils einer
Minute klingelten. Der letzte stand im Bad.
»Nimm es.«
Aber Kai begriff entweder nicht, oder er hielt Mentholpaste
für Kinderkram. Seine Entscheidung. Judith gab dem Bestattungshelfer
die Dose zurück. Er schenkte ihr ein knappes Nicken
und zündete sich eine Zigarette an, während er mit einem Blick
den Himmel dieses Sommertages prüfte, der sich gerade von seinem
dunstigen Morgen löste.
»Sechs Wochen unterm Dach, und das bei dem Wetter. Wir
sind froh, dass wir sie in einem Stück in die Kiste bekommen haben.«
Sie kannten sich. Nicht gut genug, um zu wissen, wie der andere
hieß. Aber so, wie man alle irgendwann kennenlernte, die
in diesem merkwürdigen Gewerbe arbeiteten: der Verwaltung
des Todes. Jeder war an seinem Platz. Der Arzt, der den Totenschein
ausstellte. Die Bestatter, die die Leiche abholten und herrichteten.
Die Cleaner, die ein Haus wieder bewohnbar machten.
Man redete in einer zweckorientierten Sprache miteinander,
die auf alle falschen Zwischentöne des Jammers verzichtete und
sich aufs Wesentliche konzentrierte: den Job.
Kai wurde noch blasser, als er es schon war. Darauf hatte ihn
die nette Sachbearbeiterin auf dem Amt wohl nicht vorbereitet.
Gebäudereinigung. Putzen. Kann doch jeder. Geh mal hin und
schau es dir an. Und dann das, gleich am ersten Tag. Polternde
Schritte näherten sich. Der Arzt, erkennbar an der beflissenen
Eile und einer ausgebeulten Ledertasche, kam die Treppe herunter.
Ihm folgten zwei Bereitschaftspolizisten.
»Wir sind fertig da oben.« Wie so viele seiner Zunft redete er
von sich in der Mehrzahl. »Natürliche Todesursache, sanft entschlafen.
Mein Gott.«
Zwei LKW donnerten vorbei. Der Arzt trat auf den breiten
Bürgersteig und zog die Melange aus Ammoniak und Diesel tief
in seine Lungen. Dann schüttelte er den Kopf und eilte zu seinem
Wagen. Die beiden Beamten folgten ihm. Der Bestatter
rauchte.
»Dann mal los.« Judith machte eine Kopfbewegung, mit der
man Hunde bei Regen ins Haus trieb. Kai trottete hinterher.
Sie stiegen die Treppen hoch. Kinderwagen standen im Flur,
Schuhe, Gerümpel. Mit jedem Stockwerk entfernten sie sich
mehr vom Straßenlärm und kamen dem Vergessen näher. Ganz
oben waren es nur noch zwei Türen. Eine stand offen. Trotz
Menthol roch Judith die schwere, süßliche Ahnung des Todes.
Sechs Wochen, hatte der Mann gesagt. Und das Einzige, was
den Nachbarn irgendwann aufgefallen war, war der Gestank.
Kai keuchte.
»Was riecht hier so?«, fragte er und ahnte die Antwort bereits.
Judith hatte nicht vor, ihn zu schonen. Wer mit ihr unterwegs
war, musste sich darauf gefasst machen, mehr über seine ei genen
Grenzen zu erfahren, als ihm lieb war. Das Gesundheitsamt
hatte Dombrowski angerufen. Und Dombrowski schickte
Judith. Und Judith nahm eben keine Rücksicht auf Anfänger.
»Hier lang.«
Ein enger Flur mit abgetretenem Läufer, alter Tapete, trotz
Hochsommer Wintermäntel an der Garderobe. Vier offene
Türen. Links das Wohnzimmer. Der erste Eindruck Enge und
Armut. Sie hatten das Leben von Gerlinde Wachsmuth bestimmt.
Und die Einsamkeit, dachte Judith, als sie das Schlafzimmer
betrat. Über dem schmalen Bett hing ein schlichtes Holzkreuz.
Der zweite Bestattungshelfer verschloss gerade den Zinksarg
und tat das mit ganz besonderer Sorgfalt. Auch das Treppen-
haus war eng, sie würden die Leiche an manchen Stellen hochkant
transportieren müssen. Sein Kollege kam vom Rauchen zurück.
Beide stellten sich neben den Sarg, falteten die Hände und
murmelten ein leises Gebet.
Judith fragte sich, ob sie das auch taten, wenn keine Zeugen
in der Nähe waren. Sie wollte Kai gerade ein Zeichen geben,
dass auch er sich der Situation gemäß pietätvoll zu verhalten
hatte, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. Er starrte an
ihr vorbei auf das Bett. Seine Unterlippe begann zu zittern. Er
schluckte krampfhaft, der Adamsapfel hüpfte seinen kräftigen
Hals entlang wie ein Gummiball. Er schlug die Hand vor den
Mund, drehte sich um und taumelte aus dem Zimmer.
»Sein erstes Mal?«
Die beiden hatten ihr Gebet beendet. Judith nickte. Sie sah
auf ihre Armbanduhr und hoffte, Kai würde sich mit dem Kotzen
beeilen. Sie hatten schon zu viel Zeit verloren. Aber die Geräusche,
die aus dem Badezimmer drangen, hörten sich mehr
nach einem ausgiebigen Hustenanfall an, waren also eher Vermeidungstaktik
als echte Not. Am liebsten hätte sie den Jungen
sofort nach Hause geschickt. Vor der Toilettentür trennte sich
die Spreu vom Weizen.
»Ich fang schon mal an«, rief sie. »Geht alles von deiner Pause
ab.«
Ein Argument, das bei Leuten wie Kai oft Erstaunliches bewirkte.
Vielleicht hätte ihm jemand raten sollen, vor diesem Einsatz
nichts zu essen.
Als Erstes prüfte sie das Bett und den Zustand der Matratze. Es
stand mit dem Kopfende mittig an der Wand. Kissen und Decke
lagen links auf dem Boden, rechts stand der Sarg. Von Gerlinde
Wachsmuth war nur der Abdruck ihres Körpers auf dem Laken
geblieben. Sie musste eine kleine Person gewesen sein, die sich
zum Schlafen hingelegt hatte und nicht wieder aufgestanden
war. Ein ruhiger Tod. Ein sanfter, erwarteter Abschied. Ein stiller
Gang. Judith spürte den Frieden und die Abwesenheit von
Angst. Manchmal war der Tod der einzige Freund, von dem
man nicht vergessen wurde.
Und dann hatte Gerlinde Wachsmuths Leiche sechs Wochen
Zeit gehabt, sich im Hochsommer im fünften Stock einer schlecht
isolierten Wohnung aufzulösen. Die Silhouette ihres Körpers war
aus einem zarten Gelb, dort, wo Arme, Beine und Kopf gelegen
hatten. Doch zur Körpermitte hin verdunkelte sich der Ton, bis
er in der Mitte eine tiefviolette, fast schwarze Färbung erreichte.
In dieser dunklen Mulde bewegten sich weiße Punkte.
Judith musste nicht unter das Bett schauen, um zu wissen, dass
sich darunter die Flüssigkeit gesammelt hatte, die die Luft verpestete.
Obwohl die Bestattungshelfer das Fenster geöffnet hatten
und die Mentholpaste auf ihrer Oberlippe brannte, bohrte
sich dieser Geruch wie mit einem Sandstrahler in alle Poren.
Die beiden Männer hoben den Sarg hoch und trugen ihn, so
vorsichtig es ging, aus der Wohnung. Judith wartete, bis sie die
Toilettenspülung hörte.
»Alles okay?«, rief sie in den Flur.
Die Tür öffnete sich. Kai kam herüber und sah sie mit diesem
Ich-will-nach-Hause-Blick an, den alle hatten, die zum ersten
Mal hinter die schöne Fassade vom Ende aller Dinge geblickt
hatten.
»Ich brauche Schutzbrille, Vollanzug. Desinfektions- und
Reinigungsmittel. Plastikfolie. Sprühkanister, Formaldehydverdampfer,
Thermal- und Kaltnebelgerät. Die abgeschlossene
Giftkiste - Larvizide und Akarizide, Monophosphan und Blausäure.
Und natürlich die Kästen mit Scheuersand, Kernseife,
Bürsten und Schrubbern. Verstanden?«
Kai schüttelte den Kopf.
»Es liegt alles griffbereit auf der Pritsche.«
Statt einer Antwort stolperte er wieder ins Bad und schlug die
Tür hinter sich zu. Judith zählte von zehn bis eins und wartete.
Das Würgen ließ nach. Natürlich hätte sie selbst hinuntergehen
können. Doch das wollte sie nicht.
»Sind wir jetzt langsam so weit?« Sie sah auf ihre Armband-
uhr. »Ich gebe dir noch genau eine Minute. Dann rufe ich Dombrowski
an und sage ihm, er soll dich abziehen.«
Die Klospülung rauschte. Kurz darauf plätscherte der Wasserhahn.
Als Kai ein zweites Mal die Tür öffnete, drehte sie sich
um und erwartete seinen Abschied.
»Gibt's was für die Nase?«, fragte er.
»Atemschutzmasken.«
»Doppelt, wenn's geht.«
Judith grinste und zog zwei aus ihrer Hosentasche.
»Na also. Nie ohne.«
© Weltbild
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Autoren-Porträt von Elisabeth Herrmann
Elisabeth Herrmann wurde 1959 in Marburg/Lahn geboren. Sie machte Abitur auf dem Frankfurter Abendgymnasium und arbeitete nach ihrem Studium als Fernsehjournalistin beim RBB, bevor sie mit ihrem Roman "Das Kindermädchen" ihren Durchbruch erlebte. Fast alle ihre Bücher wurden oder werden verfilmt: Die Reihe um den Berliner Anwalt Vernau mit Jan Josef Liefers. Elisabeth Herrmann erhielt den Radio-Bremen-Krimipreis und den Deutschen Krimipreis 2012. Sie lebt mit ihrer Tochter in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elisabeth Herrmann
- 2011, 427 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: List Hardcover
- ISBN-10: 3471350373
- ISBN-13: 9783471350379
Rezension zu „Zeugin der Toten “
»Hier hat sie alles gebündelt, was ihren Romanen Substanz und Leuchten verleiht.« Cora Stephan, Die Welt, 05.03.11 »Schnell, schlagfertig, selbstsicher, aber auch empfindsam, intelligent und absolut sympathisch - Judith Kepler ist eine tolle Heldin, der man gerne durch diese Geschichte von Täuschung und Lügen folgt.« WDR5, Reinhard Jahn, 26.02.11 »So wünscht man sich starke deutsche Krimis: eine profilierte Heldin, ein gesellschaftspolitischer Plot, ein Blick auf die unbekannten Seiten unseres Landes.« Deutschlandradio Kultur,Andrea Fischer 6.04.11 »Sorgsam konstruiert, gut geschrieben, mit menschlichem Tiefgang und politischem Biss.« Hamburger Morgenpost, 24.03.11
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