Weiße Nächte, weites Land (ePub)
Zwei Schwestern und der Traum vom Glück in der Fremde
Deutschland im 18.Jahrhundert. Die beiden Schwestern Christina und Eleonora könnten unterschiedlicher nicht sein: Christina ist temperamentvoll und stets auf ihren Vorteil bedacht – ganz anders als...
Deutschland im 18.Jahrhundert. Die beiden Schwestern Christina und Eleonora könnten unterschiedlicher nicht sein: Christina ist temperamentvoll und stets auf ihren Vorteil bedacht – ganz anders als...
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Produktinformationen zu „Weiße Nächte, weites Land (ePub)“
Zwei Schwestern und der Traum vom Glück in der Fremde
Deutschland im 18.Jahrhundert. Die beiden Schwestern Christina und Eleonora könnten unterschiedlicher nicht sein: Christina ist temperamentvoll und stets auf ihren Vorteil bedacht – ganz anders als die zurückhaltende junge Witwe Eleonora. Beide folgen dem Ruf der Zarin Katharina, in Russland ein neues Leben zu beginnen und in den Weiten des russischen Reiches ihr Glück zu finden. Doch die Wirklichkeit erweist sich als sehr viel rauer und grausamer, als es sich die beiden Schwestern in ihren Träumen ausgemalt haben...
Deutschland im 18.Jahrhundert. Die beiden Schwestern Christina und Eleonora könnten unterschiedlicher nicht sein: Christina ist temperamentvoll und stets auf ihren Vorteil bedacht – ganz anders als die zurückhaltende junge Witwe Eleonora. Beide folgen dem Ruf der Zarin Katharina, in Russland ein neues Leben zu beginnen und in den Weiten des russischen Reiches ihr Glück zu finden. Doch die Wirklichkeit erweist sich als sehr viel rauer und grausamer, als es sich die beiden Schwestern in ihren Träumen ausgemalt haben...
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WEISSE NÄCHTE, WEITES LAND von Martina SahlerPROLOG
Zarskoje Selo bei Sankt Petersburg, Katharinenpalast, Juli 1765
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»Sie kommen zu Tausenden, Kolja.« Katharina blickte aus dem geöffneten Fenster ihres Schlafgemachs in den Schlosspark, als könnte sie die anreisenden Menschen von ihrem Platz aus sehen.
Die milde Nachtluft trug den Duft von Rosen und Lavendel mit sich und vertrieb den süßlichen Schweißgeruch, der sich nach ihrem Liebesspiel in den Seidenlaken, den Volants und den Brokatvorhängen des Prunkbetts verfangen hatte. Ein Schimmer wie von Perlmutt erhellte das Zimmer, beleuchtete auf eine unwirklich scheinende Art die mit Gold überzogenen Stuckarbeiten der Decke und die bernsteinfarbenen Intarsien des Toilettentischs.
Die Zarin liebte die Zeit der Weißen Nächte in Sankt Petersburg, doch mehr noch als rauschende Ballnächte in den Palästen genoss sie die intimen Rendezvous, die sie in ihren privaten Gemächern im Katharinenpalast zelebrierte.
Nikolaj Petrowitsch wusste, welches Privileg ihm zuteilwurde, indem er auserwählt worden war, Russlands Alleinherrscherin beizuwohnen.
Andererseits erschien die Wahrscheinlichkeit, zu einem Gespielen der Kaiserin erkoren zu werden, nicht gering, wenn man wie Nikolaj mit einem makellosen Gesicht und einem Körper wie eine griechische Statue gesegnet war.
Weit über Russlands Grenzen hinaus lästerte man in den Wirtsstuben grölend, bei den Banketten hinter vorgehaltenem Fächer, dass Katharina, die im Mai ihren sechsunddreißigsten Geburtstag gefeiert hatte, ihre Sinnlichkeit und Wollust wahrlich keinen Zwängen unterwarf. Sie nahm sich, was ihr gefiel, und genoss die Kunstfertigkeiten der besten Liebhaber - neben den Gefälligkeiten ihres ständigen Begleiters Grigorij Orlow, dem kein noch so ehrgeiziger Günstling den Rang ablaufen konnte, wie man in den Kreisen der jungen Offi ziere munkelte.
Nikolaj nippte an seinem Champagnerglas, während er quer auf dem riesigen Bett der Zarin inmitten zerwühlter Tücher lag, die Ecke eines Überwurfs mit flandrischer Spitze nachlässig über die Hüfte gezogen, den Kopf seitlich auf eine Hand gestützt. Sein Oberkörper glänzte im hereinfallenden Licht, die Muskelstränge entlang seiner Oberschenkel verliefen wie von einem Bildhauer gemeißelt.
»Sie folgen Eurem Ruf, Kaiserliche Hoheit. Ihr habt ihnen den Himmel auf Erden versprochen«, sagte Nikolaj. Katharina lachte, ohne sich umzudrehen. Tief sog sie die Nachtluft ein.
Nikolaj betrachtete ihre festen Schultern, den Schwung ihrer Wirbelsäule, die Rundung ihrer Hüfte, die kräftigen Schenkel. Sie trug nur ein dünnes, bodenlanges Negligé mit schmalem Nerzbesatz an den weit fallenden Ärmeln und Aufschlägen. Links rutschte es ihr von der Schulter und entblößte ihre cremeweiße Haut wie zufällig, aber wer die Zarin kannte, der wusste, dass sie nichts dem Zufall überließ.
Wie sie da fast nackt stand und aus dem Fenster schaute, im Licht des nächtlichen Sommerhimmels wie von innen heraus leuchtend, brauchte sie weder Prunk noch Pomp: Die Haltung ihres Kopfes, die Nackenlinie, die schlanken Hände, die sich auf die Fensterbrüstung stützten - mit jeder Faser ihres Körpers war sie die mächtigste Frau der Welt.
Nikolaj spürte eine allzu bekannte Regung unter der Spitzendecke, während er seine Kaiserin betrachtete. Obwohl er mit seinen dreiundzwanzig Jahren sonst den frisch erblühten Hoffräulein in den Pavillons und - wenn es sich ergab - auch mit besonderem Vergnügen den ganz jungen, verschämt kichernden Zofen in lauschigen Ecken den Vorzug gab, musste er sich im kaiserlichen Schlafgemach eingestehen, dass er nicht vor dem erotisierenden Flair der Macht gefeit war. Es hatte in der Tat seinen ganz eigenen Reiz, wenn die Alleinherrscherin Russlands unter den kraftvollen Stößen seiner Lenden wie von Sinnen um mehr und immer mehr bettelte und spitze Schreie der Lust ausstieß.
»Nicht den Himmel auf Erden, Kolja.« Sie wandte sich ihm zu wie einem Schüler, der einer Belehrung bedurfte.
Ein Lächeln umspielte ihren Mund, aber ihre Augen blieben ernst, verhangen noch von den vor wenigen Minuten genossenen Freuden. Eine Strähne hatte sich aus ihrem mit Perlen und Kämmen hochgesteckten Haar gelöst. »Es ist ein Angebot auf Gegenseitigkeit. Meine Landsleute haben erkannt, welch Nutzen ihnen diese Möglichkeit bietet.«
»Auf Gegenseitigkeit? Welchen Nutzen habt Ihr, Eure Majestät, wenn Ihr diese Deutschen holt?« Fragen zu stellen galt als bewährtes Mittel, die Zarin bei Laune und in Plauderstimmung zu halten, wusste Nikolaj. Die Zarin mochte es, ihre Untergebenen über ihre Wohltaten zu unterrichten.
Kritische Betrachtungen verkniff man sich lieber, solange man nicht zu dem handverlesenen Kreis ihrer persönlichen Berater gehörte. Davon war der junge Gardeoffizier weit entfernt.
Dass ihn die Zarin in seinem Urteilsvermögen unterschätzte, nahm Nikolaj ohne die geringste Gefühlsregung hin. Sein Ehrgeiz lag nicht darin, die Zarin durch scharfsinnigen, analytischen Verstand zu beeindrucken.
»Nun, das liegt doch auf der Hand, Koletschka.« Sie kam näher und ließ sich neben ihm auf dem Bett nieder, strich mit einem Finger über seine Brust bis zum Schlüsselbein und den Arm hinab. »Der Fleiß der Deutschen ist sprichwörtlich - sie werden nicht mal eine Generation benötigen, um an der Wolga einen wichtigen Stützpunkt für den Handel mit dem Orient, vor allem mit Persien, zu schaffen. Die Bauern unter ihnen werden das Land im Süden urbar machen, sie werden sich vermehren, ihre Dörfer vergrößern, zu Städten anwachsen lassen und so innerhalb kürzester Zeit ein Bollwerk gegen die Steppenvölker bilden, die seit Jahrzehnten mit ihren Angriffen genau da für Unruhe sorgen, wo ich über wenig Hand habe verfüge.«
»Russland ist groß, und die Zarin ist weit«, murmelte Nikolaj zum Zeichen, dass er sie verstanden hatte.
»Genau das meine ich.« Katharina nickte mit einem Lächeln.
»Im Gegenzug erhalten die Kolonisten ihr eigenes Land und zinslose Kredite für alle Anschaffungen, die sie zur Errichtung ihrer bäuerlichen Betriebe benötigen. Sie brauchen nicht zum Militär, dürfen ihre Religion frei ausüben - alles Vergünstigungen, die ihnen in ihrem eigenen Land verwehrt bleiben. Insofern - ja, vielleicht ist es für manch einen tatsächlich der Himmel auf Erden, was ich ihnen biete.« Wieder lächelte sie. »Es beglückt mich, wenn meine Landsleute meiner Einladung folgen. Ich mag sie gern hier haben, die Deutschen. Sie werden unserem Land Gutes tun. Wir werden sie mit Samthandschuhen anfassen, damit sie sich hier wohl fühlen.«
Nikolaj nahm einen weiteren Schluck Champagner. Die Zarin hatte sich in eine leidenschaftliche Rede hineingesteigert - die Besiedlungspolitik gehörte zu ihren Lieblingsthemen, wie er wusste. Aber es war unverkennbar, dass sie nicht deshalb mit ihm sprach, weil ihr auch nur ein Deut an seinem Urteil lag. Längst hatte sie ihre Entscheidungen gefällt, ihr Manifest, das Einreisewillige aus den deutschen Fürstentümern nach Russland einlud, wurde in allen Städten und auf den Dörfern verteilt und fand ein gewaltiges Echo, das noch nicht verklungen war. Bei der Festung Kronstadt standen die Soldaten bereit, um die Schiffe aus Lübeck mit den Emigranten in Empfang zu nehmen und die Weiterreise an die Wolga zu organisieren.
Der Plan der Kaiserin ging auf: Die wirtschaftliche Not zwang die deutschen Bauern in die Knie, die sozialen Bedingungen nach dem Siebenjährigen Krieg verschlechterten sich ins Unerträgliche. Das Verlassen der Heimat bereitete ihnen keinen Schmerz, sondern erfüllte sie mit frischem Mut.
Wie verlockend erschien es, ein neues, sorgenfreies Leben im sagenumwobenen Russland zu beginnen, für dreißig Jahre befreit von allen Abgaben und Diensten, mit freiem Schiffstransport und Kostgeld ... Nikolaj verstand, was die Menschen antrieb, die in diesen Tagen mit all ihren Habseligkeiten in Bündeln und mit großer Hoffnung im Herzen bei Kronstadt an Land gingen.
Doch konnte die Kaiserin ihre Versprechungen halten?
Konnte sie die Lage weit im Süden des Landes an der unteren Wolga kontrollieren, wie sie es plante? Nikolaj bezweifelte es, aber er schwieg.
Die Hand der Kaiserin wanderte von seiner Schulter zu seinem Gesicht, wo sie mit dem Daumen zart über Nasenwurzel und Brauen strich, als wollte sie eine Falte glätten.
»Du verstehst das nicht, Kolja, und das brauchst du auch nicht. Vertrau deiner Kaiserin«, flüsterte sie, als hätte er es tatsächlich gewagt, Einwände vorzubringen. Nikolaj wusste, welche Rolle ihm in dieser Weißen Nacht in Zarskoje Selo zugedacht war, und er beabsichtigte nicht, sie abzustreifen. Ganz im Gegenteil hegte er die nicht unberechtigte Hoffnung, dass ihr nächtliches Rendezvous in nicht allzu ferner Zukunft eine Wiederholung finden könnte.
Nikolaj strebte als einer der Liebhaber der russischen Zarin weder Exklusivität an noch eine Sonderstellung als innenpolitischer Ratgeber. Ihm genügte es vollends, im Dunstkreis Ihrer Majestät von ihrer Zuneigung zu profitieren.
Wann immer es vonnöten sein sollte.
Ein Glitzern trat in ihre Augen, als sie sich nun über ihn beugte und die Lippen beim Lächeln öffnete, um sie mit der Zungenspitze zu befeuchten. Das Negligé schwang auf und entblößte ihre üppige Brust, als sie in einer langsamen Bewegung einen Schenkel über seine Hüfte hob.
Nikolaj erwiderte ihr Lächeln. Er war bereit.
1. KAPITEL
Waidbach, Februar 1766
»Ihr könnt jetzt zu ihr gehen.« Ein kalter Lufthauch wehte aus der mit Vorhängen abgedunkelten Kammer, als Pastor Jäckel heraustrat. Er zog den Kopf mit dem grauen Haarkranz ein, um nicht gegen den Balken zu stoßen. Er nickte Christina zu, die vor der Tür gewartet hatte, und nahm dann die hinter ihr stehende Eleonora in die Arme.
Christina sah, wie er die knochigen Schultern beugte, ihre Schwester an sich drückte und ihr dabei väterlich über den Rücken streichelte.
Christina hob das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust. Dass sie nicht zu seinen liebsten Schäfchen in der Gemeinde zählte, war kein Geheimnis. Doch wen kratzte das? Wer brauchte die Zuwendung eines weltfremden Pfaffen? Er sollte seines Amtes walten, wann immer er gebraucht wurde wie jetzt am Sterbebett ihrer Mutter, und sich ansonsten aus den Dingen heraushalten, die ihn nichts angingen.
Ob er Mitleid für ihre Schwester empfand? Weil der verfluchte Krieg ihr früh den Mann genommen hatte und sie mit ihrer knapp dreijährigen Tochter zusehen musste, wie sie über die Runden kam?
Aber nein. Nicht die Umstände erwärmten des Pastors Herz für ihre Schwester und ließen eine Zornesfalte zwischen seinen Brauen wachsen, wann immer er in ihre, Christinas, Richtung blickte. Es lag an ihren so unterschiedlichen Wesen.
Dem Pastor passte es seit ihrer frühesten Jugend nicht, dass sie das Leben in vollen Zügen zu genießen verstand und sich mit flinken Fingern als Erste die Rosinen herauspickte, wo immer es Kuchen gab.
Das bescheidene Auftreten ihrer Schwester hingegen, ihre Sanftmut, ihr Gemeinschaftssinn und ihr geradliniges Denken fanden von Kindheit an seine Zustimmung und zauberten, wann immer er ihr begegnete, ein unerträglich gütiges Lächeln auf sein langes, faltiges Gesicht.
»Komm jetzt!« Sie packte Eleonora an der Schürze, die sie über ihrem Winterkleid trug, und riss sie aus der Umklammerung des Geistlichen.
»Ich will auch zu Mutter, ich will auch!« Die schrille Stimme der achtjährigen Klara erklang aus der Wohnstube, dann das Poltern, als sie die drei Stufen hinauf zum ersten Stockwerk des Fachwerkhauses hastete.
»Pst«, zischte Christina ihr zu. Pastor Jäckel nahm Klaras von Sommersprossen übersätes Gesicht in beide Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Geh mit deinen Schwestern, Klara, und nimm Abschied in Würde.«
»Abschied? Oh, nein, Herr Pastor, bitte nicht. Bitte machen Sie, dass sie noch nicht stirbt! Sie darf noch nicht sterben. Was soll aus uns werden, wenn sie nicht mehr da ist? Bitte, Herr Pastor, helfen Sie ihr ...«
»Kindchen, Kindchen ...« Der Geistliche presste das Mädchen an sich, streichelte über die zu Kringeln aufgedrehten honigfarbenen Zöpfe. »Gott ruft sie zu sich. Ihre Stunde ist gekommen. Hilf ihr, in Ruhe und Frieden zu gehen.« Klaras Schluchzen an seinem Bauch verebbte. Zitternd zog sie die Nase hoch und wischte sie sich mit dem Blusenärmel ab.
Eleonora drängte sich in dem engen Flur, in dem sich der Geruch nach feuchtem Holz mit dem abgestandenen Rauch des Bollerofens aus der Küche mischte, an dem Pastor vorbei. »Wo ist Sophia? Hast du nicht gerade noch mit ihr gespielt, Klara?«
Christina unterdrückte ein Seufzen. Selbst in der Todesstunde der Mutter galt die größte Sorge ihrer Schwester wie stets dem Töchterchen.
Klara wies mit dem ausgestreckten Arm in die Wohnstube.
»Sie spielt mit dem Kochgeschirr und den Löffeln auf den Dielen. Ich habe ihr eine Wolldecke untergelegt, wegen der Kälte vom Boden.«
Eleonora linste um die Ecke, um sich selbst zu vergewissern, dass es dem Kind an nichts fehlte. Der sorgenvolle Blick in ihren Augen blieb.
Nacheinander betraten die drei Schwestern das Sterbezimmer der Mutter. Das herb-bittere Aroma von Kräutern überlagerte den Modergeruch der Holzbalken. Der Doktor hatte strenge Anweisung gegeben, die Fenster nicht mehr zu öffnen, und so wölkte sich seit Tagen über dem schmalen Holzbett etwas wie der Hauch des Todes, den Theresa Weber mit jedem Ausatmen verströmte.
Christina setzte sich links von ihr auf den einzigen Hocker. Das Holz knarrte. Rechts von ihr ging Eleonora auf die Knie. Klara kauerte sich ans Fußende, umklammerte durch die Laken hindurch die Beine der Mutter und bettete den Kopf in ihren Schoß, während die Tränen über die Kinderwangen liefen.
»Mutter ...« Christinas Stimme klang belegt, als sie das Gesicht der Sterbenden betrachtete. Wächsern wölbten sich die Wangenknochen unter der grauen Haut. Die Augen lagen tief in den Höhlen, von Schatten umgeben. Der Mund war eingefallen, die Lippen nach innen geglitten, die Unterlippe bebte bei jedem Ausatmen, das der Sterbenden Mühsal zu bereiten und den letzten Rest ihrer Lebenskraft zu kosten schien. Ihre Brust hob und senkte sich unter dem Tuch.
Theresa griff nach Christinas Ellbogen, mit der Rechten tastete sie nach Eleonora, die die knochigen Finger der Mutter mit beiden Händen umfing. Theresas Blick unter halbgeschlossenen, wimpernlosen Lidern heftete sich auf Christina. »Du musst es mir versprechen«, hauchte sie. Christinas Herz begann zu pochen, während sie näher mit dem Ohr an den Mund der Sterbenden ging. »Was soll ich dir versprechen, Mutter? Was?«
»Du musst mir versprechen, dass du dich um deine Schwestern kümmerst. Dass du die Weberei fortführst mit allen Kräften, zu denen du fähig bist ...« Ein heftiger Hustenanfall unterbrach Theresa. Kraftlos röchelte sie und atmete pfeifend ein. Endlich beruhigte sie sich so weit, dass sie fortfahren konnte. »Die Weberei ist alles, was ihr besitzt. Ihr müsst neue Kunden gewinnen, reichere Kunden, bessere Garne erwerben, nicht nur den Flachs von der Wiese verspinnen ... Der Pastor wird euch helfen ...«
»Mutter, die Weberei ... ich ... Ich verspreche dir, dass ich die Schwestern nicht im Stich lasse. Wir werden einen Weg finden. Du kannst in Frieden schlafen, wir werden es schaffen ...«
»Die Weberei, Christina, das Lebenswerk eures Vaters. Er hat es sich so sehr gewünscht ...«
»Ja, Mutter, wir versprechen es!« Klaras helle Mädchenstimme unterbrach das Flüstern der beiden. »Wir versprechen, dass wir die Weberei fortführen! Ich werde von morgens bis abends am Webstuhl sitzen, des Nachts das Spinnrad treten und mich bis nach Büdingen umhören, wo Leinwand vonnöten ist, damit wir neue Aufträge bekommen.«
Christina schoss ihr einen strafenden Blick zu, sah dann zu Eleonora, die die Stirn auf die Hand der Mutter gedrückt hielt. Ihre Schultern bebten.
Christina strich der Mutter die verfilzten Haare aus dem Gesicht. »Ich werde mich um alles kümmern. Du kannst dich auf mich verlassen. Uns wird es bessergehen als jemals zuvor, das schwöre ich dir beim Andenken unseres Vaters.«
Eigentlich hätte es Eleonora zugestanden, dieses letzte Gespräch mit der Mutter zu führen. Mit ihren einundzwanzig Jahren war sie die älteste der drei Weber-Töchter, Christina ein Jahr jünger. Klara war gerade erst acht geworden.
Es stellte aber schon seit vielen Jahren unter den Weber-Frauen niemand in Frage, dass Christina bei allen wichtigen Entscheidungen das Sagen hatte. Wie lebenstüchtig, schlau und zäh sie war, hatte sie bei vielerlei Gelegenheiten in ihrem Weiberhaushalt bewiesen. Sie war diejenige, die immer einen Laib Brot, einen Korb Eier oder ein Huhn von irgendwoher auftrieb, wenn der Hunger gar zu sehr drückte. Die irgendein Mannsbild - einen Knecht vom Nachbarhof, einen Gesellen auf der Wanderschaft - ins Haus schob, wenn der alte Webstuhl im Kellergewölbe mal wieder hakte und sich festgezurrt hatte. Die eine Handvoll fröhlicher Mägde überredete, beim Spinnen zu helfen, und ihnen dafür als Lohn im Weber-Haus lustige Gesellschaft mit den Burschen aus der Nachbarschaft bot.
Christina füllte diese Führungsrolle in der Familie mit Selbstverständlichkeit aus. Eleonora war nicht der Typ Frau, der sie ihr streitig machte. Klara war von einem anderen Schlag, aber wiederum viel zu jung, als dass sie überhaupt jemand ernst nahm.
»Ruhe in Frieden, Mutter«, flüsterte Eleonora nun, da die Atemzüge der Mutter immer dünner wurden und sich ein Engelslächeln wie von einem Neugeborenen auf ihren Zügen ausbreitete.
»Ruhe in Frieden«, hauchte auch Christina in dem Moment, als Theresa ihren letzten Atemzug tat und die Luft kaum vernehmbar zwischen ihren Lippen ausströmte. Klara schluchzte auf und schlug die Hand vor den Mund, um den Laut wie von einem gequälten Tier zu unterdrücken.
Eleonoras und Klaras Augen waren immer noch rot verquollen, als die drei Schwestern wenig später in der Stube saßen und in kleinen Schlucken heiße Milch tranken. Gleich würde der Tischler klopfen. Wie stets würde er der erste Dorfbewohner sein, der Eintritt ins Trauerhaus erhielt, um die Maße für den Sarg zu nehmen. Sie wärmten ihre klammen Finger an den Bechern, aber die innere Kälte blieb.
»Wie geht es weiter mit der Weberei?«, fragte Klara schließlich. Sie streckte Sophia einladend die Arme entgegen, aber das Kind kuschelte sich nur noch enger auf dem Schoß der jungen Mutter zusammen. Eleonora schlang die Arme um ihr Töchterchen, als müsste sie es beschützen vor dem Tod, der durch das Haus geschlichen war und sich geholt hatte, wonach ihn verlangte.
»Gar nicht geht es weiter mit der Weberei«, gab Christina zurück. Der Tod der Mutter verursachte ein wehes Ziehen in ihrem Herzen. Andererseits kam er nicht unerwartet - sie hatten sich seit vielen Wochen, in denen die Mutter das Bett nicht mehr verlassen hatte und nicht einmal die dünne Suppe bei sich behalten konnte, darauf vorbereitet.
Klara erstarrte.
Eleonora blickte ihre Schwester an. »Was hast du vor?« Noch bevor sie antworten konnte, sprang Klara so abrupt auf, dass der Stuhl hinter ihr zu Boden polterte und gegen das hölzerne Spinnrad stieß. Mit dem Zeigefinger wies sie auf ihre Schwester, als wollte sie sie aufspießen. »Du hast es ihr versprochen! Du hast versprochen, dass du dich um die Weberei kümmerst. Kaum ist sie tot, da brichst du deinen Schwur schon wieder. Ich hasse dich, Christina, ich hasse dich so sehr!« Die Tränen zogen Spuren durch den Schmutz auf ihren Wangen.
Christina schüttelte den Kopf. »Denk nach, Klara. Ich habe Mutter nichts versprochen, was mit der Weberei zu tun hat. Das warst du.«
Klara fiel der Kiefer herab. Sie rückte das Spinnrad zurecht, hob den Stuhl wieder auf und ließ sich auf die geflochtene Sitzfläche plumpsen. »Wie ... wie meinst du das? Eleonora, du hast gehört, was Christina gesagt hat, oder? Kümmern wollte sie sich!« Flehend wandte sie sich an ihre Lieblingsschwester.
Eleonora vergrub die Nase in den dichten Haaren ihrer Tochter, deren Farbe von Holunderbeeren sie ihr vererbt hatte. Die dunkelhaarige junge Mutter mit den saphirblauen Augen, den markanten schmalen Brauen, den weichen Gesichtszügen und den vollen Lippen und das Mädchen in ihrem Arm, das ihr jüngeres Ebenbild war, boten einen Anblick, der jedem Maler entzückt hätte. Nur der trauernde Ausdruck störte den Moment der Schönheit. »Man muss vorsichtig sein mit Schwüren, Klara. Niemals darf man leichtfertig etwas versprechen, von dem man nicht weiß, ob man es halten kann. Wie sollte es uns ohne Mutter gelingen, dem Flachsanbau, der Spinnerei, dem Weberbetrieb neuen Aufschwung zu geben, wenn es uns schon mit ihr nicht gelungen ist? Ich weiß, wie sehr sie es sich wünschte, aber bei klarem Verstand hätte sie das niemals von uns verlangt. Es ist unmöglich. Wir haben in den vergangenen Jahren nichts unversucht gelassen, und trotzdem ... Am Ende wissen wir nicht einmal, wie wir den Tischler bezahlen sollen, der ihren Sarg zimmert.« Sie schluckte.
»Es ging ihr darum, dass wir versorgt sind«, widersprach Klara. »Was haben wir denn sonst außer dem Geschäft mit der Leinwand? Wovon sollen wir leben?« Eleonora gegenüber verlor ihre Stimme an Schärfe, auch wenn sie immer wieder bitterböse Blicke in Christinas Richtung warf. Diese lauschte dem Gespräch ihrer Schwestern, während sie den Becher auf dem Tisch in den Händen drehte.
Einzelne Locken ihrer Haarpracht, die sie unter einer Haube mit Klammern und Spangen zu bändigen versuchte, ringelten sich um ihr herzförmiges Gesicht. Die Wimpern warfen sichelförmige Schatten auf ihre Wangenknochen, als sie die Lider senkte.
War dies nun der rechte Zeitpunkt, um die Schwestern in ihre Pläne einzuweihen? Die Mutter war kaum eine Stunde tot ...
Ein Winkelzug des Schicksals, dass ausgerechnet Pastor Jäckel den Weg gewiesen hatte. Das hatte er sich doch stets gewünscht, oder? Seit er vor fünf Wochen nach dem Gottesdienst das Manifest der russischen Zarin Wort für Wort, kommentarlos und mit stoischer Miene der Gemeinde der Protestanten vorgetragen hatte, war Christina wie besessen von der Idee, alle Brücken abzubrechen und in der Fremde ein neues Leben zu beginnen. Alles, alles klang verlockend - die freie Schiffspassage, das Handgeld, das kostenlose Land, die zinslosen Kredite ... Welche Möglichkeiten sich da auftaten!
Christina fühlte Schwindel, wann immer sie von ihrem neuen Leben zu träumen begann, aber sie wusste auch, dass ihre Mutter niemals ihre Zustimmung gegeben hätte. Deswegen hatte sie ihren Plan bis zu diesem traurigen Tag gehütet wie einen kostbaren Schatz, obwohl sie schier platzte vor Abenteuerlust.
»Ich habe mich bereits nach neuen Möglichkeiten für uns umgehört«, unterbrach sie nun mit immer noch gesenktem Blick und unterdrückter Begeisterung den Wortwechsel zwischen Eleonora und Klara.
Schweigen senkte sich über die drei Schwestern. Mit vorgeneigtem Kopf starrten Klara und Eleonora sie an, während Sophia in den Armen ihrer Mutter am Daumen nuckelte.
Endlich hob Christina die Lider. Ihre Augen funkelten vor Übermut und Lebenshunger. Nur wer den Mut hat zu träumen, hat auch die Kraft zu kämpfen, dachte sie. »Wir ziehen nach Russland«, sagte sie.
Johann Röhrich schritt in der Wohnstube auf und ab wie ein Bär an der Kette. Das Stampfen seiner Schritte hallte von den Backsteinwänden wider, während er die Hände zu Fäusten geballt hielt. Wann immer er das Fenster zur Dorfstraße erreichte, lugte er hinaus auf den Weg, der zu seinem Hof führte, wo er Rinder und Kleinvieh hielt. Ansonsten betrieb er hier seine Flickschusterwerkstatt, die ihm und seiner Familie in den besseren Wochen das tägliche Brot sicherte. Zu seinen wertvollsten Besitztümern gehörten drei Milchkühe. Butter, Quark und drei Sorten Käse verkauften oder tauschten die Röhrichs in den umliegenden Dörfern. Auf dem unebenen Weg, der das Langdorf Waidbach schnurgerade durchschnitt und von dem der Pfad zum Hof abzweigte, rumpelte ein Treck mit vielleicht einem Dutzend Fuhrwerken vorbei. Die Alten und die kleinen Kinder hockten zwischen dem mit Seilen und Tüchern befestigten und gegen das Wetter geschützten Mobiliar, alle anderen liefen nebenher, viele in ihrem Sonntagsstaat. Männer trieben schnalzend die Gäule an und zogen mit ausholenden Schritten in Richtung Büdingen. Ihr munterer Wandergesang drang zu Johann.
Der Flickschuster presste die Lippen aufeinander. Bald, bald, dachte er. In den Wirtshäusern in Büdingen grassierte schon lange das Russlandfieber. Er beabsichtigte allerdings nicht wie viele andere Bauern, Handwerker und Tagelöhner, seinen Besitz unter Wert an einen der Juden zu verkaufen, die die russische Zarin ausdrücklich von der Einladung in ihr riesiges Reich ausgeschlossen hatte. Er wollte einen Höchstpreis erzielen, obwohl das bedeutete, dass er sich noch gedulden musste, bevor er mit seiner Familie aufbrechen konnte. Eile war kein guter Begleiter, wenn es ums Geschäftemachen ging.
Am letzten Sonntag hatten sie seine Schwester zu Grabe getragen, die Theresa Weber, deren Mann genau wie ihr Schwiegersohn im Siebenjährigen Krieg gefallen war und die drei Töchter hinterließ. Zwei von ihnen waren allerdings keine Kinder mehr, nein, weiß Gott keine Kinder.
Johann stieß ein heiseres Lachen aus, während er wieder durch die Scheibe nach draußen stierte. Er kratzte sich im Schritt. Wo blieb sie nur?
Einmal die Woche kam seine Nichte Christina auf den Hof, um die Milch für die Familie Weber zu holen. Und um die Rechnung zu begleichen, wobei es Johann weder um klingende Münzen noch um grobes Leinen ging. Er leckte sich über die Lippen und griff sich ein weiteres Mal zwischen die Beine, um sein anschwellendes Glied in eine bequemere Lage zu bringen.
Es war wie verhext. Er brauchte nur an Christina zu denken, an ihre jungen Brüste, die wie saftige Äpfel in seine Pranken passten, an das weiße Fleisch ihrer Hinterbacken, die sich ihm lustvoll entgegenreckten, und ihm platzte schier die Hose vor Geilheit. Es verwunderte ihn vor allem deshalb, weil sie sich schon seit mittlerweile zwei Jahren zu ihren heimlichen Stelldicheins trafen, seine Lust auf sie aber immer noch zu wachsen schien.
Johann Röhrich hatte so viele Frauen in seinem Leben gevögelt, dass er nicht auskäme, wenn er an jedem Finger zehn abzählte. Die Namen hatte er alle vergessen. In den meisten Fällen hatte ein einziges Mal gereicht, um seine Gier zu stillen.
Nur mit Christina lief es anders. Das Luder verstand es, allein durch ihren wiegenden Gang, durch diese ganz eigene Art, ihm glutvolle Blicke hinter halbgesenkten Lidern zuzuwerfen, durch ihr tiefes Lachen oder eine scheinbar zufällige Berührung sein Feuer immer wieder aufs Neue zu entfachen. Vielleicht aber, und diesen Gedanken spann Johann Röhrich lieber nicht weiter, lag es auch daran, dass sie ihm zu einer Zeit in die Hände gefallen war, in der er sich
dem Tod näher fühlte als dem Leben. Er war siebenundvierzig Jahre alt, und der Kriegsdienst sowie die Hungerwinter hatten ihre Spuren hinterlassen.
»Was ... stapfst du hin und her?«
Johann fuhr herum und starrte zu dem langen Esstisch, an dem soeben noch seine Frau Marliese, den Kopf auf den Unterarm gebettet, geschnarcht hatte. Nun richtete sie sich auf, wischte sich mit dem Ärmel über das feuchte Kinn und versuchte, ihren Oberkörper im Gleichgewicht zu halten, während sie ihren Mann lallend ansprach.
»Geh ins Bett!«, erwiderte er mühsam beherrscht. »Schlaf deinen Rausch aus, alte Vettel.« Er presste die Fäuste zusammen, dass die Haut sich spannte. Ihn juckte es in den Händen, der Alten mit ein paar Schlägen das Maul zu stopfen.
Wie sie ihn anekelte. Wie sie sich an dem Tisch breitmachte, auf dem er im Geiste bereits die gespreizten Schenkel unter den hochgeschobenen Röcken seiner Nichte gesehen hatte. Von Jähzorn gepackt, sprang er auf seine Frau zu, zerrte sie an den Schultern hoch. »Pack dich, du Schlampe! Ich will dich hier nicht mehr sehen.«
»Ich ... will hier sein. Gib mir noch Branntwein!« Johanns Kopf ruckte herum, bis sein Blick auf den halbvollen Becher fiel. Er nahm ihn und setzte ihn seiner Frau an die Lippen, schüttete und schüttete, obwohl sie zu husten begann und der scharfe Schnaps ihre Mundwinkel und ihren Hals hinablief. Sie japste und röchelte, doch er ließ sie erst los, als der letzte Tropfen vergossen war.
»So, hast du nun genug?« Er drehte sie herum, führte sie mit eisenhartem Griff in die angrenzende Kammer, gab ihr einen Stoß, so dass sie vor dem Bett zusammenbrach. Dann warf er die Tür zu.
Er atmete schwer, als er in die Wohnstube zurückkehrte. Wo blieb Christina nur, verdammt. Marliese jedenfalls würde ihn in der nächsten Stunde nicht stören, seinen Sohn Bernhard wusste er in der Werkstatt, die er nicht vor den Abendstunden schließen würde. Seine dreizehnjährige Tochter Helmine verdingte sich als Helferin bei den Waschfrauen am Dorfbrunnen.
An seinen Sohn Alfons verschwendete Johann keinen Gedanken - er war von Geburt an schwachsinnig und verbrachte den größten Teil seiner Zeit brabbelnd im Bett, wo er zusammengekrümmt wie ein Säugling lag und seine Finger betrachtete oder beleckte.
Was hätte Johann darum gegeben, wenn ihm seine verlotterte Frau und der Schwachkopf weggestorben wären, bevor er in sein neues Leben aufbrach. Wie Eitergeschwüre hingen ihm die beiden am Bein. Johann hegte die Hoffnung, dass die wochenlange Reise nach Russland über ihre Kräfte gehen würde, und malte sich in beglückenden Träumen aus, wie die erkalteten Körper seiner Frau und seines Sohnes über die Reling des Schiffes, das sie von Lübeck nach Kronstadt bringen würde, gehievt wurden und auf den Grund der Ostsee sanken.
Endlich ging die Tür auf. Beleuchtet vom trüben Licht der Februarsonne, stand sie vor ihm wie ein Engel, in der Hand die blecherne Milchkanne, im Gesicht dieses Lächeln, das mehr Einladung als Gruß war.
Er trat auf sie zu und riss sie in die Arme, um sie atemlos zu küssen. Seine Bartstoppeln kratzten über ihre Samthaut. Gleichzeitig nestelte er mit der Rechten an ihrem Mieder, gierig darauf, endlich das zarte Fleisch zu kneten. Scheppernd ging die Milchkanne zu Boden. Christina stemmte sich mit den Fäusten gegen die Brust des Onkels. Dann löste sie eine Hand, ließ sie tiefer gleiten und umfasste durch den Stoff der Beinlinge sein angeschwollenes Glied, während sie ihn triumphierend anschaute.
Johann stöhnte auf und legte den Kopf in den Nacken, als er ihre Finger spürte, die so feingliedrig waren und doch so fest zugreifen konnten. Der eben noch erlebte Jähzorn heizte seine Triebe an wie Öl das Feuer. Er war wie von Sinnen vor Begierde, und dieses Luder spielte mit ihm.
»Ich sehe, du hast auf mich gewartet.« Christina lachte auf.
»Komm rein, ich besorg's dir hier gleich auf dem Tisch«, keuchte er. »Dir wird das Lachen schon vergehen, du Miststück.«
»Wo ist Tante Marliese?«
»In der Schlafkammer. Die wird uns nicht stören, die Alte. Sturzbesoffen ist sie mal wieder.«
»Wenn sie aufwacht?«
»Wird sie nicht. Komm schon ...« Wieder wollte er sie küssen, mit den Lippen ihre frei liegenden Brüste umfangen, aber sie entwand sich ihm und knöpfte das Mieder zu.
»Das ist zu riskant. Ich möchte nicht von Tante Marliese überrascht werden.«
»Gehen wir in die Scheune.« Schon packte er sie am Ellbogen und zog sie hinter sich her.
Christina kicherte über seine Eile. Ihre Unbeschwertheit spornte ihn nur noch mehr an.
In der Scheune ließ er sich nicht länger aufhalten. Er drehte Christina in seinen Armen herum, drückte ihren Rücken nieder, so dass sie sich mit beiden Händen an einem der Holzbalken festhalten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit einer Hand hob er ihre Röcke, mit der anderen öffnete er seine Gürtelschnalle und ließ die Hose auf die Waden fallen. Tief drang er in sie ein, stieß im rasenden Rhythmus wieder und wieder gegen ihr weiches Fleisch, bis er zu explodieren glaubte. Mit geübtem Griff glitt er aus ihr heraus und erleichterte sich stöhnend ins Heu. Fast übermenschliche Überwindung kostete ihn dieser Schritt jedes Mal, aber er nahm es in Kauf, weil ihm die Nichte als kecke Gespielin tausendmal lieber war denn als trächtige Stute.
Während Christina ihre Röcke wieder ordnete und ihr Mieder zuknöpfte, ließ sich Johann, tief ermattet, breitbeinig auf dem mit Stroh bedeckten Boden nieder. Sein schlaffes, feucht glänzendes Glied lag wie ein toter Wurm zwischen seinen behaarten Beinen. Er atmete mit geöffnetem Mund und hielt die Lider geschlossen. Als er die Augen aufschlug, stand Christina immer noch da, fertig angezogen, abwartend.
»Worauf ...? Ach so.« Er grinste und beugte sich vor, um in den an seinem Gürtel befestigten Lederbeutel fassen zu können. Von unten schnipste er ihr eine Münze zu, die sich mehrmals in der Luft drehte. Christina fing sie gekonnt auf und steckte sie in ihr Dekolleté. Sie knickste und neigte spöttisch lächelnd den Kopf. »Danke, Onkel.«
»Wo die Milch steht, weißt du«, fügte er noch hinzu. Sie nickte, warf ihm eine Kusshand zu und wandte sich zum Gehen.
»Ach, Christina?« Schon am Scheunentor, drehte sie sich noch einmal um. Fragend hob sie eine Braue.
»Habt ihr schon einen Termin vom Werber?« Christina schüttelte den Kopf. »Es ... es gibt da noch einiges zu erledigen ...«, erwiderte sie vage.
»Wir sollten es so einrichten, dass wir als Großfamilie gemeinsam losziehen.«
Aus Christinas Gesicht wich die Farbe. »Wie ... wie meinst
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© 2013 by Knaur Taschenbuch
»Sie kommen zu Tausenden, Kolja.« Katharina blickte aus dem geöffneten Fenster ihres Schlafgemachs in den Schlosspark, als könnte sie die anreisenden Menschen von ihrem Platz aus sehen.
Die milde Nachtluft trug den Duft von Rosen und Lavendel mit sich und vertrieb den süßlichen Schweißgeruch, der sich nach ihrem Liebesspiel in den Seidenlaken, den Volants und den Brokatvorhängen des Prunkbetts verfangen hatte. Ein Schimmer wie von Perlmutt erhellte das Zimmer, beleuchtete auf eine unwirklich scheinende Art die mit Gold überzogenen Stuckarbeiten der Decke und die bernsteinfarbenen Intarsien des Toilettentischs.
Die Zarin liebte die Zeit der Weißen Nächte in Sankt Petersburg, doch mehr noch als rauschende Ballnächte in den Palästen genoss sie die intimen Rendezvous, die sie in ihren privaten Gemächern im Katharinenpalast zelebrierte.
Nikolaj Petrowitsch wusste, welches Privileg ihm zuteilwurde, indem er auserwählt worden war, Russlands Alleinherrscherin beizuwohnen.
Andererseits erschien die Wahrscheinlichkeit, zu einem Gespielen der Kaiserin erkoren zu werden, nicht gering, wenn man wie Nikolaj mit einem makellosen Gesicht und einem Körper wie eine griechische Statue gesegnet war.
Weit über Russlands Grenzen hinaus lästerte man in den Wirtsstuben grölend, bei den Banketten hinter vorgehaltenem Fächer, dass Katharina, die im Mai ihren sechsunddreißigsten Geburtstag gefeiert hatte, ihre Sinnlichkeit und Wollust wahrlich keinen Zwängen unterwarf. Sie nahm sich, was ihr gefiel, und genoss die Kunstfertigkeiten der besten Liebhaber - neben den Gefälligkeiten ihres ständigen Begleiters Grigorij Orlow, dem kein noch so ehrgeiziger Günstling den Rang ablaufen konnte, wie man in den Kreisen der jungen Offi ziere munkelte.
Nikolaj nippte an seinem Champagnerglas, während er quer auf dem riesigen Bett der Zarin inmitten zerwühlter Tücher lag, die Ecke eines Überwurfs mit flandrischer Spitze nachlässig über die Hüfte gezogen, den Kopf seitlich auf eine Hand gestützt. Sein Oberkörper glänzte im hereinfallenden Licht, die Muskelstränge entlang seiner Oberschenkel verliefen wie von einem Bildhauer gemeißelt.
»Sie folgen Eurem Ruf, Kaiserliche Hoheit. Ihr habt ihnen den Himmel auf Erden versprochen«, sagte Nikolaj. Katharina lachte, ohne sich umzudrehen. Tief sog sie die Nachtluft ein.
Nikolaj betrachtete ihre festen Schultern, den Schwung ihrer Wirbelsäule, die Rundung ihrer Hüfte, die kräftigen Schenkel. Sie trug nur ein dünnes, bodenlanges Negligé mit schmalem Nerzbesatz an den weit fallenden Ärmeln und Aufschlägen. Links rutschte es ihr von der Schulter und entblößte ihre cremeweiße Haut wie zufällig, aber wer die Zarin kannte, der wusste, dass sie nichts dem Zufall überließ.
Wie sie da fast nackt stand und aus dem Fenster schaute, im Licht des nächtlichen Sommerhimmels wie von innen heraus leuchtend, brauchte sie weder Prunk noch Pomp: Die Haltung ihres Kopfes, die Nackenlinie, die schlanken Hände, die sich auf die Fensterbrüstung stützten - mit jeder Faser ihres Körpers war sie die mächtigste Frau der Welt.
Nikolaj spürte eine allzu bekannte Regung unter der Spitzendecke, während er seine Kaiserin betrachtete. Obwohl er mit seinen dreiundzwanzig Jahren sonst den frisch erblühten Hoffräulein in den Pavillons und - wenn es sich ergab - auch mit besonderem Vergnügen den ganz jungen, verschämt kichernden Zofen in lauschigen Ecken den Vorzug gab, musste er sich im kaiserlichen Schlafgemach eingestehen, dass er nicht vor dem erotisierenden Flair der Macht gefeit war. Es hatte in der Tat seinen ganz eigenen Reiz, wenn die Alleinherrscherin Russlands unter den kraftvollen Stößen seiner Lenden wie von Sinnen um mehr und immer mehr bettelte und spitze Schreie der Lust ausstieß.
»Nicht den Himmel auf Erden, Kolja.« Sie wandte sich ihm zu wie einem Schüler, der einer Belehrung bedurfte.
Ein Lächeln umspielte ihren Mund, aber ihre Augen blieben ernst, verhangen noch von den vor wenigen Minuten genossenen Freuden. Eine Strähne hatte sich aus ihrem mit Perlen und Kämmen hochgesteckten Haar gelöst. »Es ist ein Angebot auf Gegenseitigkeit. Meine Landsleute haben erkannt, welch Nutzen ihnen diese Möglichkeit bietet.«
»Auf Gegenseitigkeit? Welchen Nutzen habt Ihr, Eure Majestät, wenn Ihr diese Deutschen holt?« Fragen zu stellen galt als bewährtes Mittel, die Zarin bei Laune und in Plauderstimmung zu halten, wusste Nikolaj. Die Zarin mochte es, ihre Untergebenen über ihre Wohltaten zu unterrichten.
Kritische Betrachtungen verkniff man sich lieber, solange man nicht zu dem handverlesenen Kreis ihrer persönlichen Berater gehörte. Davon war der junge Gardeoffizier weit entfernt.
Dass ihn die Zarin in seinem Urteilsvermögen unterschätzte, nahm Nikolaj ohne die geringste Gefühlsregung hin. Sein Ehrgeiz lag nicht darin, die Zarin durch scharfsinnigen, analytischen Verstand zu beeindrucken.
»Nun, das liegt doch auf der Hand, Koletschka.« Sie kam näher und ließ sich neben ihm auf dem Bett nieder, strich mit einem Finger über seine Brust bis zum Schlüsselbein und den Arm hinab. »Der Fleiß der Deutschen ist sprichwörtlich - sie werden nicht mal eine Generation benötigen, um an der Wolga einen wichtigen Stützpunkt für den Handel mit dem Orient, vor allem mit Persien, zu schaffen. Die Bauern unter ihnen werden das Land im Süden urbar machen, sie werden sich vermehren, ihre Dörfer vergrößern, zu Städten anwachsen lassen und so innerhalb kürzester Zeit ein Bollwerk gegen die Steppenvölker bilden, die seit Jahrzehnten mit ihren Angriffen genau da für Unruhe sorgen, wo ich über wenig Hand habe verfüge.«
»Russland ist groß, und die Zarin ist weit«, murmelte Nikolaj zum Zeichen, dass er sie verstanden hatte.
»Genau das meine ich.« Katharina nickte mit einem Lächeln.
»Im Gegenzug erhalten die Kolonisten ihr eigenes Land und zinslose Kredite für alle Anschaffungen, die sie zur Errichtung ihrer bäuerlichen Betriebe benötigen. Sie brauchen nicht zum Militär, dürfen ihre Religion frei ausüben - alles Vergünstigungen, die ihnen in ihrem eigenen Land verwehrt bleiben. Insofern - ja, vielleicht ist es für manch einen tatsächlich der Himmel auf Erden, was ich ihnen biete.« Wieder lächelte sie. »Es beglückt mich, wenn meine Landsleute meiner Einladung folgen. Ich mag sie gern hier haben, die Deutschen. Sie werden unserem Land Gutes tun. Wir werden sie mit Samthandschuhen anfassen, damit sie sich hier wohl fühlen.«
Nikolaj nahm einen weiteren Schluck Champagner. Die Zarin hatte sich in eine leidenschaftliche Rede hineingesteigert - die Besiedlungspolitik gehörte zu ihren Lieblingsthemen, wie er wusste. Aber es war unverkennbar, dass sie nicht deshalb mit ihm sprach, weil ihr auch nur ein Deut an seinem Urteil lag. Längst hatte sie ihre Entscheidungen gefällt, ihr Manifest, das Einreisewillige aus den deutschen Fürstentümern nach Russland einlud, wurde in allen Städten und auf den Dörfern verteilt und fand ein gewaltiges Echo, das noch nicht verklungen war. Bei der Festung Kronstadt standen die Soldaten bereit, um die Schiffe aus Lübeck mit den Emigranten in Empfang zu nehmen und die Weiterreise an die Wolga zu organisieren.
Der Plan der Kaiserin ging auf: Die wirtschaftliche Not zwang die deutschen Bauern in die Knie, die sozialen Bedingungen nach dem Siebenjährigen Krieg verschlechterten sich ins Unerträgliche. Das Verlassen der Heimat bereitete ihnen keinen Schmerz, sondern erfüllte sie mit frischem Mut.
Wie verlockend erschien es, ein neues, sorgenfreies Leben im sagenumwobenen Russland zu beginnen, für dreißig Jahre befreit von allen Abgaben und Diensten, mit freiem Schiffstransport und Kostgeld ... Nikolaj verstand, was die Menschen antrieb, die in diesen Tagen mit all ihren Habseligkeiten in Bündeln und mit großer Hoffnung im Herzen bei Kronstadt an Land gingen.
Doch konnte die Kaiserin ihre Versprechungen halten?
Konnte sie die Lage weit im Süden des Landes an der unteren Wolga kontrollieren, wie sie es plante? Nikolaj bezweifelte es, aber er schwieg.
Die Hand der Kaiserin wanderte von seiner Schulter zu seinem Gesicht, wo sie mit dem Daumen zart über Nasenwurzel und Brauen strich, als wollte sie eine Falte glätten.
»Du verstehst das nicht, Kolja, und das brauchst du auch nicht. Vertrau deiner Kaiserin«, flüsterte sie, als hätte er es tatsächlich gewagt, Einwände vorzubringen. Nikolaj wusste, welche Rolle ihm in dieser Weißen Nacht in Zarskoje Selo zugedacht war, und er beabsichtigte nicht, sie abzustreifen. Ganz im Gegenteil hegte er die nicht unberechtigte Hoffnung, dass ihr nächtliches Rendezvous in nicht allzu ferner Zukunft eine Wiederholung finden könnte.
Nikolaj strebte als einer der Liebhaber der russischen Zarin weder Exklusivität an noch eine Sonderstellung als innenpolitischer Ratgeber. Ihm genügte es vollends, im Dunstkreis Ihrer Majestät von ihrer Zuneigung zu profitieren.
Wann immer es vonnöten sein sollte.
Ein Glitzern trat in ihre Augen, als sie sich nun über ihn beugte und die Lippen beim Lächeln öffnete, um sie mit der Zungenspitze zu befeuchten. Das Negligé schwang auf und entblößte ihre üppige Brust, als sie in einer langsamen Bewegung einen Schenkel über seine Hüfte hob.
Nikolaj erwiderte ihr Lächeln. Er war bereit.
1. KAPITEL
Waidbach, Februar 1766
»Ihr könnt jetzt zu ihr gehen.« Ein kalter Lufthauch wehte aus der mit Vorhängen abgedunkelten Kammer, als Pastor Jäckel heraustrat. Er zog den Kopf mit dem grauen Haarkranz ein, um nicht gegen den Balken zu stoßen. Er nickte Christina zu, die vor der Tür gewartet hatte, und nahm dann die hinter ihr stehende Eleonora in die Arme.
Christina sah, wie er die knochigen Schultern beugte, ihre Schwester an sich drückte und ihr dabei väterlich über den Rücken streichelte.
Christina hob das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust. Dass sie nicht zu seinen liebsten Schäfchen in der Gemeinde zählte, war kein Geheimnis. Doch wen kratzte das? Wer brauchte die Zuwendung eines weltfremden Pfaffen? Er sollte seines Amtes walten, wann immer er gebraucht wurde wie jetzt am Sterbebett ihrer Mutter, und sich ansonsten aus den Dingen heraushalten, die ihn nichts angingen.
Ob er Mitleid für ihre Schwester empfand? Weil der verfluchte Krieg ihr früh den Mann genommen hatte und sie mit ihrer knapp dreijährigen Tochter zusehen musste, wie sie über die Runden kam?
Aber nein. Nicht die Umstände erwärmten des Pastors Herz für ihre Schwester und ließen eine Zornesfalte zwischen seinen Brauen wachsen, wann immer er in ihre, Christinas, Richtung blickte. Es lag an ihren so unterschiedlichen Wesen.
Dem Pastor passte es seit ihrer frühesten Jugend nicht, dass sie das Leben in vollen Zügen zu genießen verstand und sich mit flinken Fingern als Erste die Rosinen herauspickte, wo immer es Kuchen gab.
Das bescheidene Auftreten ihrer Schwester hingegen, ihre Sanftmut, ihr Gemeinschaftssinn und ihr geradliniges Denken fanden von Kindheit an seine Zustimmung und zauberten, wann immer er ihr begegnete, ein unerträglich gütiges Lächeln auf sein langes, faltiges Gesicht.
»Komm jetzt!« Sie packte Eleonora an der Schürze, die sie über ihrem Winterkleid trug, und riss sie aus der Umklammerung des Geistlichen.
»Ich will auch zu Mutter, ich will auch!« Die schrille Stimme der achtjährigen Klara erklang aus der Wohnstube, dann das Poltern, als sie die drei Stufen hinauf zum ersten Stockwerk des Fachwerkhauses hastete.
»Pst«, zischte Christina ihr zu. Pastor Jäckel nahm Klaras von Sommersprossen übersätes Gesicht in beide Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Geh mit deinen Schwestern, Klara, und nimm Abschied in Würde.«
»Abschied? Oh, nein, Herr Pastor, bitte nicht. Bitte machen Sie, dass sie noch nicht stirbt! Sie darf noch nicht sterben. Was soll aus uns werden, wenn sie nicht mehr da ist? Bitte, Herr Pastor, helfen Sie ihr ...«
»Kindchen, Kindchen ...« Der Geistliche presste das Mädchen an sich, streichelte über die zu Kringeln aufgedrehten honigfarbenen Zöpfe. »Gott ruft sie zu sich. Ihre Stunde ist gekommen. Hilf ihr, in Ruhe und Frieden zu gehen.« Klaras Schluchzen an seinem Bauch verebbte. Zitternd zog sie die Nase hoch und wischte sie sich mit dem Blusenärmel ab.
Eleonora drängte sich in dem engen Flur, in dem sich der Geruch nach feuchtem Holz mit dem abgestandenen Rauch des Bollerofens aus der Küche mischte, an dem Pastor vorbei. »Wo ist Sophia? Hast du nicht gerade noch mit ihr gespielt, Klara?«
Christina unterdrückte ein Seufzen. Selbst in der Todesstunde der Mutter galt die größte Sorge ihrer Schwester wie stets dem Töchterchen.
Klara wies mit dem ausgestreckten Arm in die Wohnstube.
»Sie spielt mit dem Kochgeschirr und den Löffeln auf den Dielen. Ich habe ihr eine Wolldecke untergelegt, wegen der Kälte vom Boden.«
Eleonora linste um die Ecke, um sich selbst zu vergewissern, dass es dem Kind an nichts fehlte. Der sorgenvolle Blick in ihren Augen blieb.
Nacheinander betraten die drei Schwestern das Sterbezimmer der Mutter. Das herb-bittere Aroma von Kräutern überlagerte den Modergeruch der Holzbalken. Der Doktor hatte strenge Anweisung gegeben, die Fenster nicht mehr zu öffnen, und so wölkte sich seit Tagen über dem schmalen Holzbett etwas wie der Hauch des Todes, den Theresa Weber mit jedem Ausatmen verströmte.
Christina setzte sich links von ihr auf den einzigen Hocker. Das Holz knarrte. Rechts von ihr ging Eleonora auf die Knie. Klara kauerte sich ans Fußende, umklammerte durch die Laken hindurch die Beine der Mutter und bettete den Kopf in ihren Schoß, während die Tränen über die Kinderwangen liefen.
»Mutter ...« Christinas Stimme klang belegt, als sie das Gesicht der Sterbenden betrachtete. Wächsern wölbten sich die Wangenknochen unter der grauen Haut. Die Augen lagen tief in den Höhlen, von Schatten umgeben. Der Mund war eingefallen, die Lippen nach innen geglitten, die Unterlippe bebte bei jedem Ausatmen, das der Sterbenden Mühsal zu bereiten und den letzten Rest ihrer Lebenskraft zu kosten schien. Ihre Brust hob und senkte sich unter dem Tuch.
Theresa griff nach Christinas Ellbogen, mit der Rechten tastete sie nach Eleonora, die die knochigen Finger der Mutter mit beiden Händen umfing. Theresas Blick unter halbgeschlossenen, wimpernlosen Lidern heftete sich auf Christina. »Du musst es mir versprechen«, hauchte sie. Christinas Herz begann zu pochen, während sie näher mit dem Ohr an den Mund der Sterbenden ging. »Was soll ich dir versprechen, Mutter? Was?«
»Du musst mir versprechen, dass du dich um deine Schwestern kümmerst. Dass du die Weberei fortführst mit allen Kräften, zu denen du fähig bist ...« Ein heftiger Hustenanfall unterbrach Theresa. Kraftlos röchelte sie und atmete pfeifend ein. Endlich beruhigte sie sich so weit, dass sie fortfahren konnte. »Die Weberei ist alles, was ihr besitzt. Ihr müsst neue Kunden gewinnen, reichere Kunden, bessere Garne erwerben, nicht nur den Flachs von der Wiese verspinnen ... Der Pastor wird euch helfen ...«
»Mutter, die Weberei ... ich ... Ich verspreche dir, dass ich die Schwestern nicht im Stich lasse. Wir werden einen Weg finden. Du kannst in Frieden schlafen, wir werden es schaffen ...«
»Die Weberei, Christina, das Lebenswerk eures Vaters. Er hat es sich so sehr gewünscht ...«
»Ja, Mutter, wir versprechen es!« Klaras helle Mädchenstimme unterbrach das Flüstern der beiden. »Wir versprechen, dass wir die Weberei fortführen! Ich werde von morgens bis abends am Webstuhl sitzen, des Nachts das Spinnrad treten und mich bis nach Büdingen umhören, wo Leinwand vonnöten ist, damit wir neue Aufträge bekommen.«
Christina schoss ihr einen strafenden Blick zu, sah dann zu Eleonora, die die Stirn auf die Hand der Mutter gedrückt hielt. Ihre Schultern bebten.
Christina strich der Mutter die verfilzten Haare aus dem Gesicht. »Ich werde mich um alles kümmern. Du kannst dich auf mich verlassen. Uns wird es bessergehen als jemals zuvor, das schwöre ich dir beim Andenken unseres Vaters.«
Eigentlich hätte es Eleonora zugestanden, dieses letzte Gespräch mit der Mutter zu führen. Mit ihren einundzwanzig Jahren war sie die älteste der drei Weber-Töchter, Christina ein Jahr jünger. Klara war gerade erst acht geworden.
Es stellte aber schon seit vielen Jahren unter den Weber-Frauen niemand in Frage, dass Christina bei allen wichtigen Entscheidungen das Sagen hatte. Wie lebenstüchtig, schlau und zäh sie war, hatte sie bei vielerlei Gelegenheiten in ihrem Weiberhaushalt bewiesen. Sie war diejenige, die immer einen Laib Brot, einen Korb Eier oder ein Huhn von irgendwoher auftrieb, wenn der Hunger gar zu sehr drückte. Die irgendein Mannsbild - einen Knecht vom Nachbarhof, einen Gesellen auf der Wanderschaft - ins Haus schob, wenn der alte Webstuhl im Kellergewölbe mal wieder hakte und sich festgezurrt hatte. Die eine Handvoll fröhlicher Mägde überredete, beim Spinnen zu helfen, und ihnen dafür als Lohn im Weber-Haus lustige Gesellschaft mit den Burschen aus der Nachbarschaft bot.
Christina füllte diese Führungsrolle in der Familie mit Selbstverständlichkeit aus. Eleonora war nicht der Typ Frau, der sie ihr streitig machte. Klara war von einem anderen Schlag, aber wiederum viel zu jung, als dass sie überhaupt jemand ernst nahm.
»Ruhe in Frieden, Mutter«, flüsterte Eleonora nun, da die Atemzüge der Mutter immer dünner wurden und sich ein Engelslächeln wie von einem Neugeborenen auf ihren Zügen ausbreitete.
»Ruhe in Frieden«, hauchte auch Christina in dem Moment, als Theresa ihren letzten Atemzug tat und die Luft kaum vernehmbar zwischen ihren Lippen ausströmte. Klara schluchzte auf und schlug die Hand vor den Mund, um den Laut wie von einem gequälten Tier zu unterdrücken.
Eleonoras und Klaras Augen waren immer noch rot verquollen, als die drei Schwestern wenig später in der Stube saßen und in kleinen Schlucken heiße Milch tranken. Gleich würde der Tischler klopfen. Wie stets würde er der erste Dorfbewohner sein, der Eintritt ins Trauerhaus erhielt, um die Maße für den Sarg zu nehmen. Sie wärmten ihre klammen Finger an den Bechern, aber die innere Kälte blieb.
»Wie geht es weiter mit der Weberei?«, fragte Klara schließlich. Sie streckte Sophia einladend die Arme entgegen, aber das Kind kuschelte sich nur noch enger auf dem Schoß der jungen Mutter zusammen. Eleonora schlang die Arme um ihr Töchterchen, als müsste sie es beschützen vor dem Tod, der durch das Haus geschlichen war und sich geholt hatte, wonach ihn verlangte.
»Gar nicht geht es weiter mit der Weberei«, gab Christina zurück. Der Tod der Mutter verursachte ein wehes Ziehen in ihrem Herzen. Andererseits kam er nicht unerwartet - sie hatten sich seit vielen Wochen, in denen die Mutter das Bett nicht mehr verlassen hatte und nicht einmal die dünne Suppe bei sich behalten konnte, darauf vorbereitet.
Klara erstarrte.
Eleonora blickte ihre Schwester an. »Was hast du vor?« Noch bevor sie antworten konnte, sprang Klara so abrupt auf, dass der Stuhl hinter ihr zu Boden polterte und gegen das hölzerne Spinnrad stieß. Mit dem Zeigefinger wies sie auf ihre Schwester, als wollte sie sie aufspießen. »Du hast es ihr versprochen! Du hast versprochen, dass du dich um die Weberei kümmerst. Kaum ist sie tot, da brichst du deinen Schwur schon wieder. Ich hasse dich, Christina, ich hasse dich so sehr!« Die Tränen zogen Spuren durch den Schmutz auf ihren Wangen.
Christina schüttelte den Kopf. »Denk nach, Klara. Ich habe Mutter nichts versprochen, was mit der Weberei zu tun hat. Das warst du.«
Klara fiel der Kiefer herab. Sie rückte das Spinnrad zurecht, hob den Stuhl wieder auf und ließ sich auf die geflochtene Sitzfläche plumpsen. »Wie ... wie meinst du das? Eleonora, du hast gehört, was Christina gesagt hat, oder? Kümmern wollte sie sich!« Flehend wandte sie sich an ihre Lieblingsschwester.
Eleonora vergrub die Nase in den dichten Haaren ihrer Tochter, deren Farbe von Holunderbeeren sie ihr vererbt hatte. Die dunkelhaarige junge Mutter mit den saphirblauen Augen, den markanten schmalen Brauen, den weichen Gesichtszügen und den vollen Lippen und das Mädchen in ihrem Arm, das ihr jüngeres Ebenbild war, boten einen Anblick, der jedem Maler entzückt hätte. Nur der trauernde Ausdruck störte den Moment der Schönheit. »Man muss vorsichtig sein mit Schwüren, Klara. Niemals darf man leichtfertig etwas versprechen, von dem man nicht weiß, ob man es halten kann. Wie sollte es uns ohne Mutter gelingen, dem Flachsanbau, der Spinnerei, dem Weberbetrieb neuen Aufschwung zu geben, wenn es uns schon mit ihr nicht gelungen ist? Ich weiß, wie sehr sie es sich wünschte, aber bei klarem Verstand hätte sie das niemals von uns verlangt. Es ist unmöglich. Wir haben in den vergangenen Jahren nichts unversucht gelassen, und trotzdem ... Am Ende wissen wir nicht einmal, wie wir den Tischler bezahlen sollen, der ihren Sarg zimmert.« Sie schluckte.
»Es ging ihr darum, dass wir versorgt sind«, widersprach Klara. »Was haben wir denn sonst außer dem Geschäft mit der Leinwand? Wovon sollen wir leben?« Eleonora gegenüber verlor ihre Stimme an Schärfe, auch wenn sie immer wieder bitterböse Blicke in Christinas Richtung warf. Diese lauschte dem Gespräch ihrer Schwestern, während sie den Becher auf dem Tisch in den Händen drehte.
Einzelne Locken ihrer Haarpracht, die sie unter einer Haube mit Klammern und Spangen zu bändigen versuchte, ringelten sich um ihr herzförmiges Gesicht. Die Wimpern warfen sichelförmige Schatten auf ihre Wangenknochen, als sie die Lider senkte.
War dies nun der rechte Zeitpunkt, um die Schwestern in ihre Pläne einzuweihen? Die Mutter war kaum eine Stunde tot ...
Ein Winkelzug des Schicksals, dass ausgerechnet Pastor Jäckel den Weg gewiesen hatte. Das hatte er sich doch stets gewünscht, oder? Seit er vor fünf Wochen nach dem Gottesdienst das Manifest der russischen Zarin Wort für Wort, kommentarlos und mit stoischer Miene der Gemeinde der Protestanten vorgetragen hatte, war Christina wie besessen von der Idee, alle Brücken abzubrechen und in der Fremde ein neues Leben zu beginnen. Alles, alles klang verlockend - die freie Schiffspassage, das Handgeld, das kostenlose Land, die zinslosen Kredite ... Welche Möglichkeiten sich da auftaten!
Christina fühlte Schwindel, wann immer sie von ihrem neuen Leben zu träumen begann, aber sie wusste auch, dass ihre Mutter niemals ihre Zustimmung gegeben hätte. Deswegen hatte sie ihren Plan bis zu diesem traurigen Tag gehütet wie einen kostbaren Schatz, obwohl sie schier platzte vor Abenteuerlust.
»Ich habe mich bereits nach neuen Möglichkeiten für uns umgehört«, unterbrach sie nun mit immer noch gesenktem Blick und unterdrückter Begeisterung den Wortwechsel zwischen Eleonora und Klara.
Schweigen senkte sich über die drei Schwestern. Mit vorgeneigtem Kopf starrten Klara und Eleonora sie an, während Sophia in den Armen ihrer Mutter am Daumen nuckelte.
Endlich hob Christina die Lider. Ihre Augen funkelten vor Übermut und Lebenshunger. Nur wer den Mut hat zu träumen, hat auch die Kraft zu kämpfen, dachte sie. »Wir ziehen nach Russland«, sagte sie.
Johann Röhrich schritt in der Wohnstube auf und ab wie ein Bär an der Kette. Das Stampfen seiner Schritte hallte von den Backsteinwänden wider, während er die Hände zu Fäusten geballt hielt. Wann immer er das Fenster zur Dorfstraße erreichte, lugte er hinaus auf den Weg, der zu seinem Hof führte, wo er Rinder und Kleinvieh hielt. Ansonsten betrieb er hier seine Flickschusterwerkstatt, die ihm und seiner Familie in den besseren Wochen das tägliche Brot sicherte. Zu seinen wertvollsten Besitztümern gehörten drei Milchkühe. Butter, Quark und drei Sorten Käse verkauften oder tauschten die Röhrichs in den umliegenden Dörfern. Auf dem unebenen Weg, der das Langdorf Waidbach schnurgerade durchschnitt und von dem der Pfad zum Hof abzweigte, rumpelte ein Treck mit vielleicht einem Dutzend Fuhrwerken vorbei. Die Alten und die kleinen Kinder hockten zwischen dem mit Seilen und Tüchern befestigten und gegen das Wetter geschützten Mobiliar, alle anderen liefen nebenher, viele in ihrem Sonntagsstaat. Männer trieben schnalzend die Gäule an und zogen mit ausholenden Schritten in Richtung Büdingen. Ihr munterer Wandergesang drang zu Johann.
Der Flickschuster presste die Lippen aufeinander. Bald, bald, dachte er. In den Wirtshäusern in Büdingen grassierte schon lange das Russlandfieber. Er beabsichtigte allerdings nicht wie viele andere Bauern, Handwerker und Tagelöhner, seinen Besitz unter Wert an einen der Juden zu verkaufen, die die russische Zarin ausdrücklich von der Einladung in ihr riesiges Reich ausgeschlossen hatte. Er wollte einen Höchstpreis erzielen, obwohl das bedeutete, dass er sich noch gedulden musste, bevor er mit seiner Familie aufbrechen konnte. Eile war kein guter Begleiter, wenn es ums Geschäftemachen ging.
Am letzten Sonntag hatten sie seine Schwester zu Grabe getragen, die Theresa Weber, deren Mann genau wie ihr Schwiegersohn im Siebenjährigen Krieg gefallen war und die drei Töchter hinterließ. Zwei von ihnen waren allerdings keine Kinder mehr, nein, weiß Gott keine Kinder.
Johann stieß ein heiseres Lachen aus, während er wieder durch die Scheibe nach draußen stierte. Er kratzte sich im Schritt. Wo blieb sie nur?
Einmal die Woche kam seine Nichte Christina auf den Hof, um die Milch für die Familie Weber zu holen. Und um die Rechnung zu begleichen, wobei es Johann weder um klingende Münzen noch um grobes Leinen ging. Er leckte sich über die Lippen und griff sich ein weiteres Mal zwischen die Beine, um sein anschwellendes Glied in eine bequemere Lage zu bringen.
Es war wie verhext. Er brauchte nur an Christina zu denken, an ihre jungen Brüste, die wie saftige Äpfel in seine Pranken passten, an das weiße Fleisch ihrer Hinterbacken, die sich ihm lustvoll entgegenreckten, und ihm platzte schier die Hose vor Geilheit. Es verwunderte ihn vor allem deshalb, weil sie sich schon seit mittlerweile zwei Jahren zu ihren heimlichen Stelldicheins trafen, seine Lust auf sie aber immer noch zu wachsen schien.
Johann Röhrich hatte so viele Frauen in seinem Leben gevögelt, dass er nicht auskäme, wenn er an jedem Finger zehn abzählte. Die Namen hatte er alle vergessen. In den meisten Fällen hatte ein einziges Mal gereicht, um seine Gier zu stillen.
Nur mit Christina lief es anders. Das Luder verstand es, allein durch ihren wiegenden Gang, durch diese ganz eigene Art, ihm glutvolle Blicke hinter halbgesenkten Lidern zuzuwerfen, durch ihr tiefes Lachen oder eine scheinbar zufällige Berührung sein Feuer immer wieder aufs Neue zu entfachen. Vielleicht aber, und diesen Gedanken spann Johann Röhrich lieber nicht weiter, lag es auch daran, dass sie ihm zu einer Zeit in die Hände gefallen war, in der er sich
dem Tod näher fühlte als dem Leben. Er war siebenundvierzig Jahre alt, und der Kriegsdienst sowie die Hungerwinter hatten ihre Spuren hinterlassen.
»Was ... stapfst du hin und her?«
Johann fuhr herum und starrte zu dem langen Esstisch, an dem soeben noch seine Frau Marliese, den Kopf auf den Unterarm gebettet, geschnarcht hatte. Nun richtete sie sich auf, wischte sich mit dem Ärmel über das feuchte Kinn und versuchte, ihren Oberkörper im Gleichgewicht zu halten, während sie ihren Mann lallend ansprach.
»Geh ins Bett!«, erwiderte er mühsam beherrscht. »Schlaf deinen Rausch aus, alte Vettel.« Er presste die Fäuste zusammen, dass die Haut sich spannte. Ihn juckte es in den Händen, der Alten mit ein paar Schlägen das Maul zu stopfen.
Wie sie ihn anekelte. Wie sie sich an dem Tisch breitmachte, auf dem er im Geiste bereits die gespreizten Schenkel unter den hochgeschobenen Röcken seiner Nichte gesehen hatte. Von Jähzorn gepackt, sprang er auf seine Frau zu, zerrte sie an den Schultern hoch. »Pack dich, du Schlampe! Ich will dich hier nicht mehr sehen.«
»Ich ... will hier sein. Gib mir noch Branntwein!« Johanns Kopf ruckte herum, bis sein Blick auf den halbvollen Becher fiel. Er nahm ihn und setzte ihn seiner Frau an die Lippen, schüttete und schüttete, obwohl sie zu husten begann und der scharfe Schnaps ihre Mundwinkel und ihren Hals hinablief. Sie japste und röchelte, doch er ließ sie erst los, als der letzte Tropfen vergossen war.
»So, hast du nun genug?« Er drehte sie herum, führte sie mit eisenhartem Griff in die angrenzende Kammer, gab ihr einen Stoß, so dass sie vor dem Bett zusammenbrach. Dann warf er die Tür zu.
Er atmete schwer, als er in die Wohnstube zurückkehrte. Wo blieb Christina nur, verdammt. Marliese jedenfalls würde ihn in der nächsten Stunde nicht stören, seinen Sohn Bernhard wusste er in der Werkstatt, die er nicht vor den Abendstunden schließen würde. Seine dreizehnjährige Tochter Helmine verdingte sich als Helferin bei den Waschfrauen am Dorfbrunnen.
An seinen Sohn Alfons verschwendete Johann keinen Gedanken - er war von Geburt an schwachsinnig und verbrachte den größten Teil seiner Zeit brabbelnd im Bett, wo er zusammengekrümmt wie ein Säugling lag und seine Finger betrachtete oder beleckte.
Was hätte Johann darum gegeben, wenn ihm seine verlotterte Frau und der Schwachkopf weggestorben wären, bevor er in sein neues Leben aufbrach. Wie Eitergeschwüre hingen ihm die beiden am Bein. Johann hegte die Hoffnung, dass die wochenlange Reise nach Russland über ihre Kräfte gehen würde, und malte sich in beglückenden Träumen aus, wie die erkalteten Körper seiner Frau und seines Sohnes über die Reling des Schiffes, das sie von Lübeck nach Kronstadt bringen würde, gehievt wurden und auf den Grund der Ostsee sanken.
Endlich ging die Tür auf. Beleuchtet vom trüben Licht der Februarsonne, stand sie vor ihm wie ein Engel, in der Hand die blecherne Milchkanne, im Gesicht dieses Lächeln, das mehr Einladung als Gruß war.
Er trat auf sie zu und riss sie in die Arme, um sie atemlos zu küssen. Seine Bartstoppeln kratzten über ihre Samthaut. Gleichzeitig nestelte er mit der Rechten an ihrem Mieder, gierig darauf, endlich das zarte Fleisch zu kneten. Scheppernd ging die Milchkanne zu Boden. Christina stemmte sich mit den Fäusten gegen die Brust des Onkels. Dann löste sie eine Hand, ließ sie tiefer gleiten und umfasste durch den Stoff der Beinlinge sein angeschwollenes Glied, während sie ihn triumphierend anschaute.
Johann stöhnte auf und legte den Kopf in den Nacken, als er ihre Finger spürte, die so feingliedrig waren und doch so fest zugreifen konnten. Der eben noch erlebte Jähzorn heizte seine Triebe an wie Öl das Feuer. Er war wie von Sinnen vor Begierde, und dieses Luder spielte mit ihm.
»Ich sehe, du hast auf mich gewartet.« Christina lachte auf.
»Komm rein, ich besorg's dir hier gleich auf dem Tisch«, keuchte er. »Dir wird das Lachen schon vergehen, du Miststück.«
»Wo ist Tante Marliese?«
»In der Schlafkammer. Die wird uns nicht stören, die Alte. Sturzbesoffen ist sie mal wieder.«
»Wenn sie aufwacht?«
»Wird sie nicht. Komm schon ...« Wieder wollte er sie küssen, mit den Lippen ihre frei liegenden Brüste umfangen, aber sie entwand sich ihm und knöpfte das Mieder zu.
»Das ist zu riskant. Ich möchte nicht von Tante Marliese überrascht werden.«
»Gehen wir in die Scheune.« Schon packte er sie am Ellbogen und zog sie hinter sich her.
Christina kicherte über seine Eile. Ihre Unbeschwertheit spornte ihn nur noch mehr an.
In der Scheune ließ er sich nicht länger aufhalten. Er drehte Christina in seinen Armen herum, drückte ihren Rücken nieder, so dass sie sich mit beiden Händen an einem der Holzbalken festhalten musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit einer Hand hob er ihre Röcke, mit der anderen öffnete er seine Gürtelschnalle und ließ die Hose auf die Waden fallen. Tief drang er in sie ein, stieß im rasenden Rhythmus wieder und wieder gegen ihr weiches Fleisch, bis er zu explodieren glaubte. Mit geübtem Griff glitt er aus ihr heraus und erleichterte sich stöhnend ins Heu. Fast übermenschliche Überwindung kostete ihn dieser Schritt jedes Mal, aber er nahm es in Kauf, weil ihm die Nichte als kecke Gespielin tausendmal lieber war denn als trächtige Stute.
Während Christina ihre Röcke wieder ordnete und ihr Mieder zuknöpfte, ließ sich Johann, tief ermattet, breitbeinig auf dem mit Stroh bedeckten Boden nieder. Sein schlaffes, feucht glänzendes Glied lag wie ein toter Wurm zwischen seinen behaarten Beinen. Er atmete mit geöffnetem Mund und hielt die Lider geschlossen. Als er die Augen aufschlug, stand Christina immer noch da, fertig angezogen, abwartend.
»Worauf ...? Ach so.« Er grinste und beugte sich vor, um in den an seinem Gürtel befestigten Lederbeutel fassen zu können. Von unten schnipste er ihr eine Münze zu, die sich mehrmals in der Luft drehte. Christina fing sie gekonnt auf und steckte sie in ihr Dekolleté. Sie knickste und neigte spöttisch lächelnd den Kopf. »Danke, Onkel.«
»Wo die Milch steht, weißt du«, fügte er noch hinzu. Sie nickte, warf ihm eine Kusshand zu und wandte sich zum Gehen.
»Ach, Christina?« Schon am Scheunentor, drehte sie sich noch einmal um. Fragend hob sie eine Braue.
»Habt ihr schon einen Termin vom Werber?« Christina schüttelte den Kopf. »Es ... es gibt da noch einiges zu erledigen ...«, erwiderte sie vage.
»Wir sollten es so einrichten, dass wir als Großfamilie gemeinsam losziehen.«
Aus Christinas Gesicht wich die Farbe. »Wie ... wie meinst
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Autoren-Porträt von Martina Sahler
Martina Sahler, 1963 in Leverkusen geboren, studierte Germanistik und Anglistik in Köln. Sie arbeitete lange Zeit als Lektorin für Belletristik, bevor sie sich mit großer Begeisterung der Schriftstellerei widmete. Seit 15 Jahren schreibt sie Romane für Erwachsene und Jugendliche. Mit ihrer Familie lebt sie im Bergischen Land bei Köln.
Bibliographische Angaben
- Autor: Martina Sahler
- 2012, 560 Seiten, Deutsch
- Verlag: Weltbild Deutschland
- ISBN-10: 3863655176
- ISBN-13: 9783863655174
- Erscheinungsdatum: 01.10.2012
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 1.22 MB
- Ohne Kopierschutz
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